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HRRS-Nummer: HRRS 2025 Nr. 52

Bearbeiter: Fabian Afshar/Karsten Gaede

Zitiervorschlag: BGH, StB 63/24, Beschluss v. 13.11.2024, HRRS 2025 Nr. 52


BGH StB 63/24 - Beschluss vom 13. November 2024 (OLG München)

Sofortige Beschwerde gegen Aufhebung der Pflichtverteidigerbestellung (Gewährleistung einer angemessenen Verteidigung); Verteidigerwechsel (Verhinderung eines Verteidigers aus gesundheitlichen Gründen; Anhörung des Angeklagten); dritter Pflichtverteidiger.

§ 143a StPO; § 144 StPO; § 304 Abs. 4 Satz 2 Hs. 2 Nr. 1 StPO; Art. 103 Abs. 1 GG

Entscheidungstenor

Die sofortige Beschwerde des Angeklagten gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts München vom 27. September 2024 wird verworfen.

Der Beschwerdeführer hat die Kosten seines Rechtsmittels zu tragen.

Gründe

I.

Vor dem Oberlandesgericht ist gegen den Angeklagten und weitere Mitangeklagte ein Strafverfahren wegen des Vorwurfs der mitgliedschaftlichen Beteiligung an einer terroristischen Vereinigung und der Begehung weiterer Delikte anhängig. Die Vorsitzende des mit der Sache befassten Staatsschutzsenats hat dem Angeklagten im Zwischenverfahren die Rechtsanwälte D. und H. als Pflichtverteidiger beigeordnet. Zudem hat der Angeklagte Rechtsanwalt M. als Wahlverteidiger mandatiert.

Mit Schreiben vom 10. August 2024 hat Rechtsanwältin D. beantragt, Rechtsanwalt M. als dritten Pflichtverteidiger zu bestellen. Zur Begründung hat sie im Wesentlichen ausgeführt, aufgrund ihrer in einem ärztlichen Attest dargestellten gesundheitlichen Beschwerden infolge eines wiederholt eingeklemmten Ischiasnervs bestehe die konkrete Gefahr, dass sie längerfristig verhindert sei, an der Hauptverhandlung teilzunehmen. Auch sei es ihr nicht möglich, ununterbrochen mehrere Stunden am Schreibtisch tätig zu sein, sich in weitere Aktenbestandteile einzuarbeiten und sich auf bevorstehende Beweiserhebungen vorzubereiten. Sie könne nur tagesaktuell darüber entscheiden, ob sie in der Lage sei, den Angeklagten in der Justizvollzugsanstalt aufzusuchen. Die Wahlverteidigung durch Rechtsanwalt M. sei nicht gesichert. Daher sei die Bestellung eines weiteren Pflichtverteidigers zur Sicherung der zügigen Durchführung der Hauptverhandlung geboten.

Der Generalbundesanwalt ist dem Antrag mit Zuschrift vom 26. August 2024 entgegengetreten. Ferner hat er ausgeführt, die Begründung des Antrags gebe Anlass, die Voraussetzungen eines Pflichtverteidigerwechsels nach § 143a Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 Alternative 2 StPO zu prüfen.

Die Vorsitzende des mit der Sache befassten Staatsschutzsenats hat die Antragsschrift des Generalbundesanwalts an den Angeklagten, beide Pflichtverteidiger und den Wahlverteidiger mit der Gelegenheit zur Stellungnahme übersandt. Mit Schriftsatz vom 17. September 2024 hat Rechtsanwalt M. für den Angeklagten unter anderem vorgebracht, die Voraussetzungen für einen Pflichtverteidigerwechsel lägen nicht vor; daher scheide eine Aufhebung der Bestellung von Rechtsanwältin D. aus.

Die Senatsvorsitzende hat durch Beschluss vom 27. September 2024 den Antrag des Angeklagten auf Beiordnung eines dritten Pflichtverteidigers zurückgewiesen, die Bestellung von Rechtsanwältin D. als Pflichtverteidigerin aufgehoben und Rechtsanwalt M. als neuen Pflichtverteidiger beigeordnet. Zur Begründung der Entpflichtung hat sie unter näherer Darlegung im Einzelnen ausgeführt, eine angemessene Verteidigung des Angeklagten durch Rechtsanwältin D. sei aufgrund ihres Gesundheitszustandes nicht mehr gewährleistet.

Gegen die Aufhebung der Bestellung hat der Angeklagte mit Schriftsatz seines Verteidigers M. vom 1. Oktober 2024 sofortige Beschwerde eingelegt. Darüber hinaus hat der Angeklagte mit Vollmacht vom selben Tag Rechtsanwältin D. als Wahlverteidigerin beauftragt.

II.

Die gemäß § 143a Abs. 4, § 304 Abs. 4 Satz 2 Halbsatz 2 Nr. 1, § 306 Abs. 1, § 311 Abs. 1 und 2 StPO statthafte, fristgerechte und auch im Übrigen zulässige sofortige Beschwerde hat in der Sache keinen Erfolg. Die nach § 142 Abs. 3 Nr. 3 StPO zur Entscheidung berufene Vorsitzende des mit der Sache befassten Staatsschutzsenats des Oberlandesgerichts hat Rechtsanwältin D. gemäß § 143a Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 Alternative 2 StPO zu Recht entpflichtet.

1. Nach § 143a Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 Alternative 2 StPO ist die Bestellung des Pflichtverteidigers unter anderem dann aufzuheben und ein neuer Pflichtverteidiger zu bestellen, wenn aus einem sonstigen Grund keine angemessene Verteidigung des Beschuldigten gewährleistet ist. Der Gesetzgeber hat damit einen in der obergerichtlichen Rechtsprechung anerkannten Fall des Verteidigerwechsels normiert, der auf dem Gedanken der Sicherung einer sachgerechten Verteidigung beruht und bei dem es auf den Willen des Beschuldigten nicht ankommt (BGH, Beschluss vom 25. August 2022 - StB 35/22, BGHR StPO § 143a Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 Aufhebung 3 Rn. 4 mwN). Danach kommt nicht nur bei groben Pflichtverletzungen die Auswechslung eines beigeordneten Pflichtverteidigers in Betracht, sondern auch, wenn dieser aufgrund äußerlich veranlasster, von seinem Willen unabhängiger Umstände außerstande ist, eine angemessene Verteidigung des Angeklagten zu gewährleisten. Denn der Zweck der Pflichtverteidigung besteht sowohl darin, dem Angeklagten rechtskundigen Beistand zu gewährleisten, als auch darin, den ordnungsgemäßen Verfahrensablauf zu sichern (vgl. BVerfG, Beschluss vom 8. April 1975 - 2 BvR 207/75, BVerfGE 39, 238, 242; BGH, Beschluss vom 25. August 2022 - StB 35/22, BGHR StPO § 143a Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 Aufhebung 3 Rn. 4).

2. Hieran gemessen ist die Entscheidung der Vorsitzenden des Staatsschutzsenats, Rechtsanwältin D. zu entpflichten, nicht zu beanstanden. Aus den zutreffenden und auch unter Berücksichtigung des Beschwerdevorbringens fortgeltenden Gründen der angefochtenen Entscheidung, auf die Bezug genommen wird, ist aus sonstigen Gründen keine angemessene Verteidigung des Angeklagten gewährleistet (§ 143a Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 Alternative 2 StPO). Denn die gesundheitlichen Beschwerden von Rechtsanwältin D. - wie von dieser in ihrer Antragsschrift vom 10. August 2024 selbst vorgetragen - begründen eine konkrete Gefahr tage- und wochenlanger Ausfälle. Dieses Risiko hat sich bereits an mehreren Hauptverhandlungstagen verwirklicht. Weiterhin besteht die Gefahr der ebenfalls im ärztlichen Attest dargelegten eingeschränkten Reisefähigkeit. Dies stellt aufgrund der weiten Anreise vom Kanzleisitz in Ha. zur Hauptverhandlung in München eine zusätzliche Unwägbarkeit dar. Unter den konkreten Umständen des hiesigen komplexen Staatsschutzverfahrens ist daher die angemessene Verteidigung des Angeklagten durch Rechtsanwältin D. nicht mehr gewährleistet. Es ist somit unerheblich, ob der zur Entscheidung berufenen Vorsitzenden in der vorliegenden Konstellation ein nicht voll überprüfbarer Beurteilungs- und Ermessensspielraum zusteht (vgl. BGH, Beschluss vom 24. März 2022 - StB 5/22, NStZ 2022, 696 Rn. 18 für den Fall der Bestellung eines Sicherungsverteidigers nach § 144 Abs. 1 StPO).

3. Der Vorsitzenden hat kein gegenüber der Entpflichtung der Verteidigerin D. milderes Mittel zur Verfügung gestanden. Ein solches hat insbesondere nicht darin gelegen, einen dritten Pflichtverteidiger beizuordnen. Denn die Beiordnung dient nicht der Entlastung eines weitgehend verhinderten Pflichtverteidigers, zumal - von eng begrenzten Ausnahmen abgesehen - grundsätzlich jeder Pflichtverteidiger in der Hauptverhandlung anwesend zu sein hat (BGH, Beschlüsse vom 24. Oktober 2022 - StB 44/22, NStZ-RR 2022, 380, 381; vom 25. August 2022 - StB 35/22, BGHR StPO § 143a Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 Aufhebung 3 Rn. 9 mwN).

§ 144 Abs. 1 StPO hat vielmehr eigenständige, in den Umständen des Falles selbst liegende sachliche Voraussetzungen, welche die Vorsitzende umfassend geprüft und verneint hat. Die Gründe hierfür hat sie im angefochtenen Beschluss dargelegt. Sie hat weder im Umfang noch in der Schwierigkeit des Verfahrens einen Anlass gesehen, der die Bestellung eines dritten Verteidigers im Zeitpunkt ihrer Entscheidung erforderlich gemacht hat. Ferner hat sie darauf abgestellt, dass die Beiordnung eines zusätzlichen Pflichtverteidigers nicht dazu dient, im Fall einer zu erwartenden Erkrankung der Pflichtverteidigerin D. deren Vertretung zu ermöglichen. Auch insoweit hat sie die zutreffenden Maßstäbe angelegt und eine beanstandungsfreie Entscheidung getroffen.

Soweit Rechtsanwältin D. unter Vorlage eines neuen ärztlichen Attests nunmehr vorträgt, es sei „naheliegend, dass das auslösende Ereignis ein Muskelfaserriss des Musculus Quadratius lumborum war“, rechtfertigt dies aus den zutreffenden Gründen der Antragsschrift des Generalbundesanwalts, auf die Bezug genommen wird, keine andere Bewertung. Denn die bestehende konkrete Gefahr von Ausfallzeiten aufgrund des Gesundheitszustandes von Rechtsanwältin D. besteht unabhängig von der exakten, zudem derzeit nicht gesicherten medizinischen Diagnose.

4. Die Vorsitzende des Staatsschutzsenats des Oberlandesgerichts hat den in Art. 103 Abs. 1 GG verankerten Anspruch des Angeklagten auf rechtliches Gehör nicht verletzt. Sie hat bei ihrer Entscheidung weder Verfahrensstoff verwertet, zu dem der Angeklagte nicht gehört worden ist, noch hat sie zu berücksichtigendes Vorbringen von ihm übergangen oder in sonstiger Weise seinen Gehörsanspruch verletzt. Denn der Angeklagte hat durch Schriftsatz seines Wahlverteidigers Rechtsanwalt M. vom 17. September 2024 zur Zuschrift des Generalbundesanwalts vom 26. August 2024 Stellung genommen. Diese hat sich explizit auch zu einer Entpflichtung von Rechtsanwältin D. gemäß § 143a Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 Alternative 2 StPO verhalten. Der Angeklagte hat sich in seiner Erwiderung hierauf gegen die Aufhebung der Bestellung von Rechtsanwältin D. als Pflichtverteidigerin gewandt, da eine angemessene Verteidigung durch sie gewährleistet sei. Die Vorsitzende hat diesen Vortrag des Beschwerdeführers - wie der Inhalt ihrer Entscheidung deutlich macht - vollständig zur Kenntnis genommen und erwogen. Dass sie der Rechtsansicht und der Argumentation des Angeklagten nicht gefolgt ist, begründet keinen Gehörsverstoß (vgl. BVerfG, Beschluss vom 30. September 2022 - 2 BvR 2222/21, NJW 2022, 3413 Rn. 27). Der Beschluss hat auch keine neuen Tatsachen zugrunde gelegt, zu denen sich der Angeklagte nicht hätte äußern können. Denn die Gefahr eines längerfristigen Ausfalls der Pflichtverteidigerin D. ist von dieser in ihrer Antragsschrift vom 10. August 2024 selbst vorgetragen worden. Dass die rechtliche Begründung im angefochtenen Beschluss über die Ausführungen des Generalbundesanwalts in dessen Antragsschrift hinausgeht, führt zu keiner anderen Bewertung. Ein Verfahrensbeteiligter ist gehalten, grundsätzlich alle vertretbaren rechtlichen Gesichtspunkte von sich aus in Betracht zu ziehen und seinen Vortrag darauf einzustellen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 30. September 2022 - 2 BvR 2222/21, NJW 2022, 3413 Rn. 29). Auch eines Antrags eines Verfahrensbeteiligten oder eines Einverständnisses des Angeklagten oder seiner Pflichtverteidigerin bedurfte es anders als bei den sonstigen Varianten des § 143a StPO nicht.

Ein Anhörungsmangel wäre im Übrigen hier im Beschwerdeverfahren durch die vollumfängliche Sachprüfung des Senats geheilt worden (vgl. BGH, Beschlüsse vom 6. Juni 2019 - StB 14/19, NJW 2019, 2627 Rn. 11; vom 15. November 1955 - StB 44/55, BGHSt 8, 194, 195; KK-StPO/Zabeck, 9. Aufl., § 309 Rn. 7).

5. Ferner sind die Rechte des Angeklagten an einer effektiven Verteidigung (s. Art. 6 Abs. 3 Buchst. c EMRK) und einem fairen Verfahren (vgl. Art. 20 Abs. 3 GG, Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK) durch die Bestellung der Pflichtverteidiger H. und M. hinreichend gewahrt.

HRRS-Nummer: HRRS 2025 Nr. 52

Bearbeiter: Fabian Afshar/Karsten Gaede