HRRS-Nummer: HRRS 2023 Nr. 1172
Bearbeiter: Fabian Afshar/Karsten Gaede
Zitiervorschlag: BGH, AK 53/23, Beschluss v. 23.08.2023, HRRS 2023 Nr. 1172
Die Untersuchungshaft hat fortzudauern.
Eine etwa erforderliche weitere Haftprüfung durch den Bundesgerichtshof findet in drei Monaten statt.
Bis zu diesem Zeitpunkt wird die Haftprüfung dem Oberlandesgericht Stuttgart übertragen.
Der Angeklagte ist am 9. Februar 2023 aufgrund Haftbefehls des Ermittlungsrichters des Oberlandesgerichts Stuttgart vom 6. Februar 2023 (OGs 10/23) festgenommen worden. Seither wird gegen ihn ununterbrochen Untersuchungshaft vollzogen.
Gegenstand des Haftbefehls ist der Vorwurf, der Angeklagte habe sich seit Januar 2014 vornehmlich im Gebiet M., aber auch an anderen Orten in der Bundesrepublik Deutschland und im Ausland als Mitglied an einer Vereinigung im Ausland (Devrimci Halk Kurtulus Partisi-Cephesi - DHKPC) beteiligt, deren Zwecke oder Tätigkeit darauf gerichtet gewesen seien, Mord (§ 211 StGB) oder Totschlag (§ 212 StGB) zu begehen, strafbar gemäß § 129a Abs. 1 Nr. 1, § 129b Abs. 1 Satz 1 und 2 StGB.
Nach mündlicher Haftprüfung hat der Ermittlungsrichter am 28. April 2023 die Fortdauer der Untersuchungshaft angeordnet.
Die Generalstaatsanwaltschaft Stuttgart hat am 14. Juni 2023 Anklage zum Oberlandesgericht erhoben. Mit Beschluss vom 31. Juli 2023 hat der mit der Sache befasste Strafsenat unter Anordnung der Haftfortdauer das Hauptverfahren eröffnet.
Die Voraussetzungen für die Anordnung der Untersuchungshaft und ihre Fortdauer über sechs Monate hinaus liegen vor.
1. Der Angeklagte ist der ihm angelasteten Tat dringend verdächtig.
a) Nach dem bisherigen Ermittlungsstand ist im Sinne eines dringenden Tatverdachts von folgendem Sachverhalt auszugehen:
aa) Die hierarchisch und zentralistisch aufgebaute Gruppierung DHKPC verfolgt das Ziel, durch „bewaffneten Kampf“ einen Umsturz der politischen Verhältnisse in der Türkei herbeizuführen und dort eine marxistisch-leninistisch ausgerichtete Gesellschaftsordnung unter ihrer Kontrolle zu schaffen. Sie verübte seit dem Jahr 1994 zahlreiche Brand- und Sprengstoffanschläge, die insbesondere gegen Repräsentanten des türkischen Staates, Angehörige türkischer Justizbehörden und der türkischen Armee, aber auch gegen angebliche „Verräter“ sowie - getreu ihrer Zielsetzung, den „US-Imperialismus“ bekämpfen zu wollen - gegen die amerikanische Botschaft gerichtet waren.
Die DHKPC ist außerhalb der Türkei ebenfalls aktiv, vor allem in Westeuropa. Hier bestehen in erster Linie ihrer Europaführung untergeordnete, nach Ländern, Regionen und Gebieten strukturierte Organisationseinheiten, die von Parteifunktionären oder -komitees geleitet werden. Dabei ist Deutschland in drei Regionen eingeteilt. Die Aufgabe der innerhalb dieser „Rückfront“ aktiven Kaderpersonen ist es insbesondere, finanzielle Mittel zu beschaffen und auf diese Weise die terroristischen Anschläge in der Türkei zu unterstützen. Daneben obliegt es ihnen, in Europa Kämpfer zu rekrutieren, für deren Ausstattung zu sorgen und einen Rückzugsraum für Mitglieder der Gruppierung zu schaffen. Zudem sind sie für den Nachrichtenaustausch zwischen der von Westeuropa aus agierenden DHKPC-Führung und den Einheiten in der Türkei zuständig. Bei alledem bedienen sie sich einer äußerst konspirativen Arbeitsweise und bewegen sich in einem klandestinen Netzwerk aus Organisationsmitgliedern und -unterstützern.
bb) Der Angeklagte betätigte sich von Januar 2014 bis zu seiner Festnahme am 9. Februar 2023 als Mitglied des Komitees der DHKPC für das Gebiet M. Im Herbst 2019 übernahm er in dem Gremium die führende Funktion. In Kenntnis der Ziele, Programmatik und Methoden der Organisation sowie unter Einordnung in deren hierarchische Strukturen übte er für einen Kader dieser Hierarchieebene typische Aktivitäten aus. Im Einzelnen:
Der Angeklagte war jedenfalls ab Herbst 2019 faktischer Vorsitzender der „Volksfront M.“ („M. Halk Cephesi“), einem informellen Zusammenschluss von Anhängern und Sympathisanten der DHKPC. Im Mai 2022 wurde unter seiner Mitwirkung das „H.“ („ “) in M. als örtlicher Stützpunkt der „Rückfront“ der Vereinigung eröffnet. Er fungierte als Leiter dieser Einrichtung, organisierte die dortigen Veranstaltungen und kümmerte sich um die Mietzahlungen für das Objekt.
Der Angeklagte hielt im Tatzeitraum Kontakt zu anderen Funktionären; gegenüber übergeordneten Kadern war er berichtspflichtig. Zudem beteiligte er sich an 148 Versammlungen und anderen Veranstaltungen in Deutschland, die DHKPC-Bezug hatten; vielfach war er nicht nur einfacher Teilnehmer, sondern Versammlungsleiter bzw. Veranstalter, Anmelder und/oder Redner. Darüber hinaus war er mit der Beschaffung von sog. Gefangenengeldern und deren Weiterleitung befasst, überwiegend über einen ausländischen Finanztransferdienstleister in die Türkei. Insgesamt übertrug er Geldbeträge in Höhe von 8.200 €, die im Zusammenhang mit der Betreuung von inhaftierten Angehörigen der DHKPC standen. Des Weiteren nahm er an Schulungen teil. So besuchte er vielfach das jährlich stattfindende zweiwöchige Sommercamp der Vereinigung in Frankreich, das der Indoktrinierung und Rekrutierung von Mitgliedern sowie der Festigung des inneren Zusammenhalts der Organisation dient. Dabei wurde er selbst als Kader geschult, führte aber auch - mindestens - einmal selbst Schulungen durch. Ferner war er in den Vertrieb zweier DHKPC-Zeitschriften eingebunden. Schließlich beteiligte er sich daran, Nachwuchs für die Organisation zu rekrutieren. Beispielsweise förderte er ein zu diesem Zweck von der Jugendorganisation im Winter 2022/23 durchgeführtes zehntägiges Camp in Belgien.
cc) Wegen weiterer Einzelheiten wird auf den Haftbefehl und die Anklageschrift verwiesen.
b) Der dringende Verdacht ergibt sich hinsichtlich der DHKPC als ausländischer terroristischer Vereinigung aus den Strukturermittlungen, die in den „Strukturakten“ zusammengetragen sind; überdies trafen in den zurückliegenden Jahren Oberlandesgerichte wiederholt Feststellungen zur Geschichte, Organisation und Betätigung der DHKPC in der Türkei sowie in Europa als Grundlage rechtskräftiger Verurteilungen wegen Straftaten gemäß §§ 129a, 129b StGB.
Der Angeklagte hat sich bislang nur zu seinen persönlichen Verhältnissen eingelassen. Hinsichtlich seiner mitgliedschaftlichen Beteiligung an der DHKPC beruht der dringende Tatverdacht auf den Ergebnissen der Ermittlungen der Kriminalpolizeidirektion He. Sie sind im Wesentlichen gewonnen worden durch die Telekommunikationsüberwachung des Mobiltelefonanschlusses des Angeklagten, gegen ihn gerichtete Observationsmaßnahmen, Nachforschungen bei Finanztransferdienstleistern, Recherchen in öffentlich zugänglichen Quellen des Internets, Erhebungen bei Versammlungsbehörden sowie die Auswertung von bei Durchsuchungsmaßnahmen sichergestellten Dokumenten und Datenspeichern. Sie werden gestützt durch die Ermittlungsergebnisse des Bundeskriminalamts, die in dem abgeschlossenen Verfahren des Generalbundesanwalts gegen den Europaverantwortlichen der DHKPC, den rechtskräftig verurteilten A., erzielt worden waren sowie durch gerichtsverwertbare Erkenntnisse des Bundesamts für Verfassungsschutz und des Landesamts für Verfassungsschutz Baden-Württemberg.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf das in der Anklageschrift dargelegte wesentliche Ergebnis der Ermittlungen und den Haftfortdauerbeschluss des Ermittlungsrichters Bezug genommen.
c) In rechtlicher Hinsicht ist der Angeklagte auf der Grundlage des ihm mit dem Verdachtsgrad des § 112 Abs. 1 Satz 1 StPO anzulastenden Sachverhalts der mitgliedschaftlichen Beteiligung an einer terroristischen Vereinigung im Ausland nach § 129a Abs. 1 Nr. 1, § 129b Abs. 1 StGB dringend verdächtig. Die DHKPC stellt nach dem bisherigen Ermittlungsergebnis insgesamt eine Vereinigung in diesem Sinne dar (vgl. BGH, Beschluss vom 28. September 2010 - 3 StR 214/10, BGHR StGB § 129b Vereinigung 1).
Die nach § 129b Abs. 1 Satz 3 StGB erforderliche Verfolgungsermächtigung liegt vor. Das Bundesministerium der Justiz hat mit Schreiben vom 24. Januar 2011 die Ermächtigung zur strafrechtlichen Verfolgung bereits begangener oder künftiger Taten von Mitgliedern der ausländischen terroristischen Vereinigung DHKPC erteilt, wenn die Tat durch eine im räumlichen Geltungsbereich des Strafgesetzbuches ausgeübte Tätigkeit begangen wird (vgl. dazu BGH, Beschluss vom 23. Januar 2014 - AK 25/13, juris Rn. 13). Das Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz hat diese Ermächtigung am 3. Juli 2015 dahin neu gefasst, dass sie keine Beschränkung mehr auf im Inland ausgeführte Taten enthält. Somit erstreckt sie sich auf die vom Angeklagten in Frankreich und Belgien vorgenommenen Beteiligungshandlungen.
Für die Haftfrage kommt es nicht darauf an, ob die vom Angeklagten über einen ausländischen Finanztransferdienstleister in die Türkei getätigten Überweisungen als Zuwiderhandlungen gegen ein außenwirtschaftsrechtliches Bereitstellungsverbot der Europäischen Union gemäß § 18 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a AWG i.V.m. Art. 2 Abs. 1 Buchst. b, Abs. 3 VO (EG) Nr. 2580/2001 vom 27. Dezember 2001 sowie den jeweils gültigen unionsrechtlichen Durchführungsverordnungen (s. MüKoStGB/Wagner, 4. Aufl., Vor § 17 AWG Rn. 28) - seit Art. 1 DVO (EU) Nr. 714/2013 vom 25. Juli 2013 und Punkt 2.23 der dort als Anlage angefügten Liste - zu werten sind (vgl. EuGH, Urteil vom 29. Juni 2010 - C-550/09, Slg. 2010, I-6213 Rn. 25, 41 f., 63 ff.; BGH, Urteil vom 29. Juli 2021 - 3 StR 156/20, NStZ 2022, 423 Rn. 20).
2. Es liegen die Haftgründe der Fluchtgefahr nach § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO und der Schwerkriminalität nach § 112 Abs. 3 StPO vor.
a) Bei Würdigung der Umstände bestünde, falls der Angeklagte auf freien Fuß gelangte, die Gefahr, dass er sich dem Strafverfahren entzieht.
Im Fall seiner Verurteilung hat er mit Blick auf seine mehr als neun Jahre währende Kadertätigkeit eine empfindliche, einen hohen Fluchtanreiz begründende Strafe zu erwarten. Dem stehen keine hinreichenden fluchthindernden Faktoren gegenüber. Zwar ist er nicht vorbestraft und hat eine Ehefrau mit drei gemeinsamen minderjährigen Kindern. Jedoch handelt es sich bei seiner Ehefrau nach den Ermittlungsergebnissen zumindest um eine DHKPC-Sympathisantin mit Kontakten in höhere Hierarchieebenen. Seinen ältesten Sohn hat er an die Vereinigung herangeführt; dies wird durch dessen Teilnahme an dem von deren Jugendorganisation in Belgien durchgeführten Camp im Winter 2022/23 belegt. Nach den von den Strafverfolgungsbehörden gewonnenen Erkenntnissen stellt die DHKPC eine Vereinigung dar, die auf strikt konspiratives Verhalten ausgerichtet ist, zu dem die Schleusung von Kaderpersonen und Kämpfern, die Ausstattung von Funktionären und Mitgliedern mit missbräuchlich genutzten oder falschen Ausweispapieren sowie die Unterbringung von im Untergrund agierenden Aktivisten in konspirativen Wohnungen zählt. Es ist anzunehmen, dass der Angeklagte und seine Ehefrau mit großer Wahrscheinlichkeit über geeignete Kontakte und Anlaufstellen verfügen, die ihm im Fall einer Flucht hilfreich sein würden (vgl. zum für die Annahme der Fluchtgefahr maßgebenden Verdachtsgrad BGH, Beschluss vom 2. November 2016 - StB 35/16, juris Rn. 11).
Ergänzend wird auf den Haftbefehl sowie den Haftfortdauerbeschluss des Ermittlungsrichters verwiesen.
b) Außerdem kann die gegen den Angeklagten vollzogene Untersuchungshaft auch bei der gebotenen restriktiven Auslegung des § 112 Abs. 3 StPO auf den dort geregelten Haftgrund der Schwerkriminalität gestützt werden. Denn die zu würdigenden Umstände begründen erst recht die Gefahr, dass die Ahndung der jeweiligen Tat ohne seine weitere Inhaftierung vereitelt werden könnte (vgl. BGH, Beschluss vom 20. April 2022 - StB 15/22, juris Rn. 11 f.; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 66. Aufl., § 112 Rn. 37, jeweils mwN).
3. Eine - bei verfassungskonformer Auslegung auch im Rahmen des § 112 Abs. 3 StPO mögliche - Außervollzugsetzung des Haftbefehls (§ 116 StPO analog) ist nicht erfolgversprechend. Unter den gegebenen Umständen kann der Zweck der Untersuchungshaft nicht durch weniger einschneidende Maßnahmen als ihren Vollzug erreicht werden.
4. Die Voraussetzungen des § 121 Abs. 1 StPO für die Fortdauer der Untersuchungshaft über sechs Monate hinaus liegen vor. Der besondere Umfang und die besondere Schwierigkeit der Ermittlungen haben ein Urteil noch nicht zugelassen und rechtfertigen die weitere Vollstreckung des Haftbefehls. Die Ermittlungen sind bislang mit der in Haftsachen gebotenen Zügigkeit geführt worden:
Unmittelbar nach der Festnahme des Angeklagten am 9. Februar 2023 sind Durchsuchungsmaßnahmen gegen ihn vollzogen worden. Die Kriminalpolizeidirektion He. hat unverzüglich mit der Auswertung der dabei sichergestellten schriftlichen Unterlagen und Augenscheinobjekte begonnen. Da zahlreiche Dokumente in türkischer Sprache verfasst sind, ist es immer wieder erforderlich gewesen, zur Erfassung des Inhalts Dolmetscher hinzuziehen oder Übersetzungsprogramme zu verwenden. Gleichzeitig hat die IT-forensische Abteilung der Kriminaldirektion die auf ebenfalls sichergestellten elektronischen Speichermedien abgelegten Daten ausgelesen und aufbereitet. Auf dem Mobiltelefon des Angeklagten sind 1.751 Chats, 339 E-Mails, 9.464 Kontakte sowie 10.537 Audio-, 138.899 Bild- und 5.725 Videodateien festgestellt worden. Diese Inhalte sind bis zum 17. Mai 2023 ausgewertet worden.
Nach der Erhebung der Anklage und der Eröffnung des Hauptverfahrens ist nunmehr der Beginn der Hauptverhandlung für den 19. September 2023 mit 33 Fortsetzungsterminen bis zum 30. Januar 2024 vorgesehen.
Wegen näherer Einzelheiten wird auf die Vorlageschriften des Vorsitzenden des Oberlandesgerichtssenats vom 31. Juli 2023 sowie der Generalstaatsanwaltschaft vom 1. August 2023 Bezug genommen.
5. Der weitere Vollzug der Untersuchungshaft steht derzeit nicht außer Verhältnis zur Bedeutung der Sache und der im Fall einer Verurteilung zu erwartenden Strafe (§ 120 Abs. 1 Satz 1 StPO).
HRRS-Nummer: HRRS 2023 Nr. 1172
Bearbeiter: Fabian Afshar/Karsten Gaede