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HRRS-Nummer: HRRS 2007 Nr. 591

Bearbeiter: Ulf Buermeyer

Zitiervorschlag: BGH, 3 StR 75/07, Urteil v. 19.04.2007, HRRS 2007 Nr. 591


BGH 3 StR 75/07 - Urteil vom 19. April 2007 (LG Hannover)

Unerlaubtes Handeltreiben mit Betäubungsmitteln; Strafzumessung (Berücksichtigung erlittener Untersuchungshaft); Inbegriff der Hauptverhandlung (Befangenheit); Zurückverweisung an ein anderes Landgericht.

§ 29 BtMG; § 46 Abs. 2 StGB; § 261 StPO; § 24 StPO; § 354 Abs. 2 StPO

Leitsätze des Bearbeiters

1. Erweckt eine Äußerung des Vorsitzenden den Eindruck, dass das Gericht nicht mehr bereit sei, über einen Tatvorwurf unvoreingenommen zu verhandeln und zu entscheiden, so eröffnet dies nicht die Verfahrensrüge der Verletzung des § 261 StPO unter dem Aspekt, dass das Gericht sich dem Ergebnis der Beweisaufnahme zu dem Anklagevorwurf verschlossen und sein Urteil deshalb nicht aus dem Inbegriff der Hauptverhandlung geschöpft habe. Allenfalls kann eine solche Äußerung Anlass eines Ablehnungsantrags (§ 24 StPO) sein.

2. Es besteht berechtigter Anlass, an der Unvoreingenommenheit des Richters zu zweifeln, wenn er zu Beginn der Hauptverhandlung äußert, er man sei sich einig, dass auf eine bestimmte Strafe erkannt werden solle.

Entscheidungstenor

1. Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des Landgerichts Hannover vom 20. September 2006 mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben

a) betreffend den Angeklagten Ibrahim H. im Ausspruch über die Gesamtstrafe,

b) betreffend den Angeklagten Ercan H. im Fall 21 der Urteilsgründe sowie im gesamten Strafausspruch.

Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine Strafkammer des Landgerichts Hildesheim zurückverwiesen.

2. Die weitergehende Revision wird verworfen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten Ibrahim H. wegen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in sechs Fällen sowie wegen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in 16 Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren und neun Monaten verurteilt. Von weiteren Tatvorwürfen hat es ihn freigesprochen. Der Angeklagte Ercan H. ist wegen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in drei Fällen sowie wegen Beihilfe zum Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge unter Einbeziehung von Einzelstrafen aus dem Urteil des Landgerichts Hannover vom 5. September 2005 zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren unter Strafaussetzung zur Bewährung verurteilt worden. Die Revision der Staatsanwaltschaft wendet sich mit Verfahrensrügen und sachlichrechtlichen Beanstandungen gegen den Teilfreispruch des Angeklagten Ibrahim H. (im Anklagepunkt 1) und gegen den Ausspruch über die Gesamtstrafe sowie den Verfall; betreffend den Angeklagten Ercan H. greift sie in einem Fall (Fall 21) den Schuldspruch und im Übrigen den Rechtsfolgenausspruch an. Das Rechtsmittel hat den aus der Entscheidungsformel ersichtlichen Erfolg.

Nach den Feststellungen des Landgerichts erwarb der Angeklagten Ibrahim H. von Januar bis April 2004 von dem D. in 16 Fällen jeweils 10 g Kokain mit einem Wirkstoffgehalt von mindestens 35% und verkaufte es weiter. In der Folgezeit kaufte er in vier Fällen von dem Zeugen S. jeweils 50 g Kokain sowie im Weiteren einmal 300 g Kokain und einmal 100 g Kokain mit einem Wirkstoffgehalt von mindestens 10% und veräußerte es. Der Angeklagte Ercan H., der Bruder des Angeklagten Ibrahim H., stellte seine Wohnung zur Verfügung, damit die zuletzt genannte Rauschgiftmenge bis zum Weiterverkauf dort gelagert werden konnte. Er erwarb zudem in drei Fällen jeweils 10 g Kokain zum Weiterverkauf.

I. Revision betreffend den Angeklagten Ibrahim H.

1. Die Rügen, mit denen sich die Beschwerdeführerin gegen den Freispruch des Angeklagten im Anklagepunkt 1 wendet, bleiben ohne Erfolg.

Dem Angeklagten ist insoweit zur Last gelegt worden, im August 2003 von einem "M." 500 g Kokain erworben und weiterverkauft zu haben. Das Landgericht hat im Wesentlichen nur festzustellen vermocht, dass der Angeklagte dem Zeugen S. gegenüber diese Tat geschildert hatte, als er sich bei dem Zeugen um Kokainlieferungen bemühte. Der Angeklagte hat von seinem Schweigerecht Gebrauch gemacht. Die Strafkammer hat sich allein aufgrund der Aussage des Zeugen S. nicht davon überzeugen können, dass der Angeklagte dieses Handelsgeschäft auch tatsächlich durchgeführt hatte.

a) Die Staatsanwaltschaft rügt, das Landgericht habe § 261 StPO dadurch verletzt, dass es sich durch eine Absprache über das Verfahrensergebnis den Weg zu einer unvoreingenommenen Würdigung des Ergebnisses der Beweisaufnahme verstellt habe. Sie trägt dazu vor, der Vorsitzende habe - anknüpfend an vorangegangene Erörterungen gleichen Inhalts - zu Beginn der Hauptverhandlung erklärt, es käme eine Freiheitsstrafe von zwei bis drei Jahren in Betracht, wenn man den Anklagepunkt 1 zunächst einmal außer Betracht lasse. Über diesen müsse noch Beweis erhoben werden. Im Anschluss an eine teilgeständige Einlassung des Angeklagten sei sodann der Zeuge S. vernommen worden.

Eine Verletzung von § 261 StPO in der Form, dass sich das Landgericht dem Ergebnis der Beweisaufnahme zu dem Anklagevorwurf verschlossen und sein Urteil deshalb nicht aus dem Inbegriff der Hauptverhandlung geschöpft oder dass es sich gar verbotenerweise (vgl. BGHSt 43, 195, 204; 50, 40, 50) mit dem Angeklagten über den Schuldspruch verständigt hätte, ist damit nicht dargetan.

Hätte die Äußerung des Vorsitzenden den Eindruck erweckt, dass die Strafkammer nicht mehr bereit gewesen wäre, über diesen Tatvorwurf unvoreingenommen zu verhandeln und zu entscheiden, hätte die Beschwerdeführerin dies zum Anlass eines Ablehnungsantrags machen können und, so dies aus ihrer Sicht erforderlich war, zur Sicherung einer unbefangenen Beweiswürdigung einen solchen Antrag auch stellen müssen (vgl. Senat, Urt. vom 16. Juni 2005 - 3 StR 338/04).

b) Soweit die Beschwerdeführerin den Freispruch sachlichrechtlich beanstandet, zeigt sie ebenfalls keinen Rechtsfehler auf, der den Eingriff des Revisionsgerichts in die tatrichterliche Beweiswürdigung ermöglichen würde (vgl. BGH NJW 2005, 2322). Das Landgericht hat darauf abgestellt, dass der Zeuge S. nur Zeuge vom Hörensagen war und der Angeklagte bei seiner selbstbelastenden Erzählung diesem gegenüber ein Motiv haben konnte, eine der Wahrheit nicht entsprechende Geschichte zu erzählen; zudem hatte auch der "Ha." dem Zeugen S. über Rauschgiftgeschäfte des Angeklagten nichts Konkretes berichtet. Was die Revision dagegen vorbringt, ist nur eine eigene Würdigung der Beweise, mit der sie im Revisionsverfahren nicht gehört werden kann, selbst wenn sie dabei gleichfalls mögliche, unter Umständen sogar näher liegende Schlussfolgerungen aufzeigt.

2. Die Gesamtstrafe hält rechtlicher Überprüfung indes nicht stand. Angesichts der Vielzahl der Taten, des Tatzeitraums und der Menge an Kokain, mit der der Angeklagte insgesamt Handel getrieben hat, ist die verhängte Strafe nicht geeignet, gerechter Schuldausgleich zu sein. Zudem sind mit der formelhaften Wendung, der Angeklagte sei von der Untersuchungshaft "ersichtlich beeindruckt", nicht ausreichend solche besonderen Umstände dargetan, bei deren Vorliegen nach der neueren Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs Untersuchungshaft allein noch als strafmildernder Umstand berücksichtigt werden kann (vgl. BGH NStZ 2006, 620 m. w. N.).

3. Das Absehen von einer Anordnung des Wertersatzverfalls hält im Ergebnis rechtlicher Überprüfung Stand. Dem Urteil kann noch ausreichend entnommen werden, dass der Angeklagte nicht nur die Erlöse aus dem Betäubungsmittelhandel zur Finanzierung eigenen Rauschgiftkonsums verbraucht hat, sondern auch nicht über Vermögenswerte verfügt.

II. Revision betreffend den Angeklagten Ercan H.

1. Die Rüge, das Landgericht habe die Vorschriften über die Öffentlichkeit (§ 169 Satz 1 GVG, § 338 Nr. 6 StPO) dadurch verletzt, dass es eine Verständigung zwischen dem Gericht und dem Angeklagten in der Hauptverhandlung nicht offen gelegt und protokolliert habe, hat keinen Erfolg (vgl. BGHSt 49, 255).

2. Der Schuldspruch im Fall 21 der Urteilsgründe hält rechtlicher Überprüfung indes nicht Stand. Nach den Feststellungen räumte der Angeklagte seinem Bruder die Gelegenheit ein, in seiner Wohnung 100 g Kokain zwischenzulagern und es nach und nach zu verkaufen. Das Landgericht hat den Angeklagten deshalb nur wegen Beihilfe zum Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge verurteilt. Es hat dabei die Prüfung unterlassen, ob der Angeklagte sich daneben nicht auch wegen Besitzes von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge strafbar gemacht hat (vgl. BGH NStZ 2006, 454). Dass der Angeklagte über die in seiner Wohnung gelagerte Menge Rauschgift tatsächliche Verfügungsgewalt ausgeübt hat, liegt angesichts der übrigen Feststellungen zum vertrauten Umgang des Angeklagten mit Betäubungsmitteln, darunter auch dem Lagern von Rauschgift und Bezahlgeld für andere, nicht fern.

3. Der Strafausspruch ist insgesamt aufzuheben.

a) Die Beschwerdeführerin beanstandet, das Landgericht habe § 261 StPO dadurch verletzt, dass es die Strafe gegen den Angeklagten nicht aus dem Inbegriff der Hauptverhandlung geschöpft, sondern aufgrund einer außerhalb der Hauptverhandlung getroffenen Vereinbarung verhängt habe, und trägt dazu Folgendes vor: Der Angeklagte war bereits durch das Urteil vom 5. September 2005 wegen zweier Taten des Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge zu einer Gesamtstrafe von zwei Jahren unter Strafaussetzung zur Bewährung verurteilt worden. Mit den dabei festgesetzten Einzelstrafen von einem Jahr und drei Monaten sowie einem Jahr und neun Monaten wäre im Fall der neuerlichen Verurteilung eine Gesamtstrafe zu bilden gewesen. Der Vorsitzende der Strafkammer hat vor Beginn der Hauptverhandlung zuerst die Sitzungsvertreterin der Staatsanwaltschaft und sodann den zuständigen Abteilungsleiter telefonisch zu einer Zustimmung zur Verfahrenseinstellung nach § 154 Abs. 2 StPO zu bewegen versucht. Nachdem dies fehlgeschlagen war, hat der Vorsitzende der Verteidigerin angekündigt, man werde "den zweiten angedachten Weg beschreiten, nämlich den Angeklagten erneut zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren verurteilen und die Strafe erneut zur Bewährung aussetzen". Die Verteidigerin stellte daraufhin eine Einlassung ihres Mandanten durch Verteidigererklärung in Aussicht. In der Hauptverhandlung hat der Vorsitzende sodann mitgeteilt, sie seien sich "einig, dass hier erneut auf eine Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren auf Bewährung erkannt werden soll".

Der Senat muss dieses Geschehen, zu dessen Beleg die Beschwerdeführerin dienstliche Erklärungen der Sitzungsvertreterin und des Abteilungsleiters vorgelegt hat, im Rahmen der Verfahrensrüge nicht näher aufklären, da der Strafausspruch gegen den Angeklagten schon aufgrund der Sachrüge aufzuheben ist. Er sieht aber Veranlassung zu dem Hinweis, dass ein solches Verhalten des Vorsitzenden der Staatsanwaltschaft berechtigten Anlass gegeben hätte, an der Unvoreingenommenheit des Richters zu zweifeln.

b) Die tatrichterliche Strafzumessung ist in mehrfacher Hinsicht rechtsfehlerhaft.

In den Fällen 23 bis 25 der Urteilsgründe hat es das Landgericht unterlassen zu prüfen, ob der Angeklagte gewerbsmäßig gehandelt und damit das Regelbeispiel für einen besonders schweren Fall des Betäubungsmittelhandels nach § 29 Abs. 3 Nr. 1 BtMG erfüllt hat. Angesichts der hier zur Aburteilung stehenden und der bereits rechtskräftig festgestellten Taten des Angeklagten, der die Erlöse aus seinen Betäubungsmittelgeschäften sämtlich für seinen Lebensunterhalt ausgegeben hat, musste sich dem Landgericht diese Prüfung aufdrängen.

Die Gesamtstrafe muss schon wegen des Wegfalls der Einzelstrafen aufgehoben werden. Bei ihrer Bildung hat das Landgericht zudem einen für die Gesamtwürdigung des Angeklagten und seiner Taten entscheidenden und damit für die Strafzumessung tragenden Umstand außer Acht gelassen: Dem Urteil des Landgerichts Hannover vom September 2005 hat erkennbar die Einschätzung zugrunde gelegen, bei dem Angeklagten habe es sich um einen Mitläufer gehandelt, der sich aus Angst um seinen Arbeitsplatz in zwei Fällen an Betäubungsmittelgeschäften seines Arbeitgebers, des Zeugen S., beteiligt hatte. Nur dies kann die sehr maßvolle Erhöhung der Einsatzstrafe von einem Jahr und neun Monaten (bei einer weiteren Einzelstrafe von einem Jahr und drei Monaten) auf die Gesamtstrafe von zwei Jahren erklären. Im Gegensatz dazu weisen die Feststellungen zu den neuen Taten aus, dass der Angeklagte auch jenseits vermeintlicher beruflicher Zwänge Umgang mit Rauschgift hatte und selbst Betäubungsmittel verkauft hat. In der Zusammenschau aller Feststellungen ergibt sich das Bild eines in vielfältiger Weise in den Betäubungsmittelhandel verstrickten Täters.

4. Die Entscheidung über den Wertersatzverfall ist aus den vorstehend beim Angeklagten Ibrahim H. genannten Gründen jedenfalls im Ergebnis nicht zu beanstanden.

III.

Der Senat hat von der Möglichkeit Gebrauch gemacht, das Verfahren an ein anderes Landgericht zurückzuverweisen.

HRRS-Nummer: HRRS 2007 Nr. 591

Bearbeiter: Ulf Buermeyer