hrr-strafrecht.de - Rechtsprechungsübersicht


HRRS-Nummer: HRRS 2025 Nr. 334

Bearbeiter: Felix Fischer/Karsten Gaede

Zitiervorschlag: BGH, 2 StR 544/24, Beschluss v. 16.01.2025, HRRS 2025 Nr. 334


BGH 2 StR 544/24 - Beschluss vom 16. Januar 2025 (LG Frankfurt am Main)

Anklageverlesung (vollständige Verlesung der Anklageschrift statt nur des Anklagesatzes; wesentliches Ermittlungsergebnis; Unmittelbarkeitsgrundsatz; Mündlichkeitsgrundsatz; Protokollberichtigung: dienstliche Erklärungen; Beruhen: Inbegriff der Hauptverhandlung); Adhäsionsentscheidung (Feststellung: Grundsatz der Einheitlichkeit des Schmerzensgeldes).

§ 200 Abs. 2 StPO; § 243 Abs. 3 Satz 1 StPO; § 274 StPO; § 337 StPO; § 406 StPO; § 253 BGB

Leitsätze des Bearbeiters

1. Für die Frage, ob ein Urteil auf einer unzulässigen Mitteilung des wesentlichen Ermittlungsergebnisses (§ 200 Abs. 2 StPO) statt der bloßen Verlesung des Anklagesatzes beruht, ist zwischen der dauernden Überlassung der Anklageschrift und deren einmaliger Verlesung zu unterscheiden. Durch ein einmaliges Verlesen werden die Schöffen regelmäßig nicht so stark beeindruckt, dass sie das wirkliche Ergebnis der Hauptverhandlung nicht mehr unbefangen aufnehmen können.

2. Schöffen sind gleichberechtigte Richter, von denen in der heutigen Informationsgesellschaft, gegebenenfalls mit Unterstützung der Berufsrichter, erwartet wird, sowohl die Berichterstattung als auch die Wertungen der Verfahrensbeteiligten sachgerecht einzuordnen.

3. Nach dem Grundsatz der Einheitlichkeit des Schmerzensgeldes werden von dem in einer Adhäsionsentscheidung zugesprochenen Schmerzensgeldanspruch alle Schadensfolgen erfasst, die entweder bereits eingetreten und objektiv erkennbar sind oder deren Eintritt jedenfalls vorhergesehen und bei der Entscheidung berücksichtigt werden kann.

Entscheidungstenor

1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Frankfurt am Main vom 27. Februar 2024 im Adhäsionsausspruch

a) aufgehoben, soweit eine Ersatzpflicht des Angeklagten für künftige, nicht vorhersehbare immaterielle Schäden der Adhäsionsklägerin festgestellt ist, insoweit wird von einer Entscheidung über den Adhäsionsantrag abgesehen; und

b) dahin ergänzt, dass im Übrigen von einer Entscheidung über die Adhäsionsanträge abgesehen wird.

2. Die weitergehende Revision wird verworfen.

3. Der Beschwerdeführer hat die Kosten seines Rechtsmittels, die insoweit durch das Adhäsionsverfahren entstandenen besonderen Kosten und die der Neben- und Adhäsionsklägerin im Revisionsverfahren entstandenen notwendigen Auslagen zu tragen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Vergewaltigung zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren und sechs Monaten verurteilt. Darüber hinaus hat es ihn im Adhäsionsverfahren zur Zahlung von 17.000 Euro nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 31. Januar 2024 an die Neben- und Adhäsionsklägerin verurteilt und festgestellt, dass er verpflichtet ist, ihr sämtliche künftigen materiellen sowie nicht vorhersehbaren immateriellen Schäden aus der Vergewaltigung vom 19. August 2021 in Frankfurt am Main zu ersetzen, soweit die Ansprüche nicht auf Dritte übergegangen sind. Die auf die Rüge der Verletzung formellen und materiellen Rechts gestützte Revision des Angeklagten hat den aus der Beschlussformel ersichtlichen Teilerfolg; im Übrigen ist das Rechtsmittel unbegründet.

1. Den erhobenen Verfahrensrügen bleibt der Erfolg versagt.

a) Soweit die Revision geltend macht, am ersten Tag der Hauptverhandlung sei durch die Sitzungsvertreterin der Staatsanwaltschaft entgegen § 243 Abs. 3 Satz 1 StPO nicht der Anklagesatz, sondern, wie durch das Protokoll der Hauptverhandlung belegt, die gesamte Anklageschrift einschließlich des wesentlichen Ergebnisses der Ermittlungen verlesen und damit gegen den Unmittelbarkeitsgrundsatz und das Mündlichkeitsprinzip verstoßen worden, greift der Verfahrensfehler hier nicht durch.

aa) Zwar wird durch das Protokoll bewiesen, dass die Sitzungsvertreterin der Staatsanwaltschaft „die Anklageschrift vom 28.02.2023, […] (Bd. II, Bl. 418- 429 d.A.)“ und damit auch das wesentliche Ergebnis der Ermittlungen verlesen hat. Zu der vom Vorsitzenden der Strafkammer nach der Erhebung der Verfahrensrüge intendierten Berichtigung des Protokolls auf der Grundlage der dienstlichen Erklärungen der beiden Berufsrichter und der Sitzungsvertreterin der Staatsanwaltschaft sowie der Erklärung des Vertreters der Nebenklägerin, die alle die sichere Erinnerung haben, dass lediglich - wie geboten - der Anklagesatz und nicht auch das wesentliche Ergebnis der Ermittlungen verlesen worden sei, ist es nicht gekommen. Die strengen Verfahrensvorgaben für eine Protokollberichtigung (vgl. BGH, Beschlüsse vom 23. April 2007 - GSSt 1/06, BGHSt 51, 298, 316 f., Rn. 61 ff., und vom 10. Mai 2022 - 2 StR 501/21, BGHR StPO § 274 Berichtigung 7) sind nicht gewahrt. Der Vorsitzende hat es unterlassen, die dienstliche Erklärung der Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle zu deren Erinnerungsbild einzuholen und diese den Verfahrensbeteiligten zuzuleiten (vgl. BGH, Urteil vom 12. Mai 2022 - 4 StR 197/21, NStZ-RR 2022, 286, 287). Insofern erschließt sich auch nicht, worauf die sichere Erinnerung der Urkundsbeamtin in dem von ihr mitunterzeichneten Berichtigungsbeschluss, wonach in der Hauptverhandlung vom 16. Januar 2024 lediglich der Anklagesatz und nicht etwa die gesamte Anklageschrift vom 28. Februar 2023 verlesen worden sei, fußt.

bb) Der Senat kann hier indes angesichts des konkreten Verfahrensablaufs ausnahmsweise ausschließen, dass die Berufsrichter und die Schöffen - die Richtigkeit des protokollierten Verfahrensgeschehens unterstellt - die Schuld des Angeklagten beeinflusst von der vollständig verlesenen Anklageschrift und nicht allein aufgrund des Ergebnisses der Hauptverhandlung festgestellt haben, so dass es einer Rücksendung der Strafakten an das Landgericht zu einem formgerechten Abschluss des Berichtigungsverfahrens nicht bedarf (vgl. zur möglichen Rücksendung BGH, Beschluss vom 2. September 2009 - 1 StR 423/09, wistra 2009, 484).

Dabei kann der Senat offenlassen, ob der bisherigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, nach der die Kenntnisnahme der Schöffen vom wesentlichen Ergebnis der Ermittlungen dem Grundsatz der Mündlichkeit und Unmittelbarkeit zuwiderläuft (vgl. hierzu BGH, Urteil vom 5. Januar 1954 - 1 StR 476/53, BGHSt 5, 261 ff. in Fortführung von RG, Urteil vom 8. Februar 1935 - 4 D 787/34, RGSt 69, 120, 123 f.; BGH, Urteil vom 17. November 1958 - 2 StR 188/58, BGHSt 13, 73, 74 f.; vgl. auch Nr. 126 Abs. 3 Satz 1 RiStBV), weil zu befürchten stehe, dass sich die Eindrücke, die den Schöffen aus verschiedenen Quellen zufließen, verwischen und sie deshalb ihre Überzeugung nicht mehr allein aus dem Inbegriff der Hauptverhandlung bilden, sondern durch die Bewertung des Tatverdachts durch die Staatsanwaltschaft beeinflusst werden, uneingeschränkt aufrecht zu erhalten ist (vgl. zur Kritik BGH, Urteile vom 23. Februar 1960 - 1 StR 648/59, BeckRS 1960, 105943, Rn. 4; vom 26. März 1997 - 3 StR 421/96, BGHSt 43, 36, 39 ff., und vom 10. Dezember 1997 - 3 StR 250/97, BGHSt 43, 360, 363; LR-StPO/Becker, 27. Aufl., § 243 Rn. 113 und LR-StPO/Sander, 27. Aufl., § 261 Rn. 33 ff.; KK-StPO/Barthe, 9. Aufl., GVG, § 30 Rn. 2; MüKo-StPO/Schuster, 2. Aufl., GVG, § 30 Rn. 5 ff.; Rieß, JR 1987, 389 ff.; aA KMR-StPO/Eschelbach, 81. EL., § 243 Rn. 77; Danckert, StV 1988, 282 ff.).

Denn der Senat kann ausschließen, dass das Urteil auf dem Verfahrensfehler beruht. Zwar ist der Revision zuzugeben, dass sich das wesentliche Ergebnis der Ermittlungen sowohl mit der Einlassung des Angeklagten im Ermittlungsverfahren als auch den vormaligen Aussagen der Nebenklägerin auseinandersetzt. Auf ersterem kann das Urteil aber bereits deshalb nicht beruhen, weil der Angeklagte in der Hauptverhandlung geschwiegen hat. Seine Einlassung aus dem Ermittlungsverfahren wird in der Urteilsurkunde nicht erwähnt. Der Senat kann hier auch ausnahmsweise weiter ausschließen, dass sich die staatsanwaltschaftliche Würdigung der Aussagen der Nebenklägerin im wesentlichen Ergebnis der Ermittlungen auf die Urteilsfindung ausgewirkt hat. In der Rechtsprechung ist anerkannt, dass zwischen der dauernden Überlassung der Anklageschrift und deren einmaliger Verlesung unterschieden werden muss, weil durch ein einmaliges Verlesen die Schöffen regelmäßig nicht so stark beeindruckt werden, dass sie das wirkliche Ergebnis der Hauptverhandlung nicht mehr unbefangen aufnehmen können (vgl. RG, Urteil vom 8. Februar 1935 - 4 D 787/34, RGSt 69, 120, 123; BGH, Urteile vom 27. August 1968 - 1 StR 381/68, Rn. 10, und vom 2. Dezember 1986 - 1 StR 433/86, BGHR StPO § 200 Abs. 1 Satz 1 Anklagesatz 1). Zudem hat die Strafkammer die Nebenklägerin als Zeugin eingehend vernommen und deren Aussagen im Ermittlungsverfahren in der Hauptverhandlung verlesen. Sie hat die Aussageentstehung über zahlreiche Hauptverhandlungstage umfassend rekonstruiert und die jeweiligen Gesprächsteilnehmer sowie die Vernehmungsbeamten in der neuntägigen Hauptverhandlung als Zeugen gehört. Dass die Schöffen als gleichberechtigte Richter (vgl. § 30 Abs. 1 GVG), von denen in der heutigen Informationsgesellschaft (vgl. hierzu LR-StPO/Sander, 27. Aufl., § 261 Rn. 35), gegebenenfalls mit Unterstützung der Berufsrichter (vgl. hierzu Nr. 126 Abs. 2 Satz 1 RiStBV), erwartet wird, sowohl die Berichterstattung als auch die Wertungen der Verfahrensbeteiligten (vgl. etwa § 243 Abs. 5 Satz 3 und 4, § 257 Abs. 2 und § 258 Abs. 1 StPO) sachgerecht einzuordnen, bei diesem konkreten Verfahrensverlauf ihr Urteil nicht mehr allein aus dem Inbegriff der Hauptverhandlung geschöpft haben, schließt der Senat aus (vgl. auch EGMR, Urteil vom 12. Juni 2008 - 26771/03, NJW 2009, 2871, 2872 f.).

b) Die weiteren Verfahrensrügen versagen aus den in der Zuschrift des Generalbundesanwalts dargestellten Gründen.

2. Die auf die Sachrüge veranlasste Überprüfung des Urteils hat zum Schuld- und Strafausspruch keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten ergeben.

3. Die Adhäsionsentscheidung bedarf lediglich hinsichtlich des Ausspruchs über die Feststellung, dass der Angeklagte verpflichtet ist, der Neben- und Adhäsionsklägerin sämtliche künftigen, nicht vorhersehbaren immateriellen Schäden aus der festgestellten Vergewaltigung zu ersetzen, soweit Ansprüche nicht auf Dritte übergegangen sind, der Korrektur. Der Generalbundesanwalt hat hierzu in seiner Zuschrift zutreffend ausgeführt:

„[…]. [A]nders als bei den künftigen materiellen Schäden, bei denen sich die erforderliche Begründung eines Feststellungsinteresses (vgl. BGH, Beschluss vom 12. November 2019 - 3 StR 436/19, BGHR StPO § 406 Feststellungsurteil 1) hier noch aus dem Zusammenhang der Entscheidungsgründe entnehmen lässt, ergibt sich ein solches bei den immateriellen Schäden nicht schon aus dem Umstand, dass eine therapeutische Behandlung der durch die Tat verursachten posttraumatischen Belastungsstörung bislang noch nicht stattgefunden hat. Denn nach dem Grundsatz der Einheitlichkeit des Schmerzensgeldes werden von dem Schmerzensgeldanspruch alle Schadensfolgen erfasst, die entweder bereits eingetreten und objektiv erkennbar sind oder deren Eintritt jedenfalls vorhergesehen und bei der Entscheidung berücksichtigt werden kann (vgl. BGH, a.a.O.). Die Strafkammer hat künftige Verletzungsfolgen, insbesondere die noch nicht erfolgte professionelle Aufarbeitung der Tat und therapeutische Behandlung der posttraumatischen Belastungsstörung entsprechend bereits bei der Bemessung des Schmerzensgeldes berücksichtigt (UA S. 69). Die Möglichkeit weiterer künftiger, nicht vorhersehbarer immaterieller Schäden, die nicht bereits von dem Ausspruch über die Schmerzensgeldzahlung in der ausgeurteilten Höhe umfasst sind, ist dagegen nicht weiter dargetan und erschließt sich auch nicht ohne weiteres.“ Zunächst war im Umfang dieser Aufhebung von einer Entscheidung im Adhäsionsverfahren abzusehen (§ 406 Abs. 1 Satz 3 StPO). Zudem ist das Landgericht bei seinem Feststellungsausspruch zur Ersatzpflicht der materiellen Schäden hinter dem Adhäsionsantrag zurückgeblieben, weil es die Feststellung nicht wie beantragt auf „nach dem 29.01.2024“ entstehende Schäden erstreckt, sondern sie auf künftige (und damit nach dem 27. Februar 2024 als dem Zeitpunkt der Urteilsfällung, vgl. BGH, Beschluss vom 12. Juni 2019 - 2 StR 145/19, Rn. 2) entstehende Schäden beschränkt hat. Die Adhäsionsentscheidung des Landgerichts war somit in entsprechender Anwendung des § 354 Abs. 1 StPO (vgl. BGH, Beschluss vom 30. September 2024 - 6 StR 331/24, Rn. 5) dahin zu ergänzen, dass auch insoweit von der Entscheidung über die weitergehenden Anträge abgesehen wird. Eine Zurückverweisung der Sache zur teilweisen Erneuerung des Adhäsionsverfahrens scheidet aus (vgl. BGH, Beschluss vom 12. November 2019 - 3 StR 436/19, Rn. 7).

4. Angesichts des geringen Erfolgs der Revision ist es nicht unbillig, den Angeklagten mit den gesamten Kosten seines Rechtsmittels und den notwendigen Auslagen der Nebenklägerin zu belasten (§ 473 Abs. 4 StPO). Gleiches gilt für die durch das Adhäsionsverfahren entstandenen Kosten und notwendigen Auslagen der Adhäsionsklägerin (§ 472a Abs. 2 StPO).

HRRS-Nummer: HRRS 2025 Nr. 334

Bearbeiter: Felix Fischer/Karsten Gaede