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HRRS-Nummer: HRRS 2023 Nr. 933

Bearbeiter: Fabian Afshar

Zitiervorschlag: BGH, StB 43/23, Beschluss v. 20.07.2023, HRRS 2023 Nr. 933


BGH StB 43/23 - Beschluss vom 20. Juli 2023 (Hanseatisches OLG in Hamburg)

Haftbeschwerde (dringender Tatverdacht nach nicht rechtskräftiger Verurteilung; Fluchtgefahr: Berücksichtigung des Zwei-Drittel-Zeitpunkts und einer nicht rechtskräftigen Verurteilung in anderer Sache).

§ 112 StPO; § 304 StPO

Entscheidungstenor

1. Die Beschwerde des Angeklagten gegen den Beschluss des Hanseatischen Oberlandesgerichts in Hamburg vom 8. Juni 2023 wird verworfen.

2. Der Beschwerdeführer hat die Kosten seines Rechtsmittels zu tragen.

Gründe

I.

Der Angeklagte befindet sich seit dem 14. September 2021 in Untersuchungshaft, zunächst aufgrund Haftbefehls des Ermittlungsrichters des Bundesgerichtshofs vom 9. September 2021 (1 BGs 427/21 VSNfD). Nachdem der Senat durch Beschluss vom 6. April 2022 (AK 10/22 VSNfD) im Rahmen der besonderen Haftprüfung die Fortdauer der Untersuchungshaft angeordnet hatte, hat der Ermittlungsrichter des Bundesgerichtshofs am 3. Juni 2022 einen neu gefassten, auf den Haftgrund der Fluchtgefahr gestützten Haftbefehl erlassen (1 BGs 111/22 VSNfD). Im Folgenden hat der Senat am 26. Juli 2022 (AK 24/22) abermals Haftfortdauer angeordnet. Das Hanseatische Oberlandesgericht hat den Angeklagten am 11. Januar 2023 wegen gewerbsmäßigen Verstoßes gegen eine Genehmigungspflicht für den Verkauf und die tateinheitliche Ausfuhr gemäß eines unmittelbar geltenden Rechtsaktes der Europäischen Union, der der Durchführung einer vom Rat der Europäischen Union im Bereich der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik beschlossenen wirtschaftlichen Sanktionsmaßnahme dient, in drei Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren und sechs Monaten verurteilt (4 St 2/22). Zudem hat es beschlossen, dass der Haftbefehl des Ermittlungsrichters des Bundesgerichtshofs vom 9. September 2021 in der Fassung des Haftbefehls vom 3. Juni 2022 nach Maßgabe der Verurteilung aus den fortbestehenden Gründen seines Erlasses aufrechterhalten bleibe. Mit Beschluss vom 8. Juni 2023 hat es den Antrag des Angeklagten abgelehnt, den Haftbefehl aufzuheben.

Hiergegen richtet sich die Beschwerde des Angeklagten, dessen Revision gegen das Urteil beim Senat noch anhängig ist. Der Angeklagte hält den weiteren Vollzug der Untersuchungshaft für nicht mehr verhältnismäßig. Das Oberlandesgericht hat der Beschwerde nicht abgeholfen.

II.

Die gemäß § 304 Abs. 4 Satz 2 Halbsatz 2 Nr. 1 StPO zulässige Beschwerde ist unbegründet.

1. Gegen den Angeklagten besteht der dringende Verdacht im Sinne des § 112 Abs. 1 Satz 1 StPO, er habe am 30. Juni 2020 zwei Spektrometer-Systeme, bereits am 20. Januar 2020 zwei weitere solcher Systeme und am 18. November 2020 einen fahrbaren Vakuumpumpenstand mit Magnetventil sowie ein Evakuier- und Nachfüllgerät entgegen den gesetzlichen Bestimmungen ohne die erforderliche Genehmigung in den Iran ausgeliefert, nachdem er die Gegenstände zuvor verkauft hatte. Er handelte hochwahrscheinlich jeweils in der Absicht, sich durch den wiederholten Verkauf und die Ausfuhr entsprechender Güter in den Iran eine nicht nur vorübergehende, nicht unerhebliche Einnahmequelle zu verschaffen. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Haftbefehl vom 3. Juni 2022 (dort Fälle 2 bis 4) und das Urteil des Oberlandesgerichts Bezug genommen.

Der - mit der Beschwerde nicht in Zweifel gezogene - dringende Verdacht wird durch das verurteilende Erkenntnis hinreichend belegt (vgl. BGH, Beschlüsse vom 8. Januar 2004 - StB 20/03, BGHR StPO § 112 Tatverdacht 4; vom 28. Oktober 2005 - StB 15/05, NStZ 2006, 297; vom 30. Mai 2018 - StB 12/18, NStZ-RR 2018, 255 mwN). Danach hat sich der Angeklagte wegen gewerbsmäßigen Verstoßes gegen eine Genehmigungspflicht in drei Fällen nach § 18 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. a, Abs. 7 Nr. 2 AWG in Verbindung mit Art. 3a Abs. 1 Buchst. a der Verordnung (EU) Nr. 267/2012 vom 23. März 2012 in der Fassung der Verordnung (EU) 2015/1861 vom 18. Oktober 2015, Anhang II Nr. II.A3.003 und II.A2.024 strafbar gemacht.

2. Der Haftgrund der Fluchtgefahr (§ 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO) liegt weiterhin vor. Es ist bei einer Gesamtwürdigung der maßgeblichen Umstände trotz der vorangeschrittenen Dauer der Untersuchungshaft noch immer wahrscheinlicher, dass sich der Angeklagte, auf freien Fuß gesetzt, dem Strafverfahren entziehen, als dass er sich ihm zur Verfügung halten werde.

Wie der Senat bereits in seinem Beschluss vom 6. April 2022 dargelegt hat, stehen den fluchthemmenden sozialen und wirtschaftlichen Bindungen des Angeklagten im Inland enge Kontakte in das Ausland gegenüber, die bei einer Flucht hilfreich sein können. Eine Änderung zur damaligen Beurteilungsgrundlage liegt insofern vor, als sich die Straferwartung nun angesichts des erstinstanzlichen Urteils auf die ausgesprochene Gesamtstrafe konkretisiert hat und die Untersuchungshaft bereits länger als zwei Drittel dieser noch nicht rechtskräftigen Strafe dauert. Allerdings lässt eine solche Haftdauer die Fluchtgefahr nicht für sich genommen entfallen (vgl. etwa BGH, Beschlüsse vom 20. April 2022 - StB 16/22, NStZ-RR 2022, 209, 210; vom 3. Mai 2023 - StB 26/23, juris Rn. 13 mwN). Es ist auf die zu verbüßende Zeit abzustellen, die nach Anrechnung der erlittenen Untersuchungshaft gemäß § 51 Abs. 1 Satz 1 StGB verbleibt, und eine mögliche Aussetzung des Strafrests zur Bewährung zu bedenken. Dem ist das Oberlandesgericht nachgekommen und hat in die Prognose die zum Zeitpunkt seiner Entscheidung zutreffende Erwägung einbezogen, dass gegen den Angeklagten eine weitere Hauptverhandlung vor dem Landgericht Göttingen, insbesondere wegen Vorwürfen der Bestechung im geschäftlichen Verkehr und Beihilfe zur Untreue, stattgefunden hat. Es hat bedacht, dass im Falle einer Verurteilung durch das Landgericht mit den von ihm selbst verhängten Einzelstrafen eine nachträgliche, hochwahrscheinlich deutlich höhere Gesamtfreiheitsstrafe zu bilden wäre und sich der Zeitpunkt einer möglichen Strafaussetzung zur Bewährung dadurch deutlich nach hinten verschöbe. Wie sich aus dem Urteil des Oberlandesgerichts ergibt, hat der Angeklagte zu den im anderen Strafverfahren erhobenen Vorwürfen geäußert, sich insoweit „schuldig gemacht“ zu haben.

Der Angeklagte ist in dem anderweitigen Verfahren inzwischen am 7. Juli 2023 - noch nicht rechtskräftig - wegen Bestechung im geschäftlichen Verkehr in Tateinheit mit Beihilfe zur Untreue in 83 Fällen und wegen Hehlerei in 19 Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und zehn Monaten verurteilt worden. Sowohl durch diese weitere Verurteilung als auch durch den im dortigen Verfahren bereits durch den Ermittlungsrichter des Amtsgerichts Braunschweig am 16. Dezember 2022 (7 Gs 3284/22) erlassenen Haftbefehl wird die Fluchtgefahr, unabhängig von der Rechtskraft des Urteils, deutlich verstärkt (vgl. zur Berücksichtigung von Überhaft etwa BGH, Beschluss vom 19. April 2022 - AK 13/22, juris Rn. 19).

Dass dem Angeklagten aus gesundheitlichen Gründen eine Flucht nicht möglich wäre, ist entgegen seinem pauschalen Vorbringen nicht ersichtlich.

Insgesamt kann der Zweck der Untersuchungshaft nicht durch weniger einschneidende Maßnahmen als deren Vollzug erreicht werden (§ 116 StPO).

3. Der fortdauernde Vollzug der Untersuchungshaft steht nach Abwägung zwischen dem Freiheitsgrundrecht des Angeklagten einerseits sowie dem Strafverfolgungsinteresse der Allgemeinheit andererseits nicht außer Verhältnis zur Bedeutung der Sache und der im Fall einer Verurteilung zu erwartenden Strafe (§ 120 Abs. 1 Satz 1 StPO).

Zwar setzt die Verhältnismäßigkeit der Untersuchungshaft unabhängig von der Straferwartung Grenzen. Mit zunehmender Dauer der Untersuchungshaft vergrößert sich regelmäßig das Gewicht des Freiheitsanspruchs gegenüber dem Interesse an einer wirksamen Strafverfolgung. Daraus folgt, dass mit der Dauer der Untersuchungshaft die Anforderungen an die Zügigkeit der Arbeit in einer Haftsache und an den die Haftfortdauer rechtfertigenden Grund zunehmen (vgl. BGH, Beschluss vom 26. Mai 2020 - StB 15/20, juris Rn. 20 mwN). Allerdings ist diesen Erfordernissen genügt. Das Oberlandesgericht hat sowohl das Zwischen- als auch das Hauptverfahren zügig geführt und rund vier Monate nach Eingang der Anklage ein Urteil gesprochen. Das Revisionsverfahren weist bisher gleichfalls keine erheblichen Verzögerungen auf.

Mit Blick auf die in der Beschwerdeschrift und der weiteren Stellungnahme genannten Gesichtspunkte ist die Untersuchungshaft ebenfalls nicht unverhältnismäßig. Zwar trifft es zu, dass mit Fortdauer der Untersuchungshaft die Dauer der noch zu verbüßenden Strafhaft und die Möglichkeit abnehmen, in diesem Rahmen auf einen Verurteilten im Sinne der Resozialisierung einzuwirken. Allerdings handelt es sich hierbei zum einen um einen der Untersuchungshaft immanenten Befund. Zum anderen besteht aufgrund der Fluchtgefahr gerade die Erwartung, der Angeklagte werde sich ansonsten dem Verfahren entziehen. Sollte er fliehen, wären Resozialisierungsbemühungen in Strafhaft ebenfalls der Boden entzogen. Im Übrigen reichte bei der nachträglichen Bildung einer Gesamtstrafe aus den Einzelstrafen der beiden - noch nicht rechtskräftigen - Urteile die bisherige Dauer der Untersuchungshaft voraussichtlich nicht an die Hälfte einer zu vollstreckenden Gesamtstrafe heran.

Eine Unzumutbarkeit der weiteren Untersuchungshaft ergibt sich schließlich nicht aus den vom Angeklagten vorgebrachten Gesichtspunkten des konkreten Haftvollzuges, zumal insoweit gesonderte Rechtsschutzmöglichkeiten bestehen.

HRRS-Nummer: HRRS 2023 Nr. 933

Bearbeiter: Fabian Afshar