HRRS-Nummer: HRRS 2024 Nr. 163
Bearbeiter: Julia Heß/Karsten Gaede
Zitiervorschlag: BGH, 2 StR 327/23, Beschluss v. 15.11.2023, HRRS 2024 Nr. 163
1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Kassel vom 3. Mai 2023 im Rechtsfolgenausspruch mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben.
Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
2. Die weitergehende Revision wird verworfen.
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen bewaffneten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren und sechs Monaten verurteilt und seine Unterbringung in einer Entziehungsanstalt angeordnet. Die auf die Rüge der Verletzung formellen und materiellen Rechts gestützte Revision des Angeklagten hat den aus der Beschlussformel ersichtlichen Erfolg; im Übrigen ist das Rechtsmittel unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.
1. Die Rüge der Verletzung formellen Rechts ist nicht entsprechend den Darlegungsanforderungen des § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO ausgeführt und daher unzulässig.
2. Die aufgrund der erhobenen Sachrüge gebotene Überprüfung des Urteils hat zum Schuldspruch keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten ergeben. Indes kann der Rechtsfolgenausspruch keinen Bestand haben.
a) Der Strafausspruch hält rechtlicher Nachprüfung nicht stand.
aa) Nach den Feststellungen erwarb der Angeklagte 10,32g Kokainzubereitung mit einem Wirkstoffgehalt von 8,6g Kokainhydrochlorid (KHCl), von denen zwei Drittel zum gewinnbringenden Verkauf und ein Drittel zum Eigenkonsum bestimmt waren. In seiner Bauchtasche führte er eine weitere verkaufsfertige Plombe mit 0,95g Kokain mit 0,81g KHCl mit sich sowie griffbereit ein einhändig zu führendes und festzustellendes Springmesser mit 7 cm Klingenlänge.
bb) Die Strafkammer hat einen minder schweren Fall im Sinne des § 30a Abs. 3 BtMG angenommen und dabei zu Gunsten des Angeklagten neben der Sicherstellung aller Betäubungsmittel, dem mitursächlichen Einfluss seines Hanges zum Konsum und seinem kooperativen Nachtatverhalten eingestellt, dass der Wirkstoffgehalt der Handelsmenge (5,73g KHCl + 0,81g KHCl = 6,54g KHCl) den Grenzwert zur nicht geringen Menge (5g KHCl) nur geringfügig überschritt. Das Mindestmaß der Freiheitsstrafe hat die Strafkammer „aufgrund des mitverwirklichten Besitzes von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge, in welchem die Kammer auch unter Berücksichtigung der vorgenannten für den Angeklagten streitenden Umstände mangels erheblicher Abweichung vom gesetzlichen Leitbild der Tat keinen minder schweren Fall im Sinne des § 29 Abs. 2 BtMG erblickt hat“, dem Strafrahmen des § 29a Abs. 1 BtMG entnommen.
cc) Dies begegnet durchgreifenden Bedenken. Die sehr knappen Ausführungen der Strafkammer lassen besorgen, dass sie nicht im Blick hatte, dass auch der Wirkstoffgehalt der insgesamt vom Angeklagten besessenen Kokainzubereitung die nicht geringe Menge nur geringfügig überschritt (vgl. zur 1,88-fachen Menge: BGH, Beschluss vom 27. Oktober 2020 - 1 StR 350/20, NStZ-RR 2021, 49, 50). Bei der Gesamtabwägung aller für und gegen den Angeklagten sprechenden Umstände ist die Frage, ob der Grenzwert der nicht geringen Menge an Betäubungsmitteln um ein Vielfaches oder aber nicht sehr erheblich überschritten ist, regelmäßig von Bedeutung. Während eine nur geringe Grenzwertüberschreitung ein Kriterium für die Annahme eines minder schweren Falles ist, spricht eine ganz erhebliche Überschreitung gegen die Annahme eines solchen. Je geringer die Überschreitung des Grenzwerts ist, desto näher liegt die Annahme eines minder schweren Falles (vgl. BGH, Urteil vom 15. März 2017 ? 2 StR 294/16, BGHSt 62, 90, 93 Rn. 13; Beschlüsse vom 11. September 2019 - 2 StR 68/19, NStZ-RR 2020, 24; vom 27. Oktober 2020 ? 1 StR 350/20, NStZ-RR 2021, 49, 50; vom 10. März 2022 - 1 StR 35/22 Rn. 5).
dd) Der Senat kann nicht ausschließen, dass die Strafe auf dem Rechtsfehler beruht.
b) Auch die Anordnung der Maßregel nach § 64 StGB hat keinen Bestand.
Der Senat hat gemäß § 2 Abs. 6 StGB über die Anordnung der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt nach § 64 StGB in der am 1. Oktober 2023 in Kraft getretenen Fassung zu entscheiden. Danach darf eine solche Anordnung nur ergehen, wenn die Anlasstat überwiegend auf einen Hang des Angeklagten zurückgeht, wobei der Hang eine Substanzkonsumstörung erfordert, infolge derer eine dauernde und schwerwiegende Beeinträchtigung der Lebensgestaltung, der Gesundheit, der Arbeits- oder der Leistungsfähigkeit eingetreten ist und fortdauert. Hierzu hat das Landgericht keine Feststellungen getroffen.
3. Für die neue Verhandlung weist der Senat vorsorglich auf Folgendes hin:
a) Schließt sich das Tatgericht - wie hier zur Frage, ob die Voraussetzungen des § 21 StGB vorliegen - den Ausführungen eines Sachverständigen an, müssen dessen wesentliche Anknüpfungspunkte und Darlegungen im Urteil so wiedergegeben werden, wie dies zum Verständnis des Gutachtens und zur Beurteilung seiner Schlüssigkeit erforderlich ist (st. Rspr.; etwa BGH, Beschluss vom 16. August 2023 - 2 StR 146/23 Rn. 6 mwN). Dies nachzuholen wird Gelegenheit bestehen.
b) Das neue Tatgericht wird auch Gelegenheit haben, in den Blick zu nehmen, dass der Einräumung von Teilen der objektiven Tatbestandsverwirklichung der grundsätzlich zu Gunsten eines Angeklagten zu wertende Charakter eines Teilgeständnisses zukommen kann (vgl. BGH, Urteil vom 28. April 2010 ? 2 StR 77/10, NStZ-RR 2010, 237).
HRRS-Nummer: HRRS 2024 Nr. 163
Bearbeiter: Julia Heß/Karsten Gaede