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Bearbeiter: Rocco Beck

Zitiervorschlag: BGH, 2 StR 391/96, Urteil v. 06.11.1996, HRRS-Datenbank, Rn. X


BGH 2 StR 391/96 - Urteil vom 6. November 1996 (LG Kassel)

BGHSt 42, 294; Ausschluss der Öffentlichkeit im Jugendstrafverfahren umfasst auch die Verkündung des Urteils.

§ 109 Abs. 1 S. 4 JGG

Leitsatz

Die Ausschließung der Öffentlichkeit nach § 109 Abs. 1 S. 4 JGG umfaßt, soweit das Gericht nichts anderes bestimmt, auch die Verkündung des Urteils. (BGHSt)

Entscheidungstenor

1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Kassel vom 1. Dezember 1995 mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben,

a) soweit der Angeklagte im Falle II 3 der Urteilsgründe verurteilt worden ist,

b) im Ausspruch über die Jugendstrafe.

2. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Jugendkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

3. Die weitergehende Revision wird verworfen.

Gründe

I.

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen "verbotenen Führens einer Waffe" (hier: einer halbautomatischen Selbstladekurzwaffe) in zwei Fällen (II 1 und 3), davon in einem Fall in Tateinheit mit Bedrohung (II 3), ferner wegen Diebstahls (II 2 a) und einer weiteren Bedrohung (II 2 b) zu einer Jugendstrafe von fünf Jahren verurteilt. Dagegen richtet sich seine Revision, mit der er das Verfahren beanstandet und die Verletzung sachlichen Rechts rügt.

Das Rechtsmittel hat insoweit Erfolg, als es dem Schuldspruch im Fall II 3 (Waffendelikt in Tateinheit mit Bedrohung) und dem Strafausspruch gilt; im übrigen ist es unbegründet (§ 349 Abs. 2 StPO).

II.

1. Verfahrensbeschwerde

Der Beschwerdeführer, als Heranwachsender im Jugendstrafverfahren verurteilt, rügt Verletzung der Vorschriften über die Öffentlichkeit der Verhandlung (§ 338 Nr. 6 StPO). Die Jugendkammer hatte am ersten Verhandlungstag den Beschluß gefaßt, die Öffentlichkeit "im Interesse des Angeklagten gem. § 109 JGG" auszuschließen. Dies geschah. Auch die Urteilsverkündung fand unter Ausschluß der Öffentlichkeit statt. Darin erblickt der Beschwerdeführer einen Verstoß gegen § 173 Abs. 1 GVG, wonach das Urteil in jedem Fall öffentlich zu verkünden ist.

Die Rüge dringt nicht durch. Die nichtöffentliche Verkündung des Urteils entsprach dem Verfahrensrecht. § 173 Abs. 1 GVG war hier unanwendbar, weil § 109 Abs. 1 Satz 4 JGG für das Jugendstrafverfahren etwas anderes bestimmt (§ 2 JGG): Nach dieser Bestimmung, von der das Gericht rechtsfehlerfrei Gebrauch gemacht hat, kann die Öffentlichkeit ausgeschlossen werden, wenn dies im Interesse des Heranwachsenden geboten ist.

Die Ausschließung der Öffentlichkeit nach dieser Vorschrift gilt für die gesamte Verhandlung und umfaßt daher, soweit das Gericht nichts anderes bestimmt, auch die Verkündung des Urteils.

Dies ergibt sich bereits aus Wortlaut und Regelungszusammenhang des Gesetzes. Der Ausschluß der Öffentlichkeit bezieht sich regelmäßig auf die Verhandlung. Zur Verhandlung gehört nach dem gesetzlichen Sprachgebrauch aber auch die Urteilsverkündung (§ 260 Abs. 1 StPO; BGHSt 4, 279f.; KK-Hürxthal, StPO 3. Aufl. § 260 Rdn. 1). Soweit in § 48 Abs. 1 JGG dem Wort "Verhandlung" der Zusatz "einschließlich der Verkündung der Entscheidungen" angefügt ist, wird damit nur die ohnehin bestehende Rechtslage klargestellt (Begründung zum Regierungsentwurf des JGG 1952, BT-Drucks I/3264 S. 46 zu § 32). Wo für die Urteilsverkündung etwas anderes gelten soll als für die Verhandlung im übrigen, regelt das Gesetz dies ausdrücklich. Eine solche Regelung, wie sie in § 173 Abs. 1 GVG für das allgemeine Strafverfahren getroffen ist, enthält das Jugendgerichtsgesetz nicht. Bereits das spricht dafür, daß ein auf § 109 Abs. 1 Satz 4 JGG gestützter Ausschluß der Öffentlichkeit sich auch auf die Urteilsverkündung erstreckt. Bestätigt wird dies auch durch Wortlaut und Aufbau des schon erwähnten § 48 JGG: Absatz 1 bestimmt, daß "die Verhandlung vor dem erkennenden Gericht einschließlich der Verkündung der Entscheidungen" nicht öffentlich ist; nach Absatz 3 Satz 1 ist "die Verhandlung" hingegen öffentlich, sofern im selben Verfahren (neben Jugendlichen) auch Heranwachsende oder Erwachsene angeklagt sind; nach Absatz 3 Satz 2 kann in diesem Fall "die Öffentlichkeit" ausgeschlossen werden, wenn das im Interesse der Erziehung jugendlicher Angeklagter geboten ist. Dem Gesamtzusammenhang dieser Regelung ist zu entnehmen, daß sich der Ausschluß dabei auf die Verhandlung in ihrem durch Absatz 1 beschriebenen Umfang bezieht und damit auch die Urteilsverkündung umfaßt. Für die auf § 109 Abs. 1 Satz 4 JGG gestützte Ausschlußentscheidung kann aber nichts anderes gelten. Daß die Ausschlußvoraussetzungen in den beiden Vorschriften unterschiedlich formuliert worden sind ("im Interesse der Erziehung jugendlicher Angeklagter" - "im Interesse des Heranwachsenden"), ist für die Reichweite des Ausschlusses ohne Belang.

Entscheidend für das Ergebnis sprechen schließlich Sinn und Zweck der Bestimmungen, die für das Verfahren gegen Jugendliche und Heranwachsende Ausnahmen vom Prinzip der Öffentlichkeit vorsehen. Grundgedanke dieser Bestimmungen ist es vor allem, dem jungen Angeklagten die bei öffentlicher Verhandlung und Verurteilung drohende Bloßstellung mit den daraus erwachsenden Nachteilen für seine persönliche, soziale und berufliche Entwicklung zu ersparen (Brunner/Dölling, JGG 10. Aufl. § 48 Rdn. 3). Diesem Zweck liefe auch die öffentliche Verkündung des Urteils zuwider. Das Gesetz entzieht sie deshalb im Verfahren gegen Jugendliche ausdrücklich der Öffentlichkeit (§ 48 Abs. 1 JGG). Da die Vorschriften über den gerichtlichen Ausschluß der Öffentlichkeit (§§ 48 Abs. 3 Satz 2, 109 Abs. 1 Satz 4 JGG) aber den nämlichen Schutzzweck verfolgen, muß eine hierauf gestützte Ausschlußentscheidung jeweils dieselbe Wirkung entfalten können (Brunner/Dölling, aaO Rdn. 23); sie umfaßt daher, sofern nichts anderes bestimmt worden ist, auch die Urteilsverkündung (so für § 48 Abs. 3 Satz 2: OLG Düsseldorf NJW 1961, 1547; Bender, JGG § 48 Rdn. 16; Dallinger/Lackner, JGG 2. Aufl. § 48 Rdn. 29; Diemer/Schoreit/Sonnen, JGG 2. Aufl. § 48 Rdn. 25; Grethlein/Brunner, JGG 3. Aufl. § 48 Anm. 3 b; Ostendorf, JGG 2. Aufl. § 48 Rdn. 6; zweifelnd: Eisenberg, JGG 6. Aufl. § 48 Rdn. 22; für § 109 Abs. 1 Satz 4, früher Satz 2: OLG Oldenburg NJW 1959, 1506; Bender aaO Rdn. 26; Brunner/Dölling aaO; Dallinger/Lackner aaO § 109 Rdn. 4; a. A. Potrykus, JGG 4. Aufl. § 109 Bem. 2; Heinen UJ 1957, 210; 1960, 51).

2. Sachbeschwerde

Der Schuldspruch, der sonst keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten aufweist, muß aufgehoben werden, soweit der Angeklagte wegen Führens einer halbautomatischen Selbstladekurzwaffe in Tateinheit mit Bedrohung (Fall II 3) verurteilt worden ist. Das Landgericht hat hierzu folgenden Sachverhalt festgestellt:

Am 21. Juni 1995 betrat der Angeklagte, der am Vorabend zwischen 18 und 23 Uhr 15 Wodka-Lemon und 2 Glas Bier getrunken hatte, nach Mitternacht mit zwei Unbekannten eine Kasseler Gaststättenpassage. Dort war er schon einmal aufgefallen, als er, wegen Belästigung von Frauen hinausgewiesen, eine Handgranate (Attrappe) gezogen und gedroht hatte, das Lokal in die Luft zu sprengen. Dieses Mal zertrümmerte er zunächst einen Glasaschenbecher. Einer der drei Männer versetzte der Thekenbedienung einen Schlag gegen den Kopf. Der Angeklagte begann, mit einer Pistole zu schießen. Zwei Schüsse drangen in die Ziegeldecke, ein weitere Schuß traf einen Balken. Alarmiert fuhren die Kellner O. und H. von ihren Sitzen hinter der Theke hoch. O. schrie "Das ist echt - Alles in Deckung!" und warf sich hinter die Theke. Der Angeklagte richtete seine Waffe auf H., der sich ebenfalls hinter die Theke warf und dabei noch bemerkte, wie eine Kugel in der Nähe seines Kopfes in die Wand einschlug, woraufhin ihm - von der etwa 1,4 m hohen Einschußstelle - Putz auf den Kopf fiel. Hiernach verließen die drei Männer das Lokal.

Das Landgericht wertet dieses Verhalten des Angeklagten nicht nur als Waffendelikt, sondern auch als Bedrohung mit einem Tötungsverbrechen (§ 241 StGB), weil er "mit seiner Waffe auf den Kellner H... gezielt und anschließend auch in seine Richtung geschossen" habe. Das hält rechtlicher Prüfung nicht stand. Nach dem festgestellten Sachverhalt bleibt die Möglichkeit offen, daß der Angeklagte den Kellner H. mit dem auf ihn abgegebenen Schuß töten wollte. Einerseits kann dies - weil nicht festgestellt - keine Grundlage für eine Verurteilung wegen versuchten Mordes oder Totschlags sein. Andererseits gebietet es der Zweifelssatz aber auch, von dieser Möglichkeit auszugehen, wenn danach der Bedrohungstatbestand ausscheiden würde. Das ist der Fall. Wollte der Angeklagte den Kellner H. töten, dann lag darin, daß er die Waffe auf ihn richtete, um ihn sogleich zu erschießen, bereits der Anfang der Ausführung eines Tötungsverbrechens (Versuch, § 22 StGB), dagegen nicht, wie es der Tatbestand der Bedrohung (§ 241 StGB) voraussetzt, die Androhung, ein solches Verbrechen erst künftig zu begehen (BGH NStZ 1984, 454).

Der Senat hat erwogen, ob der Angeklagte sich durch Abgabe der vorangegangenen Schüsse der Bedrohung schuldig gemacht hat, kann jedoch dies auf der Grundlage der getroffenen Feststellungen nicht bejahen; der Sachverhalt ergibt nicht, daß der Angeklagte mit den ersten Schüssen, dem äußeren Anschein nach einem "wilden Herumfeuern", bestimmte Personen mit der Begehung bestimmter Verbrechen bedroht hat.

Läßt sich hiernach der Schuldspruch wegen Bedrohung (§ 241 StGB) nicht aufrechterhalten, so wird bei der neuen Verhandlung und Entscheidung indes zu beachten sein, daß der Angeklagte wegen Nötigung (§ 240 StGB) zu verurteilen ist, soweit er durch Abgabe der Schüsse bewirkt hat, daß anwesende Personen (Gaststättenbedienstete, Gäste) in Furcht und Schrecken aus dem Lokal flohen oder ihre Plätze verließen, um irgendwo Schutz zu suchen und sich in Sicherheit zu bringen; gegebenenfalls würde es hierzu genügen, daß er solche Wirkungen bewußt in Kauf genommen hat (bedingter Vorsatz).

Der Schuldspruch wegen des Waffendelikts kann schon wegen des tateinheitlichen Zusammentreffens mit der zu Unrecht bejahten Bedrohung keinen Bestand haben. Darüber hinaus liegt insoweit ein weiterer Rechtsfehler vor, der bereits für sich allein zur Aufhebung führt. Das Landgericht hat dem Angeklagten erheblich verminderte Schuldfähigkeit (§ 21 StGB) zugute gehalten, die Voraussetzungen völliger Schuldunfähigkeit (§ 20 StGB) indessen verneint: Es sei auszuschließen, daß er wegen Volltrunkenheit "völlig sinnlos gehandelt" habe; denn es liege ein "in sich folgerichtiges und gezieltes Handeln mit rechtzeitiger Flucht" vor, an das er sich jedenfalls in groben Zügen erinnern könne. Diese Begründung trägt nicht. Zum einen ist unklar, woran die Kammer die Bewertung des vom Angeklagten gezeigten Verhaltens als "nicht völlig sinnlos, folgerichtig" und "gezielt" anknüpft, nachdem - wie sie selber hervorhebt - die Motive für sein Auftreten in der Gaststättenpassage nicht festgestellt werden konnten. Zum anderen ist die Beweiswürdigung insoweit lückenhaft, als es die Kammer unterlassen hat, die maximale Blutalkoholkonzentration des Angeklagten zur Tatzeit zu berechnen. Dies wäre anhand seiner (unwiderlegten) Angaben über Trinkmenge und Trinkzeit - insbesondere nach Ermittlung der Größe der Gläser, des Alkoholanteils im Wodka und des Wodkaanteils im Mixgetränk - möglich gewesen, wobei sich nach überschlägiger Schätzung Werte von deutlich über 3 o/oo ergeben hätten. Ab solchen Werten liegt aber nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs in der Regel Schuldunfähigkeit nahe (BGHR StGB § 20 Blutalkoholkonzentration 2, 6, 7, 8 und 139; die indizielle Bedeutung derartiger Werte ist desto größer, je weniger sich aussagekräftige Beweisanzeichen aus dem Tatgeschehen, der Persönlichkeitsverfassung des Täters und seinem gesamten Verhalten vor, während und nach der Tat gewinnen lassen. Die neu entscheidende Jugendkammer wird daher die unterbliebene Berechnung, erforderlichenfalls mit sachverständiger Hilfe, nachzuholen haben. Gelangt sie auf Grund einer Gesamtwürdigung aller insoweit erheblichen Umstände zur Annahme von (festgestellter oder nicht ausschließbarer) Schuldunfähigkeit, so wird weiter zu prüfen sein, ob sich der Angeklagte des Vollrauschs (§ 323a StGB) schuldig gemacht hat.

Die Teilaufhebung des Schuldspruchs bedingt die Aufhebung des Strafausspruchs.

Externe Fundstellen: BGHSt 42, 294; NJW 1997, 471; NStZ 1997, 95; NStZ 1998, 53; StV 1998, 323

Bearbeiter: Rocco Beck