hrr-strafrecht.de - Rechtsprechungsübersicht


HRRS-Nummer: HRRS 2023 Nr. 1178

Bearbeiter: Fabian Afshar/Karsten Gaede

Zitiervorschlag: BGH, StB 42/23, Beschluss v. 25.07.2023, HRRS 2023 Nr. 1178


BGH StB 42/23 - Beschluss vom 25. Juli 2023 (OLG München)

Besetzungseinwand; Geschäftsverteilungsplan (gesetzlicher Richter; Zurückverweisung an andere Abteilung oder Kammer des Gerichts; Vorbefassung eines Richters).

§ 222a StPO; § 222b StPO; § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO analog; § 354 Abs. 2 StPO; Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG

Leitsätze des Bearbeiters

1. Im Einzelfall kann sich die nicht vorschriftsmäßige Besetzung des Gerichts der Hauptverhandlung (§ 222b Abs. 3, § 338 Nr. 1 StPO) daraus ergeben, dass eine im Geschäftsverteilungsplan getroffene Regelung unwirksam ist, weil sie das vom Gesetzgeber mit § 354 Abs. 2 StPO verfolgte Anliegen, das Verfahren nach Zurückverweisung in der Regel vor andere Richter zu bringen, missbräuchlich umgeht. Dies ist in Betracht zu ziehen, wenn der Spruchkörper, der nach der Geschäftsverteilung für die neue Entscheidung zuständig ist, mit Richtern besetzt ist, die nach demselben Plan dem in dem früheren Rechtsgang erkennenden Spruchkörper angehört haben.

2. Ein Präsidium ist nicht gehalten, über das Geschäftsjahr hinaus sicherzustellen, dass kein vorbefasster Richter nochmals mit einer zurückverwiesenen Sache befasst werden kann. Entsprechend seinem Wortlaut ist § 354 Abs. 2 StPO dahin auszulegen, dass die Vorschrift die Zurückverweisung an „andere“, nicht „anders besetzte“ Abteilungen, Kammern oder Senate verlangt.

3. Für die Frage der Vorbefassung ist es rechtlich bedeutungslos, ob ein Richter im ersten Rechtsgang als Berichterstatter tätig war. Denn das Recht auf den gesetzlichen Richter wird durch die Bestimmung eines Berichterstatters grundsätzlich nicht berührt. Vielmehr sind alle zur Entscheidung berufenen Mitglieder des Spruchkörpers zur sorgfältigen und gewissenhaften Befassung mit der Sache verpflichtet.

Entscheidungstenor

Der von der Angeklagten erhobene Einwand der vorschriftswidrigen Besetzung des erkennenden Gerichts wird auf ihre Kosten verworfen.

Gründe

I.

Die Angeklagte hat mit am 2. Juni 2023 beim Oberlandesgericht München eingegangenem Verteidigerschriftsatz eingewandt, die Besetzung des 9. Strafsenats mit der Vorsitzenden Richterin am Oberlandesgericht I. in der ab dem 19. Juli 2023 terminierten Hauptverhandlung sei nicht vorschriftsmäßig.

1. Dem Besetzungseinwand liegt folgendes Geschehen zugrunde:

Die Angeklagte wurde im ersten Rechtsgang mit Urteil des 8. Strafsenats des Oberlandesgerichts München vom 25. Oktober 2021 wegen Verbrechens gegen die Menschlichkeit durch Versklavung mit Todesfolge und weiterer - tateinheitlich und - mehrheitlich begangener - Delikte zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zehn Jahren verurteilt. An dem Erkenntnis wirkte die damalige Richterin am Oberlandesgericht I. als Beisitzerin mit.

Auf die vom Generalbundesanwalt zu Lasten der Angeklagten geführte Revision hob der Senat am 9. März 2023 das Urteil im Strafausspruch teilweise auf und verwies die Sache in diesem Umfang zu neuer Verhandlung und Entscheidung an einen anderen Strafsenat des Oberlandesgerichts zurück.

Gemäß dem am 16. Dezember 2022 beschlossenen Geschäftsverteilungsplan des Oberlandesgerichts für das Jahr 2023 fiel das Verfahren dem 9. Strafsenat zu, in dem die Vorsitzende Richterin am Oberlandesgericht I. den Vorsitz führt. Anlässlich ihrer Beförderung hatte das Präsidium ihr diese zum 1. September 2022 vakant gewordene Position zugewiesen. Die Geschäftsverteilungsregelung, nach der im Fall der Zurückverweisung einer Sache durch das Revisionsgericht der 9. Strafsenat für Staatsschutzstrafverfahren zuständig ist, soweit anstelle des 8. Strafsenats ein anderer Senat im Sinne des § 354 Abs. 2 Satz 2 StPO tätig zu werden hat, stimmt inhaltlich mit denjenigen der Vorjahre überein.

Am 22. Mai 2023 beschloss der 9. Strafsenat seine Besetzung mit drei Richtern einschließlich der Vorsitzenden Richterin am Oberlandesgericht I. Mit Verfügung vom selben Tag bestimmte sie die Termine zur neuen Hauptverhandlung ab dem 19. Juli 2023 und teilte die Senatsbesetzung mit. Dem Verteidiger der Angeklagten wurde die Besetzungsmitteilung am 26. Mai 2023 zugestellt.

2. Die Angeklagte macht mit dem Besetzungseinwand geltend, der Geschäftsverteilungsplan für das Jahr 2023, welcher der Zuständigkeit des 9. Strafsenats zugrunde liege, sei rechtswidrig. Dass nunmehr ein Staatsschutzsenat entscheide, der mit einer Richterin besetzt sei, die zuvor an der zurückverwiesenen Sache als „Beisitzerin (Berichterstatterin)“ mitgewirkt habe, sei „durch keinerlei Notwendigkeit begründet“, sondern stelle eine gezielte Umgehung des in § 354 Abs. 2 StPO geregelten Rechtsgedankens dar, wonach grundsätzlich ein Spruchkörper in vollständig anderer Besetzung zu entscheiden habe. Für das Präsidium wäre es ohne Weiteres möglich gewesen, „das eine beim BGH anhängige Verfahren des 8. Strafsenats einem Senat zuzuweisen“, der nicht mit einem vorbefassten Richter besetzt sei.

3. Das Oberlandesgericht hat den Besetzungseinwand für nicht begründet gehalten und ihn dem Bundesgerichtshof vorgelegt. Der Generalbundesanwalt hat seine Verwerfung beantragt.

II.

1. Der form- und fristgerecht erhobene Besetzungseinwand entspricht den Begründungsanforderungen des § 222b Abs. 1 Satz 2, § 344 Abs. 2 Satz 2 analog StPO (s. BGH, Beschluss vom 16. Juni 2021 - StB 25 u. 26/21, NStZ 2021, 762 Rn. 8; KK-StPO/Gmel, 9. Aufl., § 222b Rn. 8 mwN), soweit die Angeklagte beanstandet, die angegriffene Regelung im Geschäftsverteilungsplan für das Jahr 2023 sei bereits deshalb rechtswidrig, weil der neu entscheidende Strafsenat in der Person einer Richterin teilidentisch mit dem zuvor erkennenden Strafsenat besetzt sei. In der Sache bleibt der Einwand allerdings erfolglos.

Zwar kann sich im Einzelfall die nicht vorschriftsmäßige Besetzung des Gerichts der Hauptverhandlung (§ 222b Abs. 3, § 338 Nr. 1 StPO) daraus ergeben, dass eine im Geschäftsverteilungsplan getroffene Regelung unwirksam ist, weil sie das vom Gesetzgeber mit § 354 Abs. 2 StPO verfolgte Anliegen, das Verfahren nach Zurückverweisung in der Regel vor andere Richter zu bringen (s. BGH, Urteil vom 9. September 1966 - 4 StR 261/66, BGHSt 21, 142, 143 f.), missbräuchlich umgeht. Dies ist in Betracht zu ziehen, wenn der Spruchkörper, der nach der Geschäftsverteilung für die neue Entscheidung zuständig ist, mit Richtern besetzt ist, die nach demselben Plan dem in dem früheren Rechtsgang erkennenden Spruchkörper angehört haben (s. BGH, Beschluss vom 28. November 2012 - 5 StR 416/12, BGHR StPO § 338 Nr. 1b Geschäftsverteilungsplan 1; Urteil vom 14. Oktober 2015 - 5 StR 273/15, NStZ-RR 2016, 17; OLG Hamm, Beschluss vom 11. November 2004 - 4 Ss 476/04, NStZ-RR 2005, 212; SSW-StPO/Momsen/Momsen-Pflanz, 5. Aufl., § 354 Rn. 59).

Das Präsidium ist jedoch nicht gehalten, über das Geschäftsjahr hinaus sicherzustellen, dass kein vorbefasster Richter nochmals mit einer zurückverwiesenen Sache befasst werden kann. Entsprechend seinem Wortlaut ist § 354 Abs. 2 StPO dahin auszulegen, dass die Vorschrift die Zurückverweisung an „andere“, nicht „anders besetzte“ Abteilungen, Kammern oder Senate verlangt. Das Gesetz nimmt die erneute Mitwirkung von Richtern aus dem früheren Rechtsgang, insbesondere infolge der Änderung der Geschäftsverteilung, bewusst in Kauf. Dies steht in Einklang damit, dass - anders als im Fall des Verfahrens über die Wiederaufnahme nach rechtskräftigem Urteil (s. § 23 Abs. 2 StPO) - ein vorbefasster Richter weder kraft Gesetzes ausgeschlossen noch sonst verhindert ist, an einer neuen Entscheidung mitzuwirken. Denn von der Einführung einer entsprechenden Vorschrift hat der Gesetzgeber bewusst abgesehen (vgl. BGH, Urteile vom 9. September 1966 - 4 StR 261/66, BGHSt 21, 142, 143 ff.; vom 10. November 1967 - 4 StR 512/66, BGHSt 21, 334, 342 f.; LR/Franke, StPO, 26. Aufl., § 354 Rn. 68 f. mwN; MüKoStPO/Knauer/Kudlich, § 354 Rn. 93).

Gegen die Regelung des Geschäftsverteilungsplans für das Jahr 2023, aus der sich die Zuständigkeit des 9. Strafsenats für das Verfahren im zweiten Rechtsgang ergibt, nachdem dort die Vorsitzende Richterin am Oberlandesgericht I. nach ihrer Ernennung den Vorsitz während des laufenden Revisionsverfahrens übernommen hatte, bestehen danach keine rechtlichen Bedenken. Über Weiteres braucht der Senat hier nicht zu befinden.

2. Soweit die Angeklagte der Sache nach behauptet, das Präsidium habe ganz gezielt Maßnahmen getroffen, um gerade die Vorsitzende Richterin am Oberlandesgericht I. (als vormalige Berichterstatterin) mit der zurückverwiesenen Sache zu betrauen, und die erläuternden Darlegungen im Vorlagebeschluss unter den Begriff „Schutzbehauptung“ fasst, ist der Besetzungseinwand bereits unzulässig. Denn er genügt insofern nicht den Begründungsanforderungen des § 222b Abs. 1 Satz 2, § 344 Abs. 2 Satz 2 analog StPO. Es fehlt an Tatsachenvorbringen, das eine taugliche Grundlage bietet, eine derartige Wertung zu prüfen. So verhält sich der Besetzungseinwand nicht zu den Geschäftsverteilungsplänen der Vorjahre, ebenso wenig zu Vorgängen betreffend die Beförderung der vorbefassten Richterin. Zudem wäre die von der Angeklagten augenscheinlich gewünschte Einzelzuweisung der Sache an einen dritten Strafsenat unter dem Gesichtspunkt des Rechts auf den gesetzlichen Richter (§ 16 Satz 2 GVG, Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG) rechtlich nicht unbedenklich (vgl. BGH, Beschluss vom 20. April 2021 - StB 13-15/21, BGHR GVG § 21e Abs. 1 gesetzlicher Richter 2 Rn. 21 mwN).

Ergänzend weist der Senat mit Blick auf das Rügevorbringen darauf hin, dass es für die Frage der Vorbefassung rechtlich bedeutungslos ist, ob die Vorsitzende Richterin am Oberlandesgericht I. im ersten Rechtsgang als Berichterstatterin tätig war. Denn das Recht auf den gesetzlichen Richter wird durch die Bestimmung eines Berichterstatters grundsätzlich nicht berührt. Vielmehr sind alle zur Entscheidung berufenen Mitglieder des Spruchkörpers zur sorgfältigen und gewissenhaften Befassung mit der Sache verpflichtet (vgl. BVerfG, Beschluss vom 8. April 1997 - 1 PBvU 1/95, BVerfGE 95, 322, 331; ferner Kissel/Mayer, GVG, 10. Aufl., § 21g Rn. 41; LR/Berg, StPO, 27. Aufl., § 21g GVG Rn. 7, jeweils mwN). Im Übrigen enthält der Vorlagebeschluss die Mitteilung, dass im ersten Rechtsgang der damaligen Richterin am Oberlandesgericht I. die Berichterstattung nicht zugewiesen war.

3. Die Kostenentscheidung folgt aus § 473 Abs. 1 StPO. Die Prüfung, ob tatsächlich Kosten entstanden oder Auslagen angefallen sind, bleibt dem Kostenfestsetzungsverfahren vorbehalten (s. BGH, Beschluss vom 20. April 2021 - StB 13-15/21, juris Rn. 27 mwN).

HRRS-Nummer: HRRS 2023 Nr. 1178

Bearbeiter: Fabian Afshar/Karsten Gaede