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HRRS-Nummer: HRRS 2023 Nr. 1277

Bearbeiter: Julia Heß/Karsten Gaede

Zitiervorschlag: BGH, 2 StR 271/23, Beschluss v. 24.08.2023, HRRS 2023 Nr. 1277


BGH 2 StR 271/23 - Beschluss vom 24. August 2023 (LG Bonn)

Sexueller Missbrauch von Schutzbefohlenen (sexuelle Handlung: Erheblichkeitsschwelle); Strafzumessung (Fehlen von Vorstrafen).

§ 174 StGB; § 184h StGB; § 46 StGB

Entscheidungstenor

1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Bonn vom 12. April 2023

a) im Schuldspruch dahin geändert, dass der Angeklagte des schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern in Tateinheit mit Vergewaltigung und mit sexuellem Missbrauch von Schutzbefohlenen sowie wegen sexuellen Missbrauchs von Schutzbefohlenen in zehn Fällen, davon in einem Fall versucht, schuldig ist,

b) im gesamten Strafausspruch aufgehoben.

Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere als Jugendschutzkammer zuständige Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

2. Die weitergehende Revision wird verworfen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen „schweren sexuellen Missbrauchs eines Kindes in Tateinheit mit Vergewaltigung und in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch einer Schutzbefohlenen sowie des sexuellen Missbrauchs einer Schutzbefohlenen in zehn Fällen“ zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von sechs Jahren verurteilt und festgestellt, dass eine rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung vorliegt. Die auf die allgemeine Sachrüge gestützte Revision des Angeklagten hat den aus der Beschlussformel ersichtlichen Erfolg. Im Übrigen ist das Rechtsmittel offensichtlich unbegründet (§ 349 Abs. 2 StPO).

1. Während die Überprüfung der Schuldsprüche in den Fällen 1-9 und 11 der Urteilsgründe keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten ergeben hat, bedarf der Schuldspruch wegen sexuellen Missbrauchs einer Schutzbefohlenen gemäß § 174 Abs. 1 Nr. 3 StGB i.d.F. vom 21. Januar 2015 im Fall 10 der Urteilsgründe der Korrektur.

a) Nach den rechtsfehlerfreien Feststellungen befand sich der Angeklagte an einem Tag zwischen dem 16. April 2017 und dem 7. August 2020 mit der am 16. April 2003 geborenen Nebenklägerin allein in einem Pkw. Er lebte seit vielen Jahren mit der Nebenklägerin, deren Mutter, ihren zwei Geschwistern sowie zwei weiteren Halbgeschwistern in einem Haushalt und war für die Nebenklägerin eine Art Vaterersatz.

Der Angeklagte hielt auf einem Rastplatz in der Absicht, an der Nebenklägerin sexuelle Handlungen vorzunehmen. Er löste deren Sicherheitsgurt und klappte die Rücklehne des Beifahrersitzes nach hinten. Anschließend berührte er die auf dem Beifahrersitz sitzende Nebenklägerin am Oberschenkel und öffnete den Gürtel ihrer Hose. Er versuchte sodann mit seiner Hand in die Hose der Nebenklägerin zu fassen. Diese drückte seine Hand weg und sagte, dass sie das nicht wolle. Aufgrund der Lichter vorbeifahrender Autos und der damit verbundenen Gefahr, entdeckt zu werden, ließ der Angeklagte von der Nebenklägerin ab und fuhr mit ihr nach Hause.

b) Diese Feststellungen belegen noch keine sexuelle Handlung des Angeklagten von einiger Erheblichkeit im Sinne des § 184h Nr. 1 StGB, wie sie § 174 Abs. 1 Nr. 3 StGB voraussetzt.

aa) Als erheblich im Sinne der Vorschrift sind solche sexualbezogenen Handlungen zu werten, die nach Art, Intensität und Dauer eine sozial nicht mehr hinnehmbare Beeinträchtigung des im jeweiligen Tatbestand geschützten Rechtsguts besorgen lassen. Dazu bedarf es einer Gesamtbetrachtung aller Umstände im Hinblick auf die Gefährlichkeit der Handlung für das jeweils betroffene Rechtsgut; unter diesem Gesichtspunkt belanglose Handlungen scheiden aus. Bei Tatbeständen, die Kinder und Jugendliche schützen, können weniger strenge Maßstäbe anzulegen sein. Letztlich sind aber auch beim Schutz der sexuellen Selbstbestimmung von Kindern (§ 176 StGB) nicht sämtliche sexualbezogenen Handlungen, die sexuell motiviert sind, tatbestandsmäßig. Auszuscheiden sind vielmehr kurze oder aus anderen Gründen unbedeutende Berührungen (st. Rspr.; vgl. Senat, Urteile vom 21. September 2016 - 2 StR 558/15, NStZ-RR 2017, 43, 44; vom 26. April 2017 - 2 StR 574/16, NStZ-RR 2017, 277, 278; BGH, Beschluss vom 24. Mai 2022 - 4 StR 72/22, juris Rn. 11 f.; jeweils mwN).

bb) Hieran gemessen überschreiten die vom Angeklagten im Fall 10 der Urteilsgründe vorgenommenen Handlungen die Erheblichkeitsschwelle des § 184h Nr. 1 StGB noch nicht. Das Berühren der Oberschenkel, das Öffnen des Gürtels der Hose der Nebenklägerin und der Versuch des Angeklagten, in deren Hose zu fassen, erreichen auch in der Summe bei der zum Ende des möglichen Tatzeitraums 17-jährigen Nebenklägerin nicht die notwendige Erheblichkeit. Ein Berühren der Genitalien der Jugendlichen ist anlässlich des Versuchs des Angeklagten, in deren Hose zu fassen, nicht festgestellt. Die Urteilsgründe schweigen auch zu Dauer und Intensität der Berührung durch den Angeklagten.

cc) Das Verhalten des Angeklagten erfüllt jedoch den Tatbestand des versuchten sexuellen Missbrauchs von Schutzbefohlenen (§ 174 Abs. 1 Nr. 3, Abs. 4 StGB). Den Tatentschluss des Angeklagten, der als Stiefvater der Nebenklägerin in deren Erziehung eingebunden und für diese ein Vaterersatz war, hat die Strafkammer rechtsfehlerfrei festgestellt. Der Angeklagte hat auch unmittelbar zur Tatausführung angesetzt, indem er versuchte in die Hose der Nebenklägerin zu fassen, nachdem er zunächst deren Gürtel gelöst hatte. Sein Versuch war fehlgeschlagen, nachdem einerseits die Nebenklägerin seine Hand weggedrückt und erklärt hatte, dass sie das nicht wolle und andererseits er aufgrund vorbeifahrender Autos befürchtete, entdeckt zu werden.

c) Der Senat ändert den Schuldspruch in entsprechender Anwendung von § 354 Abs. 1 StPO. Er schließt aus, dass in einer neuen Hauptverhandlung ergänzende Feststellungen möglich sind, mittels derer ein weitergehender Tatnachweis geführt werden kann. § 265 Abs. 1 StPO steht der Schuldspruchänderung nicht entgegen, da sich der geständige Angeklagte nicht anders als geschehen hätte verteidigen können.

2. Der Strafausspruch hat in Gänze keinen Bestand.

a) Die Schuldspruchänderung im Fall 10 der Urteilsgründe entzieht der dort zugemessenen Einzelstrafe die Grundlage.

b) Auch die übrigen Einzelstrafen unterfallen der Aufhebung. Die Strafkammer hat bei der Strafzumessung das Fehlen von Vorstrafen nicht erkennbar bedacht und damit einen gewichtigen Strafzumessungsgrund nicht in ihre Wertung einbezogen (vgl. Senat, Beschluss vom 29. September 2016 - 2 StR 63/16, juris Rn. 15; BGH, Beschluss vom 6. Juni 2023 - 4 StR 133/23, juris Rn. 5 mwN; Schäfer/Sander/van Gemmeren, Praxis der Strafzumessung, 6. Aufl., Rn. 647).

Der von der Strafkammer in allen Einzelfällen eingestellte Milderungsgesichtspunkt, dass der Angeklagte „sozial integriert gelebt hat“, impliziert nicht das Fehlen von Vorstrafen. Der Senat kann nicht ausschließen, dass das Tatgericht in den Fällen 1-9 und 11 der Urteilsgründe ohne den Rechtsfehler auf mildere Einzelstrafen erkannt hätte.

c) Der Wegfall sämtlicher Einzelstrafen bedingt die Aufhebung der Gesamtstrafe. Beides lässt die rechtsfehlerfreie Kompensationsentscheidung unberührt (vgl. BGH, Urteil vom 27. August 2009 - 3 StR 250/09, BGHSt 54, 135, 138); diese hat Bestand.

3. Im Umfang der Aufhebung bedarf die Sache neuer Verhandlung und Entscheidung. Die Feststellungen sind von den Wertungsfehlern nicht betroffen und bleiben aufrechterhalten (§ 353 Abs. 2 StPO). Das neue Tatgericht kann - wie stets ? ergänzende Feststellungen treffen, die den bisherigen nicht widersprechen.

HRRS-Nummer: HRRS 2023 Nr. 1277

Bearbeiter: Julia Heß/Karsten Gaede