HRRS-Nummer: HRRS 2024 Nr. 555
Bearbeiter: Julia Heß/Karsten Gaede
Zitiervorschlag: BGH, 2 StR 404/23, Urteil v. 15.02.2024, HRRS 2024 Nr. 555
1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Frankfurt am Main vom 23. März 2023 mit den Feststellungen aufgehoben
a) in den Fällen 63 bis 69 der Urteilsgründe,
b) im Ausspruch über
aa) die Gesamtstrafe,
bb) die Anordnung der Sicherungsverwahrung, jedoch bleiben die Feststellungen zu den persönlichen Verhältnissen des Angeklagten sowie betreffend die Geschädigten zu den unter den Ziffern II.1., II.4. und II.5. der Urteilsgründe dargestellten Geschehnissen aufrechterhalten,
cc) die Einziehung des sichergestellten iPhone 12 mini und iPhone 5s.
Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels und die den Nebenklägern im Revisionsverfahren entstandenen notwendigen Auslagen, an eine andere als Jugendschutzkammer zuständige Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
2. Die weitergehende Revision wird verworfen.
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen schwerer Vergewaltigung in vier Fällen jeweils in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung (Fälle 64, 66, 67, 68 der Urteilsgründe), in drei Fällen jeweils in Tateinheit mit Herstellung jugendpornographischer Inhalte (Fälle 64, 66 und 67 der Urteilsgründe) sowie in einem Fall in Tateinheit mit schwerem sexuellen Missbrauch von Kindern und der Herstellung kinderpornographischer Inhalte (Fall 68 der Urteilsgründe); der Vergewaltigung in 60 Fällen (Fälle 3 bis 58, 61, 62, 65 und 69 der Urteilsgründe), davon in einem Fall in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch von Schutzbefohlenen (Fall 5 der Urteilsgründe), in zwölf Fällen jeweils in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch von Jugendlichen (Fälle 9 bis 18, 61 und 62 der Urteilsgründe), in zwei Fällen in Tateinheit mit der Herstellung jugendpornographischer Inhalte (Fälle 65 und 69 der Urteilsgründe); des sexuellen Missbrauchs von Jugendlichen in zwei Fällen (Fälle 1 und 2 der Urteilsgründe); des sexuellen Übergriffs in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch von Jugendlichen (Fall 60 der Urteilsgründe) sowie der Körperverletzung in zwei Fällen jeweils in Tateinheit mit Nötigung (Fälle 59 und 63 der Urteilsgründe) zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwölf Jahren und neun Monaten verurteilt und die Sicherungsverwahrung des Angeklagten sowie die Einziehung zweier Mobiltelefone angeordnet. Die hiergegen gerichtete Revision des Angeklagten, mit der er die Verletzung formellen und materiellen Rechts rügt, hat im tenorierten Umfang Erfolg. Im Übrigen ist das Rechtsmittel unbegründet.
Der Angeklagte war über viele Jahre als Jugendfußballtrainer tätig und nutzte seine Funktion, um - entsprechend seiner sexuellen Präferenz im Sinne einer Hebephilie (ICD-10, F65.4) - Kontakt zu männlichen Jugendlichen bzw. Kindern, deren Alter ihm jeweils bekannt war, aufzunehmen. Er lud diese zu sich nach Hause ein, wo er sie Alkohol und später auch Cannabis konsumieren ließ. Da sexuelle Kontakte von den in der Regel 13 bis 16 Jahre alten heterosexuell orientierten männlichen Jugendlichen bis auf eine Ausnahme (Fall 69 der Urteilsgründe) mit dem Angeklagten nicht gesucht wurden, legte sich der Angeklagte in verschiedenen sozialen Netzwerken Alias-Personalien zu und kontaktierte die von ihm in den Blick genommenen Jugendlichen über diese. Er verschwieg seine wahre Identität und unterstellte ihnen als „Unbekannter“ in bewusst grammatikalisch und orthografisch fehlerhafter - auf einen der deutschen Sprache nur eingeschränkt mächtigen ausländischen Mitbürger hindeutenden - Schreibweise bzw. Sprache, einen „Fehler“ gemacht zu haben, etwa ein Nacktfoto von einer Schwester oder Cousine gefertigt oder Geschlechtsverkehr mit dieser gehabt zu haben. Seine Forderung untermauerte der Angeklagte durch Drohungen, wie zum Beispiel dem jeweiligen Jugendlichen oder dessen Familie etwas anzutun, wobei er in den Nachrichten regelmäßig verdeutlichte, Details aus dem privaten Umfeld der Jugendlichen zu kennen.
Obwohl die Vorwürfe jeder Grundlage entbehrten, ließen sich die Jugendlichen auf den zunächst virtuellen Kontakt mit der vermeintlich fremden Person ein. Im weiteren Verlauf forderte der Angeklagte als „Unbekannter“ in zahlreichen Fällen, dass die Jugendlichen den „Fehler“ wiedergutmachen müssten, indem sie Alkohol konsumierten und dies durch ein Foto belegten. Sodann empfahl er ihnen unter der Alias-Personalie, sich an ihren Trainer B., mithin ihn selbst unter seinem Klarnamen, zu wenden, damit dieser in der Sache vermittle. Den so eingeschüchterten Jugendlichen sagte er anschließend unter seiner wahren Identität seine Hilfe zu.
Den von den Jugendlichen vorgenommenen Alkoholtest akzeptierte der „unbekannte Bedroher“ unter verschiedenen Vorwänden nicht und stellte schließlich sexuelle Forderungen. Diese reichten von gegenseitiger Masturbation per Hand mit dem Angeklagten bis zu Oral- und Analverkehr an und mit diesem. Die sexuellen Handlungen sollten teilweise „als Beweis“ fotografiert oder gefilmt und an den „unbekannten Bedroher“ gesendet werden. Die Jugendlichen kamen der Forderung nach, um so, wie der Angeklagte wusste, ein vermeintliches Ende der Bedrohung zu erreichen. Diese Bedrohungsszenarien hielt der Angeklagte teilweise über Jahre aufrecht, worunter die Jugendlichen ebenso wie unter den unfreiwilligen sexuellen Handlungen erheblich litten.
Auf dieser Grundlage hat das Landgericht für die Zeit von Oktober 2013 bis 2020 insgesamt 63 Einzeltaten zum Nachteil von vier Geschädigten (Fälle 1 bis 63 der Urteilsgründe) festgestellt.
Spätestens im Herbst 2021 änderte der Angeklagte seine Vorgehensweise. Zwar nahm er weiterhin als „unbekannter Bedroher“ über soziale Netzwerke Kontakt zu den Jugendlichen auf; er veranlasste sie auch nach der vorbeschriebenen Methode, in seiner Wohnung Alkohol zu konsumieren. Darüber hinaus verabreichte er den arglosen Jugendlichen jedoch - überwiegend heimlich - Schlafund Beruhigungsmittel, um diese zu sedieren. Ihre anschließende Bewusstlosigkeit nutzte er, um diese mehrfach anal zu vergewaltigen und den Vorgang mittels seines Mobiltelefons iPhone 5s zu filmen. Das Landgericht hat sechs Taten festgestellt, von denen eine einen 10-jährigen Jungen und die übrigen fünf männliche Jugendliche im Alter von 14 bis 17 Jahren betreffen (Fälle 64 bis 69 der Urteilsgründe).
Das Rechtsmittel des Angeklagten hat mit einer Verfahrensrüge Erfolg. Sie führt zur Aufhebung des Schuldspruchs in den Fällen 63 bis 69 der Urteilsgründe, der Gesamtstrafe, der Anordnung der Sicherungsverwahrung sowie der Einziehungsentscheidung. Auf die diesen Teil der Urteilsgründe betreffenden materiellrechtlichen Einwände der Revision, insbesondere zur Zumessung der Einzelstrafen in diesen Fällen, kommt es danach nicht an. Ihre weitergehende Sachrüge bleibt ohne Erfolg.
1. Die Rüge, der absolute Revisionsgrund des § 338 Nr. 6 StPO sei gegeben, weil in der Hauptverhandlung vom 2. Februar 2023 die Öffentlichkeit nach der Vernehmung eines Geschädigten und vor der wiederholten Vernehmung des rechtsmedizinischen Sachverständigen Prof. Dr. T. nicht wiederhergestellt worden sei, ist begründet.
a) Der Rüge liegt folgendes Verfahrensgeschehen zugrunde:
Das Landgericht hatte am 2. Februar 2023 gemäß § 171b Abs. 1 und 2 GVG beschlossen, die Öffentlichkeit während der Vernehmung eines Geschädigten auszuschließen und diesen nach der Vernehmung in nicht öffentlicher Hauptverhandlung an diesem Tag um 14.45 Uhr unvereidigt entlassen. Anschließend hörte es von 14.45 Uhr bis 15.50 Uhr den sachverständigen Arzt für Rechtsmedizin, Prof. Dr. T., den es bereits am 31. Oktober 2022 in öffentlicher Hauptverhandlung vernommen hatte, neuerlich, ohne zuvor die Öffentlichkeit wiederherzustellen. Im Rahmen der Erstattung seines Gutachtens äußerte sich der Sachverständige zu der möglichen Intoxikation der Geschädigten in den Fällen 63 bis 69 der Urteilsgründe. Bei der Entgegennahme des Gutachtens nahm das Landgericht auch ein Video des Geschädigten im Fall 63 in Augenschein und erörterte dieses mit dem Sachverständigen. Es entließ den Sachverständigen an diesem Tag um 15.45 Uhr unvereidigt. Kurze Zeit später unterbrach die Vorsitzende die Hauptverhandlung. Die Öffentlichkeit war bis zum Ende dieses Sitzungstages nicht wiederhergestellt worden. Eine spätere Wiederholung der neuerlichen Einvernahme des Sachverständigen erfolgte im Rahmen der weiteren Hauptverhandlung nicht.
b) Die unterbliebene Wiederherstellung der Öffentlichkeit nach der Vernehmung eines Geschädigten und vor der Vernehmung des Sachverständigen Prof. Dr. T. sowie der Inaugenscheinnahme des Videos zur Alkoholisierung des Geschädigten im Fall 63 ist durch das Hauptverhandlungsprotokoll bewiesen (vgl. hierzu BGH, Beschlüsse vom 14. Januar 2016 - 4 StR 543/15, StraFo 2016, 112; vom 31. Mai 2017 - 2 StR 428/16, juris Rn. 4). Dies begründet den Verstoß gegen die Vorschriften über die Öffentlichkeit (vgl. BGH, Beschlüsse vom 13. März 1998 - 3 StR 67/98, StV 1998, 364; vom 16. April 1996 - 4 StR 126/96, BGHR StPO § 338 Nr. 6 Ausschluss 4; Meyer-Goßner/Schmitt/Schmitt, StPO, 66. Aufl., § 338 Rn. 48). Das Gericht hat die ihm bekannte Beschränkung der Öffentlichkeit während der Vernehmung des geschädigten Zeugen und nach dessen Entlassung nicht beseitigt und damit den absoluten Revisionsgrund des § 338 Nr. 6 StPO begründet.
c) Der dargelegte Verfahrensverstoß zieht die Aufhebung der Verurteilung in den Fällen 63 bis 69 der Urteilsgründe, im Gesamtstrafen- und Maßregelausspruch sowie in der Einziehungsentscheidung nach sich.
aa) Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs führt ein Verstoß gegen die Regeln der Öffentlichkeit der Hauptverhandlung nicht notwendig zur Aufhebung des gesamten Urteils. Bezieht sich der Vorgang, währenddessen die Öffentlichkeit zu Unrecht ausgeschlossen war, nur auf einen abtrennbaren Teil des Urteils, so ist auch nur dieser Teil des Urteils aufzuheben (st. Rspr.; vgl. BGH, Urteile vom 22. November 1995 - 3 StR 284/95, NStZ 1996, 202, 203; vom 4. Dezember 2007 - 5 StR 404/07, BGHR StPO § 338 Nr. 6 Ausschluss 5; Beschlüsse vom 17. Februar 1987 - 5 StR 14/87, BGHR StPO § 338 Nr. 6 Begründungsmangel 1; vom 25. Juli 1995 - 1 StR 342/95, BGHR StPO § 338 Nr. 6 Ausschluss 3; vom 21. Januar 2021 - 2 StR 188/20, NStZ 2021, 760, 761). Von dieser Rechtsprechung abzuweichen, die der Handhabung des absoluten Revisionsgrundes im Fall des § 338 Nr. 5 StPO (vgl. BGH, Beschlüsse vom 31. Juli 1992 - 4 StR 250/92, BGHR StPO § 338 Beruhen 1; vom 30. Januar 2001 - 3 StR 528/00, juris Rn. 5) entspricht, sieht der Senat keinen Anlass (kritisch Mosbacher, JuS 2023, 736, 739 f.; Ventzke, NStZ 2023, 701 f.).
bb) Daran gemessen unterliegen die Verurteilungen in den Fällen 63 bis 69 der Urteilsgründe als von dem Verstoß gegen den Grundsatz der Öffentlichkeit betroffene - abtrennbare ? Teile des Urteils der Aufhebung. Nach dem Vortrag der Revision betraf das vom Sachverständigen unter Verstoß gegen den Öffentlichkeitsgrundsatz in nicht öffentlicher Hauptverhandlung erstattete Gutachten die mögliche Intoxikation der Geschädigten in den Fällen 63 bis 69 der Urteilsgründe. Dies korrespondiert mit den Urteilsgründen, ausweislich derer die Strafkammer lediglich in den Fällen 64 bis 69 der Urteilsgründe die vom Sachverständigen durchgeführte toxikologische Untersuchung einer Haarprobe der Geschädigten dargestellt und zur Überführung des Angeklagten in diesen Fällen herangezogen hat. Darüber hinaus hat es mit dem Sachverständigen ein Video des Geschädigten im Fall 63 der Urteilsgründe in Augenschein genommen und erörtert, welches den Alkoholisierungsgrad des Geschädigten dokumentiert.
cc) Der damit einhergehende Wegfall der Einzelstrafen in den Fällen 63 bis 69 der Urteilsgründe entzieht dem Gesamtstrafenausspruch die Grundlage. Gleiches gilt für die Anordnung der Sicherungsverwahrung, da die Strafkammer sowohl den Hang zu erheblichen Straftaten als auch die Gefährlichkeitsprognose (§ 66 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 StGB) und die Ausübung ihres Ermessens nach § 66 Abs. 2 und 3 StGB auch mit den hier betroffenen Taten begründet hat. Die Mobiltelefone des Angeklagten hat sie als Tatmittel (§ 74 Abs. 1 Alt. 2 StGB) der Taten in den Fällen 64 bis 69 der Urteilsgründe eingezogen.
dd) Die Verurteilung in den prozessual selbständigen Fällen 1 bis 62 der Urteilsgründe betrifft einen abtrennbaren Teil des Urteils, auf den sich der Verstoß gegen den Grundsatz der Öffentlichkeit nicht auswirkt. Die Beweiswürdigung der Strafkammer beruht in diesen Fällen auf gänzlich anderen Beweismitteln.
(1) Die Behauptung der Revision, die Vernehmung des Sachverständigen betreffe „alle dem Angeklagten vorgeworfene Taten“ (UA S. 223: „Sämtliche Zeugen“), trifft in der Sache nicht zu. Die zitierte Textpassage bezieht sich ausschließlich auf die sechs Geschädigten der Taten aus Oktober 2021 (Fälle 64 bis 69 der Urteilsgründe).
(2) Soweit die Revision darauf hinweist, die Strafkammer habe bei der Bewertung der Einlassung des Angeklagten „hinsichtlich der Oktobertaten“ (Fälle 64 bis 69 der Urteilsgründe) ausgeführt, dass er sich zu der anhand der Videos offenkundigen Sedierung der Geschädigten sowie zu den in deren Haaren aufgefundenen Substanzen in Schweigen gehüllt habe, steht dies der Abtrennbarkeit der verschiedenen Tatkomplexe nicht entgegen. Ein denkgesetzlicher Zusammenhang dieses Teilschweigens zu dem Sedierungsvorwurf in den Fällen 64 bis 69 der Urteilsgründe und den Fällen 1 bis 62 der Urteilsgründe ist nicht vorstellbar. Die Strafkammer hat ihre Beweiswürdigung in den letztgenannten Fällen auf die teilgeständige Einlassung des Angeklagten und weitere Beweismittel, insbesondere die Aussagen der dort Geschädigten, gestützt. Die Haaranalyse der weiteren Geschädigten in den Fällen 64 bis 69 der Urteilsgründe hat dabei keine Rolle gespielt. Dies gilt erst recht für das Schweigen des Angeklagten zu diesem Vorhalt. Die Strafkammer hat die Einlassung des Angeklagten jeweils bezogen auf die einzelnen Tatvorwürfe einer Glaubhaftigkeitsprüfung unterzogen und ist ihm - mit Blick auf die jeweils tatbezogene Beweislage - nur teilweise gefolgt.
(3) Entgegen der Ansicht der Revision lässt der Rechtsfehler auch die Strafzumessung in den Fällen 1 bis 62 der Urteilsgründe unberührt. Dass der Sachverständige, dessen Gutachtenauftrag darin bestand, die eingesandten Haarproben der Geschädigten in den Fällen 64 bis 69 der Urteilsgründe auf das Vorliegen von Arznei- und Suchtstoffen toxikologisch zu untersuchen, und mit dem im Zuge seiner Gutachtenerstattung auch ein Video zu Fall 63 der Urteilsgründe erörtert wurde, Angaben zu den Geschädigten in den Fällen 1 bis 62 der Urteilsgründe gemacht hat, ist weder den Urteilsgründen noch dem Revisionsvortrag zu entnehmen. Der Hinweis der Revision in der Hauptverhandlung, die Strafkammer habe die heimliche Sedierung der Geschädigten dem Angeklagten fallübergreifend straferschwerend angelastet, findet in den Urteilsgründen keine Stütze. Vielmehr hat die Strafkammer diese Strafzumessungserwägung ausdrücklich auf die aufgehobenen Fälle 64 sowie 66 bis 68 der Urteilsgründe bezogen.
2. Die weitere Verfahrensbeanstandung einer Verletzung von § 261 StPO durch die Verwertung der Angaben des Zeugen K. trotz unterbliebener Belehrung über ein Zeugnisverweigerungsrecht als Anstaltspsychologe der Justizvollzugsanstalt hat keinen Erfolg. Die Rüge ist unbegründet.
Der Zeuge fällt als Anstaltspsychologe nicht in den Kreis der zeugnisverweigerungsberechtigen Berufsgeheimnisträger. Nach der gesetzlichen Regelung des § 53 Abs. 1 Nr. 3 StPO steht diese Berechtigung nur den approbierten psychologischen Psychotherapeuten zu (vgl. LR-StPO/Bertheau/Ignor, 27. Aufl., § 53 Rn. 36); Psychologen sind von der Regelung nicht erfasst (vgl. BGH, Beschluss vom 28. April 2006 - 2 StR 62/06, NStZ 2006, 509). Im Übrigen begründet die unterbliebene Belehrung eines Berufsgeheimnisträgers keinen Verfahrensverstoß (vgl. BGH, Urteil vom 4. Februar 2010 - 4 StR 394/09, BGHR StPO § 53 Abs. 1 Nr. 1 Verweigerung 2).
3. Die Überprüfung der angefochtenen Entscheidung aufgrund der Sachrüge - soweit die Entscheidung nach den Verfahrensbeanstandungen Bestand hat - hat keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten ergeben. Der Erörterung bedarf nur Folgendes:
a) Entgegen der Ansicht der Revision ist die der Verurteilung in den Fällen 19 bis 58 der Urteilsgründe zugrundeliegende Schätzung, der Angeklagte habe mindestens 50 Taten zum Nachteil des Geschädigten begangen, nicht zu beanstanden. Die Strafkammer hat für den Tatzeitraum von Juni 2016 (UA S. 36, Tat 9 der Urteilsgründe; der Geschädigte war 16 Jahre alt) einen durch Drohung veranlassten wechselseitigen Oralverkehr und kurz darauf in mindestens neun Fällen in H. (Taten 10 bis 18 der Urteilsgründe, der Geschädigte war maximal 17 Jahre alt) den, ebenfalls durch Drohung bewirkten, ungeschützten Analverkehr festgestellt, wobei der Angeklagte jeweils seine Vertrauensposition gegenüber dem Geschädigten ausgenutzt hat. Es hat den Angeklagten in diesen Fällen rechtsfehlerfrei wegen Vergewaltigung in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch von Jugendlichen verurteilt.
Es hat zudem für die Zeit nach dem Umzug „im Sommer 2017“ von H. nach D. bis Frühjahr 2019 weitere 40 Taten festgestellt, bei denen der Angeklagte den Geschädigten mittels Drohung zum ungeschützten Analverkehr gezwungen hatte. Es hat ihn deswegen - ebenfalls rechtsfehlerfrei ? wegen Vergewaltigung in weiteren 40 Fällen verurteilt. Von einer tateinheitlichen Verurteilung wegen sexuellen Missbrauchs von Jugendlichen hat es aufgrund der am 4. Januar 2018 eingetretenen und damit möglichen Volljährigkeit des Geschädigten im Tatzeitpunkt abgesehen. Die Anzahl der Taten hat es auf die vom Geschädigten über den gesamten Tatzeitraum geschätzte Mindestzahl von 50 Übergriffen gestützt und hiervon die zehn Taten in Abzug gebracht, die es sicher seiner Minderjährigkeit zuordnen konnte. Dagegen ist revisionsrechtlich nichts zu erinnern. Auf den von der Revision zutreffend aufgezeigten Widerspruch in den Urteilsgründen hinsichtlich des genauen Datums für den Umzug des Angeklagten von H. nach D. - einerseits Sommer 2017, andererseits 27. Oktober 2017 ? kommt es daher nicht an.
b) Der Schuldspruch im Fall 59 der Urteilsgründe wegen tateinheitlicher Körperverletzung begegnet keinen Bedenken. Das Landgericht ist zunächst zutreffend davon ausgegangen, dass eine Gesundheitsbeschädigung im Sinne des § 223 Abs. 1 StGB auch in der Herbeiführung eines Rauschzustands liegen kann, wenn der Rausch etwa zur Bewusstlosigkeit führt oder der Betroffene sich übergeben muss (vgl. BGH, Urteil vom 4. März 1981 - 2 StR 734/80, juris Rn. 12; Beschluss vom 18. Februar 2021 - 4 StR 473/20, juris Rn. 6). Es ist auch nicht zu beanstanden, dass die Strafkammer in dem Alkoholkonsum des 13- oder 14-jährigen Geschädigten, der noch nie zuvor Alkohol konsumiert hatte und vom Angeklagten mittels aktiver Drohung zum Alkoholkonsum veranlasst wurde, keine eigenverantwortliche Selbstgefährdung gesehen hat. Hierfür wäre erforderlich, dass der Jugendliche nach seiner geistigen Fähigkeit und seiner sittlichen Reife im konkreten Fall in der Lage gewesen wäre, die Bedeutung der Handlung und ihre möglichen Folgen zu erkennen und zu bewerten, insbesondere den Wert des gefährdeten Rechtsguts und die sittliche Bedeutung des Vorgangs zutreffend einzuschätzen (vgl. BGH, Beschluss vom 7. August 1984 - 1 StR 200/84, juris Rn. 11). Dies war bei dem Zeugen, der zur Beendigung der Drohungen einen vorgegebenen Promillewert erreichen und nach den Plänen des Angeklagten hierbei scheitern sollte, erkennbar nicht der Fall. Die Veranlassung zur Selbstschädigung begründet die mittelbare Täterschaft des Angeklagten für die Körperverletzung (vgl. BGH, Urteil vom 4. März 1981 - 2 StR 734/80, juris Rn. 15; LK-StGB/Schünemann/Greco, 13. Aufl., § 25 Rn. 91).
c) Die Einzelstrafen in den Fällen 1 bis 62 der Urteilsgründe haben Bestand.
aa) Es begegnet keinen Bedenken, dass die Strafkammer bei der Zumessung der Einzelstrafen für die Vergewaltigung des 15- bzw. 16-jährigen Geschädigten in den Fällen 3 und 4 sowie 6 bis 8 der Urteilsgründe sowie für die Körperverletzung in Tateinheit mit Nötigung zum Nachteil des 13- oder 14-jährigen Geschädigten im Fall 59 der Urteilsgründe strafschärfend auch das Alter der Opfer in ihre Gesamtbetrachtung eingestellt hat.
(1) Der Senat braucht nicht zu entscheiden, ob eine abstrakte strafschärfende Berücksichtigung des jugendlichen Alters eines Geschädigten bei einer Vergewaltigung bereits deshalb zulässig ist, weil nach dem Schutzkonzept des Strafgesetzbuches Jugendliche in ihrer sexuellen Selbstbestimmung ein gesteigertes - kontextabhängiges - Schutzniveau erfahren (vgl. zum Problemkreis BGH, Urteil vom 28. Februar 1996 - 3 StR 309/95, BGHSt 42, 51, 53; Beschlüsse vom 25. Februar 1997 - 4 StR 40/97, BGHSt 42, 399, 400; vom 28. Juni 2000 - 2 StR 213/00, BGHSt 46, 85, 87, vom 21. September 2000 - 3 StR 323/00, NJW 2000, 3726; vom 6. November 2013 - 5 StR 386/13, NStZ-RR 2014, 46, 47; Lackner/ Kühl/Heger/Heger, StGB, 30. Aufl., § 182 Rn. 1; LK-StGB/Hörnle, 13. Aufl., § 182, Entstehungsgeschichte; Matt/Renzikowski/Eschelbach, StGB, 2. Aufl., § 182 Rn. 2 f.; MüKo-StGB/Renzikowski, 4. Aufl., § 182 Rn. 1 ff.; Fischer, StGB, 71. Aufl., § 182 Rn. 2; SSW-StGB/Wolters, 5. Aufl., § 182 Rn. 2; SK-StGB/Wolters, 9. Aufl., § 182 Rn. 2; Schönke/Schröder/Eisele, StGB, 30. Aufl., § 182 Rn. 2; Lenz, Die Jugendschutztatbestände im Sexualstrafrecht, 2017, S. 22 ff.). Denn die Strafkammer hat das jugendliche Alter der Geschädigten lediglich im Zusammenhang mit ihrer der Strafzumessung vorangestellten und jeweils in Bezug genommenen Feststellung gewertet, dass der Angeklagte eine hohe kriminelle Energie und Rücksichtslosigkeit gegenüber seinen Opfern an den Tag legte, ein System entwickelte und immer weiter perfektionierte, mit dem er die Geschädigten erheblich unter Druck setzte, und die selbst geschaffene Bedrohungslage, die die Geschädigten allesamt stark verängstigte, trotz geäußerter und dem Angeklagten bekannter Verzweiflung immer stärker intensivierte. Die Strafkammer hat hierin in revisionsrechtlich nicht zu beanstandender Weise eine „Gefühlskälte und fehlende Empathie des Angeklagten, der die physische und psychische Unterlegenheit der Zeugen […] missbrauchte“, gesehen und bei der konkreten Zumessung der Einzelstrafen auch das Alter der Geschädigten im Tatzeitpunkt in den Blick genommen. Dagegen ist revisionsrechtlich nichts zu erinnern.
(2) Auf der Grundlage dieser Darstellung und Wertung begegnet auch die Berücksichtigung des Alters des körperlich verletzten und genötigten 13- bis 14-jährigen Geschädigten im Fall 59 der Urteilsgründe, der zuvor noch nie Alkohol konsumiert und den der Angeklagte durch Drohungen gezwungen hatte, Alkohol in solchen Mengen zu konsumieren, dass der Zeuge sich übergeben musste, einschlief und später verkatert und mit Bauchschmerzen erwachte, keinen Bedenken.
bb) Die Wertung der Strafkammer, dass es für die Geschädigten in den Fällen 3 bis 58 und 62 der Urteilsgründe jeweils „besonders erniedrigend war, als heterosexuell orientierter, sexuell unerfahrener Jugendlicher von einem gleichgeschlechtlichen Erwachsenen anal penetriert zu werden“, hält rechtlicher Prüfung stand. Der Einwand der Revision, die Strafkammer habe sich auf einen Erfahrungssatz gestützt, greift nicht durch, denn sie hat ihre Wertung in jedem Einzelfall mit konkreten Feststellungen unterlegt.
cc) Soweit die Revision moniert, die Strafkammer habe in den Fällen 3 bis 8 der Urteilsgründe die Begehung der Tat strafschärfend bewertet, übersieht sie, dass die Strafkammer mit der Einschränkung, dass die „in der Tatsituation erforderliche Gewalt auch nicht erheblich sein musste“, lediglich den von ihr strafmildernd eingestellten Gesichtspunkt, dass die angewandte Gewalt bei der Vergewaltigung am unteren Rand dessen lag, was zur Erfüllung dieser Tatbestandsalternative erforderlich war, relativiert hat. Sie hat damit zur Bemessung dieses mildernden Gesichtspunktes die konkrete Tatsituation in den Blick genommen, in der der Angeklagte einen körperlich unterlegenen Jugendlichen mit geringer Selbstbehauptung zu seinem Opfer machte. Das ist revisionsrechtlich nicht zu beanstanden.
4. Im Umfang der Aufhebung bedarf die Sache neuer Verhandlung und Entscheidung. Der aufgezeigte Verstoß gegen den Grundsatz der Öffentlichkeit hat die Aufhebung der Feststellungen zu den Verurteilungen in den Fällen 63 bis 69 der Urteilsgründe zur Folge. Gleiches gilt für den Maßregelausspruch, da in die dortigen Bewertungen auch die Taten 63 bis 69 der Urteilsgründe eingeflossen sind. Der Senat hat die gesamten Feststellungen zu den persönlichen Verhältnissen des Angeklagten (UA S. 4 bis 16 und S. 86 bis 103 der Urteilsgründe) aufrechterhalten. Dies folgt aus dem Fortbestand der Feststellungen zu den Einzelstrafen in den Fällen 1 bis 62 der Urteilsgründe wegen deren Doppelrelevanz. Soweit diese lediglich den Maßregelausspruch betreffen, hat sie der Senat ebenso von der Aufhebung ausgenommen wie die rechtsfehlerfreien Feststellungen zu den nicht angeklagten Taten (Fälle J., UA S. 23 bis 25 und S. 134 bis 145; Lo., UA S. 43 bis 46 und S. 194 bis 197 und N., UA S. 46 und S. 193 bis 194), denen bei der Entscheidung über eine mögliche Maßregel ebenfalls Bedeutung zukommen kann. Ergänzende Feststellungen, die den bisherigen nicht widersprechen, sind - wie stets - möglich.
HRRS-Nummer: HRRS 2024 Nr. 555
Bearbeiter: Julia Heß/Karsten Gaede