HRRS-Nummer: HRRS 2024 Nr. 255
Bearbeiter: Julia Heß/Karsten Gaede
Zitiervorschlag: BGH, 2 StR 59/23, Beschluss v. 23.11.2023, HRRS 2024 Nr. 255
1. Auf die Revisionen der Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Aachen vom 5. August 2022 mit den Feststellungen aufgehoben, soweit sie im Fall 3 der Anklageschrift (Ziff. II.4. der Urteilsgründe) verurteilt wurden, sowie im jeweiligen Strafausspruch.
2. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Rechtsmittel, an eine andere Jugendkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
3. Die weitergehenden Revisionen der Angeklagten werden verworfen.
Das Landgericht hat den Angeklagten L. Q. wegen versuchten Mordes in Tateinheit mit Raub, versuchtem Raub mit Todesfolge und mit gefährlicher Körperverletzung (Fall 5), versuchten Totschlags in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung (Fall 3), Raubes in Tateinheit mit vorsätzlicher Körperverletzung (Fall 4), gefährlicher Körperverletzung (Fall 7) und Bedrohung (Fall 2) zu einer Jugendstrafe von sechs Jahren und sechs Monaten verurteilt. Den Angeklagten Y. Q. hat es wegen versuchten Totschlags in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung (Fall 3), Raubes in Tateinheit mit vorsätzlicher Körperverletzung (Fall 8), versuchten Raubes in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung (Fall 10), versuchter schwerer räuberischer Erpressung (Fall 1), gefährlicher Körperverletzung (Fall 7) und Diebstahls (Fall 9) zu einer Jugendstrafe von sechs Jahren verurteilt. Gegen dieses Urteil richten sich die Revisionen der Angeklagten jeweils mit der Sachrüge. Die Rechtsmittel führen zur Aufhebung des Urteils im Fall 3 der Anklage (Ziff. ll.4. der Urteilsgründe) und in den Strafaussprüchen. Im Übrigen sind die Rechtsmittel unbegründet im Sinne von § 349 Abs. 2 StPO.
Das Landgericht hat, soweit es Fall 3 der Anklageschrift betrifft, folgende Feststellungen und Wertungen getroffen:
1. Am 31. Oktober 2021 hielten sich die Angeklagten in der Innenstadt von A. auf. Sie passierten eine Personengruppe um den Nebenkläger M., zu der auch die Zeugen Mi., D., Ö., G., E. und S. gehörten. Die Zeugin D. und der Zeuge Mi. sahen auf dem Handy ein Video. Gerade als die Angeklagten vorbeigingen, bezeichnete die Zeugin D. eine Person aus dem Videofilm als „der Nuttenbengel“. Y. Q. bezog diese Bemerkung auf sich. Zusammen mit seinem Bruder L. Q. ging er auf die Zeugin D. zu und fragte: „Was hast du gesagt?“ Der Nebenkläger erkannte eine Drohhaltung, stellte sich schützend vor die Zeugin und sagte zu den beiden Angeklagten, sie seien nicht gemeint gewesen. Er forderte sie auf weiterzugehen. Y. Q. stellte sich Kopf an Kopf dem Nebenkläger gegenüber und fragte diesen mehrmals: „Willst du sterben?“ L. Q. zog ein Mobiltelefon hervor und deutete an, er werde „Verstärkung“ anfordern. Nachdem der Nebenkläger sich kurz zu dem Zeugen Mi. umgedreht und sich wieder dem Angeklagten Y. Q. zugewandt hatte, versetzte dieser ihm unvermittelt einen Schlag mit der Faust ins Gesicht. Der Nebenkläger wehrte sich, sodass ein Kampf entstand, in den sich der Angeklagte L. Q. einschaltete. Dieser nahm den Nebenkläger in den „Schwitzkasten“. Die Angeklagten wollten dann den Nebenkläger gemeinsam misshandeln. L. Q. hielt ihn in einem Würgegriff und Y. Q. trat ihn in die Seite. Der Nebenkläger rief um Hilfe, worauf der Zeuge Ö. hinzukam, L. Q. vom Nebenkläger wegzog und Y. Q. zurückhielt. Kurzzeitig standen sich der Nebenkläger und Ö. einerseits sowie die beiden Angeklagten andererseits gegenüber. Einer der Angeklagten drohte mit dem Einsatz eines Messers. Der Nebenkläger und Ö. nahmen diese Drohung ernst und entfernten sich.
Die Angeklagten betrachteten den Konflikt damit aber nicht als beendet. Sie wollten ihn fortsetzen und den Nebenkläger abstrafen, wozu sie sich mit herumliegenden leeren Flaschen bewaffneten. „Hierbei nahmen sie jedenfalls billigend in Kauf, dem Nebenkläger durch derartige Einwirkungen auch tödliche Verletzungen zuzufügen.“ Y. Q. nahm eine Bierflasche und folgte dem Nebenkläger. L. Q. ergriff auch eine Flasche, die er zerschlug und folgte seinem Bruder. Der Zeuge Ö. erkannte dies und rief dem Nebenkläger zu: „Pass auf!“ Der Nebenkläger drehte sich zu Y. Q. um, der ihn erneut fragte: „Willst du sterben?“ Dann schlug Y. Q. dem Nebenkläger mit der Glasflasche in den linken Gesichts- und Halsbereich. Der Nebenkläger, der auf der linken Seite keinen Unterarm hat, konnte den Schlag nicht abwehren. Die Flasche traf ihn so wuchtig im Gesicht, dass sie zerbrach. Darauf begann der Nebenkläger, um sich zu schlagen. L. Q. näherte sich und nahm eine Kampfhaltung ein. Der Zeuge Ö. erkannte, dass sein Freund erheblich verletzt war, und stellte sich schützend zwischen diesen und die Angeklagten. Durch wildes Gestikulieren und Geschrei, möglicherweise auch durch einen Schlag ins Gesicht von L. Q., gelang es dem Zeugen Ö., die Angeklagten in Schach zu halten. Diese erkannten die stark blutende Wunde des Nebenklägers und gingen davon aus, ihn so verletzt zu haben, „dass die Möglichkeit des Todeseintritts bestand. Gleichwohl entschieden sie sich zur Flucht.“ 2. Das Landgericht hat die Tat als versuchten Totschlag in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung bewertet. Es hat ein Handeln des Angeklagten Y. Q. mit bedingtem Tötungsvorsatz angenommen. Dieses hat es auch dem Angeklagten L. Q. als Mittäter zugerechnet.
1. Die Revisionen sind begründet, soweit das Landgericht die Angeklagten im Fall 3 der Anklage auch wegen versuchten Totschlags verurteilt hat.
a) Die Jugendkammer ist zunächst vom richtigen rechtlichen Ansatz zur Feststellung von bedingtem Tötungsvorsatz ausgegangen. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ist bedingter Tötungsvorsatz gegeben, wenn der Täter den Tod des Tatopfers als mögliche, nicht ganz fernliegende Folge seines Handelns erkennt und diese mögliche Folge seiner Handlung billigt oder sich um des erstrebten Zieles willen mit dem Eintritt des Todes abfindet, mag ihm der Erfolgseintritt auch gleichgültig oder an sich unerwünscht sein (vgl. BGH, Urteil vom 1. März 2018 ‒ 4 StR 399/17, BGHSt 63, 88, 93 mwN). Ob der Täter in diesem Sinne bedingt vorsätzlich gehandelt hat, ist in Bezug auf beide Elemente des Wissens und Wollens im Rahmen der Beweiswürdigung umfassend zu prüfen und durch tatsächliche Feststellungen zu belegen. Dabei ist die objektive Gefährlichkeit der Tathandlung in beiderlei Hinsicht ein wesentlicher Indikator für das Vorliegen von bedingtem Vorsatz (vgl. auch Senat, Beschluss vom 26. April 2016 ‒ 2 StR 484/14, NStZ 2017, 22, 23), allerdings nicht das allein bestimmende Kriterium. Die Frage der Gefährlichkeit der Handlung und ihrer Aussagekraft für das Vorliegen eines bedingten Vorsatzes des Handelnden kann auch nicht allgemein, sondern nur nach den Besonderheiten des Einzelfalles beurteilt werden (vgl. BGH, Beschluss vom 7. März 2006 ‒ 4 StR 25/06, NStZ 2006, 446).
b) Bei äußerst gefährlichen Gewalthandlungen liegt es nahe, dass der Täter mit der Möglichkeit rechnet, das Opfer könne zu Tode kommen und er einen solchen Erfolg auch billigend in Kauf nimmt (BGH, Urteil vom 22. März 2012 ‒ 4 StR 558/11, BGHSt 57, 183, 186). Die Beweiswürdigung des Landgerichts zur Einschätzung des Grades der Gefährlichkeit der Tathandlung ist hier allerdings rechtsfehlerhaft.
aa) Die Jugendkammer geht von einem Handeln des Angeklagten Y. Q. mit bedingtem Tötungsvorsatz aus. Das Zerbrechen der Flasche habe äußerst nahegelegen. Dann habe es auch aus der Sicht des Täters zum Verbluten des Opfers infolge einer Schnittverletzung kommen können. Ob bei der Zufügung des Schlages mit einer Flasche „in den linken Gesichts- bzw. Halsbereich“ lebensgefährliche Verletzungen entstehen oder ausbleiben, sei nur vom Zufall abhängig, namentlich davon, ob Glassplitter zu einer Eröffnung der im Gesichts- und Halsbereich verlaufenden großen Venen führen. Die Möglichkeit einer tödlichen Wirkung einer solchen Verletzung sei auch für einen medizinischen Laien offensichtlich. Es komme nicht darauf an, ob der Angeklagte Y. Q. „gezielt in den Halsbereich oder aber in den Gesichtsbereich stechen/schlagen wollte.“
bb) Diese Erwägungen sind lückenhaft.
(1) Sie gehen ohne ausreichenden Beleg davon aus, dass das Zerbrechen der Bierflasche infolge des Schlagens derart nahegelegen habe, dass auch der Angeklagte Y. Q. die Möglichkeit des Zerbrechens der Flasche mit der Folge einer Verursachung lebensgefährlicher Stich- oder Schnittverletzungen erkannt und gebilligt habe. Die Wahrscheinlichkeit des Zerbrechens einer leeren Bierflasche durch einen Schlag in den Bereich von Gesicht oder Hals ist aber nicht selbstverständlich. Sie hängt von der Schlagtechnik, der bei dem Schlag eingesetzten Kraft und der Art der Kontaktfläche der getroffenen Körperregion sowie dem Auftreffwinkel ab (vgl. Nentwig/Schütz/Steinhoff/Adamec/Kunz, Forensisch-biomechanische Aspekte von gebrauchten, leeren 0,5-lBierflaschen aus Glas als Schlagwaffe gegen den Schädel, Rechtsmedizin 6/2021, S. 494 ff.). Das Landgericht hat insoweit keine näheren Feststellungen getroffen, und lediglich von dem festgestellten Ergebnis auf den Vorsatz des Angeklagten geschlossen. Das greift zu kurz. Es war für das Vorstellungsbild vom Zerbrechen der Flasche entgegen der Urteilsbegründung auch nicht ohne weiteres unerheblich, ob der Angeklagte Y. Q. dem Nebenkläger in das Gesicht mit dessen knöcherner Struktur oder an den Hals schlagen wollte.
(2) Die Urteilsgründe, die im Übrigen auch von einem „Gleichlauf der Bewaffnung“ beider Angeklagter ausgehen, obwohl nur der Angeklagte L. Q. eine bereits als Stichwerkzeug zerbrochene Bierflasche mitgeführt hat, lassen besorgen, dass das Landgericht im Sinne eines Rückschaufehlers (vgl. Senat, Beschluss vom 1. September 2016 ‒ 2 StR 19/16, BeckRS 2016, 19984, Rn. 24) von dem tatsächlich eingetretenen Zersplittern der Flasche darauf geschlossen hat, dies habe von vornherein äußerst nahegelegen und sei deshalb vom Angeklagten Y. Q. als möglich erkannt und gebilligt worden.
c) Rechtsfehlerhaft ist, von der Folge der Lückenhaftigkeit der Vorsatzfeststellung bei dem Angeklagten Y. Q. abgesehen, auch die Prüfungsweise hinsichtlich der Zurechnung des vom Landgericht angenommenen versuchten Totschlags auf den Angeklagten L. Q. .
aa) Mittäterschaft im Sinne des § 25 Abs. 2 StGB setzt einen gemeinsamen Tatentschluss voraus, auf dessen Grundlage jeder Mittäter einen objektiven Tatbeitrag leisten muss. Der gemeinsame Tatplan muss nicht ausdrücklich entwickelt worden sein, vielmehr genügt im Einzelfall eine konkludente Übereinkunft. Diese kann auch noch während einer arbeitsteiligen Tatausführung getroffen werden. Bezugspunkt des Tatplans gemäß § 25 Abs. 2 StGB ist jedoch stets die Straftat. Ein mittäterschaftlich begangenes Tötungsdelikt setzt voraus, dass der gemeinsame Tatentschluss auf die Tötung eines Menschen durch arbeitsteiliges Zusammenwirken gerichtet ist. Es reicht nicht aus, dass sich die Täter lediglich zu einem gemeinsamen Unternehmen entschließen, durch das ein Mensch (hier beim Versuch: beinahe) zu Tode kommt (vgl. BGH, Urteil vom 1. März 2018 ‒ 4 StR 399/17, BGHSt 63, 88, 97, und vom 18. Juni 2020 ‒ 4 StR 482/19, BGHSt 65, 42, 47).
bb) Nach diesem Maßstab ist die Annahme, dem Angeklagten L. Q. sei die Tat seines Bruders auch als versuchter Totschlag zuzurechnen, rechtlich zu beanstanden.
(1) Das Landgericht hat zuerst einen „Vorsatz beider Angeklagter bezüglich einer mittäterschaftlichen Begehungsweise“ ohne Bezugnahme auf einen bestimmten Straftatbestand erörtert und erst danach in einem getrennten Abschnitt den „Tötungsvorsatz der Angeklagten in Bezug auf den Nebenkläger“ geprüft. Bei letzterem hat es nach der Erläuterung eines bedingten Tötungsvorsatzes des Angeklagten Y. Q. angemerkt: „Gleiches gilt für den Angeklagten L. Q. .“ (2) Das reicht nicht aus. Der von der Jugendkammer zuerst ohne konkreten Blick auf einen Totschlag erörterte gemeinsame Tatentschluss war auf eine körperliche Züchtigung des Nebenklägers gerichtet, nicht ohne weiteres von vornherein auf dessen Tötung. Auch das Tatinteresse des Angeklagten L. Q. war nicht ohne weiteres mit demjenigen seines Bruders identisch; denn nur Y. Q. hatte sich durch die Bemerkung der Zeugin D. selbst beleidigt gefühlt und deshalb nach Rache gegenüber dem Nebenkläger getrachtet, der als Beschützer der Zeugin aufgetreten war. Auch die nach der Tat erfolgte Bemerkung des Angeklagten L. Q. in einem Telefonat mit Y. Q. : „Ey Bruder, der Hals ist komplett offen, lass uns im Stadtpark treffen“, hätte Anlass zu einer differenzierenden Beweiswürdigung geboten. Daran fehlt es jedoch.
d) Der Senat kann nicht ausschließen, dass die Verurteilung wegen versuchten Totschlags auf den genannten Rechtsfehlern beruht. Er ist andererseits an einer eigenen Sachentscheidung im Sinne von § 354 Abs. 1 StPO gehindert, weil das neue Tatgericht möglicherweise mit einer anderen Begründung erneut zu einer Verurteilung der Angeklagten auch wegen versuchten Totschlags gelangen kann. Mit der Frage, ob etwa von bedingtem Tötungsvorsatz des Angeklagten Y. Q. selbst dann auszugehen sein mag, wenn dieser nur auf Ausübung stumpfer Gewalt gegen das Gesicht oder gegen den Hals des Nebenklägers gerichtet gewesen sein mochte, hat sich die Jugendkammer nicht befasst.
e) Der Rechtsfehler bei der Verurteilung wegen versuchten Totschlags führt zur Aufhebung des Urteils im Fall 3 der Anklage zugunsten beider Angeklagten, dies auch, soweit das Landgericht ‒ für sich genommen rechtsfehlerfrei ‒ von tateinheitlich begangener gefährlicher Körperverletzung ausgegangen ist. Das neue Tatgericht wird zudem die im angefochtenen Urteil nicht erläuterte Wertung, dass die Körperverletzungshandlungen in den verschiedenen Handlungsabschnitten im Fall 3 der Anklage eine Handlungseinheit bilden (zur Rechtsfigur vgl. BGH, Beschluss vom 10. Juli 2017 ‒ GSSt 4/17, BGHSt 63, 1, 6), nochmals in den Blick zu nehmen haben.
f) Der Senat hebt die im Fall 3 der Anklage der Verurteilung zugrunde liegenden Feststellungen ebenfalls auf, weil sie von den genannten Rechtsfehlern mitbetroffen sind (§ 353 Abs. 2 StPO).
g) Die Aufhebung im Schuldspruch zu Fall 3 der Anklage zwingt auch zur Aufhebung der Einheitsjugendstrafe.
HRRS-Nummer: HRRS 2024 Nr. 255
Bearbeiter: Julia Heß/Karsten Gaede