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HRRS-Nummer: HRRS 2024 Nr. 35

Bearbeiter: Fabian Afshar

Zitiervorschlag: BGH, AK 83/23, Beschluss v. 29.11.2023, HRRS 2024 Nr. 35


BGH AK 83/23 - Beschluss vom 29. November 2023 (OLG München)

Fortdauer der Untersuchungshaft über neun Monate (Fluchtgefahr; Haftgrund der Schwerkriminalität; besondere Schwierigkeit und Umfang des Verfahrens); mitgliedschaftliche Beteiligung an einer terroristischen Vereinigung im Ausland.

§ 112 StPO; § 121 StPO; § 129 StGB; § 129a StGB

Entscheidungstenor

Die Untersuchungshaft hat fortzudauern.

Eine etwa erforderliche weitere Haftprüfung durch den Bundesgerichtshof findet in drei Monaten statt.

Bis zu diesem Zeitpunkt wird die Haftprüfung dem Oberlandesgericht München übertragen.

Gründe

I.

Der Angeschuldigte befindet sich seit dem 22. Dezember 2022 aufgrund des Haftbefehls des Ermittlungsrichters des Oberlandesgerichts München vom 7. Dezember 2022 (OGs 242/22) ununterbrochen in Untersuchungshaft.

Gegenstand des Haftbefehls ist der Vorwurf, der Angeschuldigte habe sich als Mitglied an der ausländischen terroristischen Vereinigung „Arbeiterpartei Kurdistans“ („Partiya Karkêren Kurdistan“, PKK) beteiligt, deren Zwecke oder deren Tätigkeit darauf gerichtet gewesen seien, Mord, Totschlag, Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen oder Straftaten gegen die persönliche Freiheit in den Fällen des § 239a oder § 239b StGB zu begehen, strafbar gemäß § 129a Abs. 1 Nr. 1 und 2, § 129b Abs. 1 Satz 1 und 2 StGB. Der Angeschuldigte soll von Juli 2021 bis zu seiner Festnahme als Vollkader der Organisation die PKK-Region B. und das PKK-Gebiet N. geleitet haben.

Der Senat hat mit Beschluss vom 8. August 2023 (AK 49/23) die Fortdauer der Untersuchungshaft über sechs Monate hinaus angeordnet. Rechtlich hat er das dem Angeschuldigten im Sinne eines dringenden Tatverdachts vorgeworfene Verhalten wie im Haftbefehl gewertet, allerdings dahinstehen lassen, ob die darin getroffene Würdigung zutrifft, dass neben den tatbestandlichen Voraussetzungen von § 129a Abs. 1 Nr. 1, § 129b Abs. 1 Satz 1 und 2 StGB auch diejenigen von § 129a Abs. 1 Nr. 2, § 129b Abs. 1 Satz 1 und 2 StGB vorliegen.

Die Generalstaatsanwaltschaft hat am 27. September 2023 wegen des Tatvorwurfs, der dem Haftbefehl zugrunde liegt, Anklage zum Oberlandesgericht München (6 St 5/23) erhoben. Von den dem Angeschuldigten im Haftbefehl angelasteten 29 Beteiligungshandlungen sind allerdings im Anklagesatz lediglich neun beschrieben, nämlich die Mitwirkung an der Spendenkampagne 2021/2022 (Haftbefehl Nr. 3), die öffentlichkeitswirksame Unterstützung von inhaftierten PKK-Kadern an vier Tagen (Haftbefehl Nr. 4, 8, 21 und 28) und die Organisation von verschiedenen Parteiveranstaltungen, bei denen der Angeschuldigte zu drei Gelegenheiten als Redner auftrat (Haftbefehl Nr. 5, 18, 23 und 25). Daneben führt der Anklagesatz zwei Beteiligungsakte an, die im Haftbefehl nicht geschildert sind.

Die übrigen 20 im Haftbefehl genannten Beteiligungshandlungen des Angeschuldigten (Nr. 1, 2, 6, 7, 9 bis 17, 19, 20, 22, 24, 26, 27 und 29 des Haftbefehls) hat die Generalstaatsanwaltschaft nach § 154a Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 StPO von der Verfolgung ausgenommen, wobei die Abschlussverfügung, mit der sie die Verfolgungsbeschränkung angeordnet hat, und, dies wiedergebend, das wesentliche Ergebnis der Ermittlungen - offenbar versehentlich - insoweit auch die Beteiligungsakte unter Nr. 21 und 28 des Haftbefehls benennen.

II.

Die Voraussetzungen für die Fortdauer der Untersuchungshaft über neun Monate hinaus liegen vor.

1. Gegenstand der Haftprüfung ist der nach § 122 Abs. 1 StPO vorgelegte vollzogene Haftbefehl (vgl. BGH, Beschlüsse vom 28. Juli 2016 - AK 41/16, juris Rn. 8; vom 6. Dezember 2017 - AK 63/17, NStZ-RR 2018, 53, 54; vom 3. März 2021 - AK 13/21, juris Rn. 4) mit der Maßgabe, dass jedenfalls die 20 nicht in der Anklageschrift beschriebenen Beteiligungshandlungen aufgrund der Verfolgungsbeschränkung nicht mehr dem Verfolgungswillen der Generalstaatsanwaltschaft unterliegen (vgl. BGH, Beschlüsse vom 5. Juni 2019 - AK 28/19, juris Rn. 7; vom 15. Mai 2019 - AK 22/19, juris Rn. 6). Ohne dass es für die Haftfrage darauf ankommt, umfasst die haftbefehlsgegenständliche Tat im verfahrensrechtlichen Sinne demgegenüber die beiden weiteren - allein - im Anklagesatz geschilderten Beteiligungsakte (vgl. BGH, Beschluss vom 11. Juli 2023 - AK 23/23, juris Rn. 16).

Ebenso wenig ist für die Haftfrage von maßgebender Bedeutung, ob sich die Verfolgungsbeschränkung auf die Beteiligungsakte unter Nr. 21 und 28 des Haftbefehls erstreckt.

2. Der Tatvorwurf rechtfertigt für sich genommen selbst dann die Haftfortdauer, wenn der Haftprüfung lediglich die sieben Beteiligungshandlungen unter Nr. 3 bis 5, 8, 18, 23 und 25 des Haftbefehls zugrunde gelegt werden.

a) Der dringende Verdacht der mitgliedschaftlichen Beteiligung an einer terroristischen Vereinigung im Ausland als solcher ist von der genauen Anzahl dieser für die PKK ausgeübten Betätigungen unabhängig. Was ihn im Allgemeinen, die im Haftbefehl geschilderten Beteiligungshandlungen im Besonderen und die rechtliche Bewertung angeht, wird auf die fortgeltenden Ausführungen im Beschluss des Senats vom 8. August 2023 (AK 49/23, juris Rn. 4 ff.) verwiesen. Im Übrigen wird auf das wesentliche Ergebnis der Ermittlungen Bezug genommen, soweit es die PKK, die ideologische Prägung des Angeschuldigten, seine Stellung in der Organisation und seine Tätigkeit für diese zum Gegenstand hat.

b) Die Haftgründe der Fluchtgefahr und der Schwerkriminalität (§ 112 Abs. 2 Nr. 2, Abs. 3 StPO) bestehen fort.

Auch wenn der Haftprüfung lediglich die Beteiligungshandlungen unter Nr. 3 bis 5, 8, 18, 23 und 25 des Haftbefehls zugrunde gelegt werden, hat der Angeschuldigte im Fall seiner Verurteilung weiterhin mit einer erheblichen noch zu verbüßenden Freiheitsstrafe zu rechnen, die einen hohen Fluchtanreiz begründet. Denn zum einen bleibt Prüfungsgegenstand jedenfalls die Zugehörigkeit des Angeschuldigten zur PKK in der herausgehobenen Funktion eines hauptamtlichen Kaders über etwa eineinhalb Jahre hinweg mit einer Vielzahl gewichtiger Beteiligungshandlungen. Zum anderen können die ausgeschiedenen Teile der Tat weiterhin bedeutsam für die Strafzumessung und damit die (Netto-)Straferwartung des Angeschuldigten sein. Der gemäß § 112 Abs. 1 Satz 1 StPO erforderliche Verdachtsgrad liegt auch für die nicht mehr verfolgten Beteiligungsakte vor. Das ergibt sich unter anderem aus dem Vermerk des Bayerischen Landeskriminalamts vom 16. August 2023 und der Abschlussverfügung der Generalstaatsanwaltschaft. Damit können die nach § 154a Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 StPO von der Verfolgung ausgenommenen Tatteile grundsätzlich strafschärfende Berücksichtigung finden (st. Rspr.; s. etwa BGH, Beschlüsse vom 5. Juli 1990 - 1 StR 329/90, juris; vom 29. Juni 2010 - 1 StR 157/10, BGHR StPO § 154 Abs. 2 Hinweis 1; Urteil vom 24. März 2022 - 3 StR 375/20, juris Rn. 73 f.).

Diesem hohen Fluchtanreiz stehen keine hinreichen fluchthemmenden Umstände entgegen. Wegen der Einzelheiten wird auf den ersten Haftfortdauerbeschluss des Senats verwiesen (AK 49/23, juris Rn. 17 ff.).

3. Die besonderen Voraussetzungen für die Fortdauer der Untersuchungshaft über neun Monate hinaus (§ 121 Abs. 1, § 122 Abs. 4 Satz 2 StPO) liegen vor. Die Schwierigkeit und der Umfang des Verfahrens haben ein Urteil noch immer nicht zugelassen. Wie bereits in der ersten Haftprüfungsentscheidung des Senats ausgeführt, ist besonders die Auswertung zahlreicher elektronischer Speichermedien zeitaufwendig gewesen, deren Inhalt zu großen Teilen eine Übersetzung erfordert hat.

Das Verfahren ist seither weiterhin mit der in Haftsachen gebotenen Zügigkeit geführt worden. Das ergibt sich im Einzelnen aus der Zuschrift der Generalstaatsanwaltschaft vom 27. Oktober 2023 und den Vermerken des Vorsitzenden Richters am Oberlandesgericht vom 16. und 17. Oktober 2023. Aus diesen geht hervor, dass die Hauptverhandlung für den Fall der Eröffnung am 11. Januar 2024 beginnen soll und der Verteidiger des Angeschuldigten zu einem früheren Termin zeitlich nicht verfügbar ist.

4. Der weitere Vollzug der Untersuchungshaft steht nach wie vor nicht außer Verhältnis zu der Bedeutung der Sache und der im Fall einer Verurteilung zu erwartenden Strafe (§ 120 Abs. 1 Satz 1 StPO).

HRRS-Nummer: HRRS 2024 Nr. 35

Bearbeiter: Fabian Afshar