hrr-strafrecht.de - Rechtsprechungsübersicht


HRRS-Nummer: HRRS 2023 Nr. 1100

Bearbeiter: Julia Heß/Karsten Gaede

Zitiervorschlag: BGH, 2 StR 122/23, Urteil v. 02.08.2023, HRRS 2023 Nr. 1100


BGH 2 StR 122/23 - Urteil vom 2. August 2023 (LG Aachen)

Besonders schwerer Fall des Diebstahls (Hilflosigkeit; Ausnutzen); Verhängung einer Jugendstrafe (Schwere der Schuld: jugendspezifische Gesamtabwägung, Unrechtsgehalt, innere Tatseite, charakterliche Haltung; schädliche Neigung); schwerer Raub (minder schwerer Fall: Gesamtbetrachtung).

§ 243 StGB; § 250 StGB; § 17 Abs. 2 JGG

Leitsatz des Bearbeiters

Bei der Beurteilung der Schuldschwere im Sinne des § 17 Abs. 2 JGG ist eine - jugendspezifische - Gesamtabwägung vorzunehmen, in die sämtliche für die Schuldbeurteilung relevanten Umstände einzubeziehen sind. Der Schuldgehalt der Tat bei der Deliktsbegehung durch jugendliche und heranwachsende Täter ist jugendspezifisch zu bestimmen. Die „Schwere der Schuld“ im Sinne des § 17 Abs. 2 Var. 2 JGG wird daher nicht vorrangig anhand des äußeren Unrechtsgehalts der Tat und ihrer Einordnung nach dem allgemeinen Strafrecht bestimmt, sondern es ist in erster Linie auf die innere Tatseite abzustellen. Der äußere Unrechtsgehalt der Tat und das Tatbild sind jedoch insofern von Belang, als hieraus Schlüsse auf die charakterliche Haltung, die Persönlichkeit und die Tatmotivation des Jugendlichen oder Heranwachsenden gezogen werden können; entscheidend ist, ob und in welchem Umfang sich die charakterliche Haltung, die Persönlichkeit sowie die Tatmotivation des Täters vorwerfbar in der Tat manifestiert haben.

Entscheidungstenor

1. Auf die Revisionen der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des Landgerichts Aachen vom 21. Oktober 2022, soweit es die Angeklagten M. und C. D. betrifft, in den jeweiligen Strafaussprüchen aufgehoben, hinsichtlich der Angeklagten C. D. mit den zugehörigen Feststellungen.

Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Rechtsmittel, an eine andere Jugendkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Die weitergehende Revision betreffend die Angeklagte M. D. wird verworfen.

2. Die Revision der Staatsanwaltschaft gegen das vorbezeichnete Urteil wird, soweit es die Angeklagte S. betrifft, verworfen. Die Staatskasse hat die Kosten des Rechtsmittels und die der Angeklagten insofern entstandenen notwendigen Auslagen zu tragen.

Gründe

Das Landgericht hat die Angeklagte M. D. wegen Diebstahls zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und zehn Monaten verurteilt, deren Vollstreckung es zur Bewährung ausgesetzt hat. Die Angeklagten S. und C. D. hat es jeweils wegen besonders schweren Raubes schuldig gesprochen und die Angeklagte S. zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren und acht Monaten verurteilt. Die Entscheidung über die Verhängung einer Jugendstrafe gegen die Angeklagte C. D. hat es nach § 27 JGG ausgesetzt. Darüber hinaus wurde gegen die Angeklagten eine Einziehungsentscheidung getroffen.

Die Staatsanwaltschaft rügt mit ihren zu Ungunsten der Angeklagten eingelegten Revisionen die Verletzung materiellen Rechts. Hinsichtlich der Angeklagten M. D. beanstandet sie den Schuldspruch und erstrebt eine Verurteilung wegen besonders schweren Raubes; jedenfalls aber seien die Voraussetzungen eines besonders schweren Falls des Diebstahls nach § 243 Abs. 1 StGB erfüllt. Die Angeklagten S. und C. D. betreffend greift die Staatsanwaltschaft lediglich die Strafaussprüche an. Sie rügt die Annahme eines minder schweren Falles im Sinne des § 250 Abs. 3 StGB hinsichtlich der Angeklagten S. Hinsichtlich der Angeklagten C. D. beanstandet sie, dass die Kammer eine Schwere der Schuld im Sinne des § 17 Abs. 2 JGG verneint und die Entscheidung über die Verhängung einer Jugendstrafe zur Bewährung ausgesetzt hat.

Die Rechtsmittel erzielen den aus dem Tenor ersichtlichen Teilerfolg.

I.

Nach den Feststellungen des Landgerichts hatte die Angeklagte M. D. die 91-jährige später Geschädigte St. im Rahmen eines Pflegedienstes kennengelernt und verrichtete auch in der Folge für diese kleinere Tätigkeiten. Als die Zeugin St. in Folge eines Arm- und Oberschenkelbruchs weitestgehend immobil und zur Fortbewegung auf einen Rollstuhl angewiesen war, fasste die Angeklagte M. D. zusammen mit ihrer Tochter, der Angeklagten S., den Plan, unter Mithilfe der Angeklagten C. D. der Zeugin St. Geld zu entwenden. Die zu diesem Zeitpunkt 18-jährige, in einem Kinderheim wohnende Angeklagte C. D., Nichte der Angeklagten M. D., sagte nach anfänglichem Zögern wegen der in Aussicht gestellten Beuteteilung ihre Tatbeteiligung zu. Nach dem Tatplan sollte M. D. gelegentlich eines Besuchs bei der Zeugin St. deren Schlüssel entwenden, die Angeklagten S. und C. D. sodann mit diesen in die Wohnung eindringen, einen in Griffweite der Seniorin befindlichen Teewagen mit dem Telefon wegschieben und das regelmäßig darauf aufbewahrte Bargeld an sich nehmen.

Zur Umsetzung des Tatplans entschlossen sich die Angeklagten am 26. Juni 2021, nachdem die Angeklagte M. D. erfahren hatte, dass sich die Zeugin St. an diesem Tag eine größere Menge Bargeld von einer Bekannten bringen lassen würde. Während die Angeklagte M. D. tatplangemäß Wohnungs- und Haustürschlüssel der Seniorin entwendete, warteten die Angeklagten S. und C. D. im Kinderheim. Diese beiden kamen überein, einen Hammer mitzunehmen und der Geschädigten zu zeigen, ihr dadurch Angst einzujagen und damit jegliche Gegenwehr zu unterbinden. Hiervon und davon, dass die Angeklagte C. D. entsprechend einen Hammer in dem Ärmel ihrer Jacke verborgen hatte, hatte die Angeklagte M. D. keine Kenntnis.

Mit dem ihnen von der Angeklagten M. D. übergebenen Schlüssel öffneten S. und C. D., beide mit einer OP-Maske und tief ins Gesicht gezogenen Kapuzenjacken maskiert, die Wohnung der Geschädigten, traten an diese heran und schoben sogleich - entsprechend dem von der Angeklagten M. D. entworfenen Tatplan - den Teewagen weg, auf dem sich das Telefon der Geschädigten befand. C. D. hielt den mitgeführten Hammer der Seniorin vor, für die jedenfalls der Kopf des Hammers deutlich sichtbar war. S. nahm daraufhin einen Briefumschlag mit 1.500 Euro Bargeld der Geschädigten an sich, beide Angeklagte verließen sodann die Wohnung, begaben sich zu der im Auto wartenden Angeklagten M. D., fuhren davon und teilten die Beute zu gleichen Teilen auf.

II.

Die Revisionen der Staatsanwaltschaft erzielen den aus dem Tenor ersichtlichen Erfolg.

1. Zur Angeklagten M. D.

Das unbeschränkt eingelegte Rechtsmittel betreffend die Angeklagte M. D. ist lediglich hinsichtlich des Strafausspruchs erfolgreich.

a) Zu Unrecht beanstandet die Revision, dass die Angeklagte nur wegen Diebstahls, nicht aber wegen besonders schweren Raubes verurteilt wurde. Die Jugendkammer ist aufgrund einer sorgfältigen und rechtsfehlerfreien Beweiswürdigung zu der Überzeugung gelangt, dass diese Angeklagte keine Kenntnis davon hatte, dass die Mitangeklagte C. D. aufgrund einer allein mit der Mitangeklagten S. vereinbarten Änderung des Tatplans bei der Tat einen Hammer mit sich führte und zur Drohung gegen die Geschädigte einsetzte. Mit ihren dagegen erhobenen Einwänden vermag die Revision, wie der Generalbundesanwalt im Einzelnen zutreffend dargelegt hat, nicht durchzudringen.

b) Indes hat es das Landgericht rechtsfehlerhaft versäumt, die Verwirklichung eines Regelbeispiels gemäß § 243 Abs. 1 Satz 2 Nr. 6 StGB zu erörtern.

aa) Der in § 243 Abs. 1 Satz 2 Nr. 6 StGB bezeichnete besonders schwere Fall ist dadurch gekennzeichnet, dass der Täter die Bedrängnis eines anderen unmittelbar oder mittelbar zum Diebstahl ausnutzt; der Dieb beweist damit eine besonders verwerfliche Gesinnung (BGH, Beschluss vom 15. Mai 1990 - 5 StR 167/90, BGHR § 243 Abs. 1 Satz 2 Nr. 6 Hilflosigkeit 1). Hilflosigkeit liegt vor, wenn sich jemand nicht aus eigener Kraft gegen die dem Eigentum durch die Wegnahme einer Sache drohende Gefahr schützen kann (BayObLG NJW 1973, 1808).

bb) Diese Voraussetzungen liegen nach den getroffenen Feststellungen vor. Danach wollte die Angeklagte M. D. die ihr bekannte Hilflosigkeit der Geschädigten zur Begehung des Diebstahls ausnutzen. Sie hatte den Tatplan darauf abgestellt, dass die 91-jährige Geschädigte aufgrund eines Arm- und Oberschenkelbruchs weitestgehend immobil und zur Fortbewegung auf einen Rollstuhl angewiesen war. Dabei war ihr bewusst, dass es aufgrund der fast vollständigen Immobilität der Geschädigten ausreichen würde, den Teewagen mit dem darauf liegenden Telefon wegzuschieben, um zu verhindern, dass diese die Polizei ruft, zumal aufgrund deren Zustands keine weitere Gegenwehr zu erwarten war.

cc) Zwar hat die Jugendkammer bei der Strafzumessung zu Lasten der Angeklagten M. D. berücksichtigt, dass diese sich im Rahmen des von ihr entworfenen Tatplans die besondere Hilfsbedürftigkeit der Geschädigten im Tatzeitpunkt zu Nutze machte. Sie hat aber nicht erkennbar in den Blick genommen, dass damit das Regelbeispiel des § 243 Abs. 1 Nr. 6 StGB in Betracht kommt, das einen erhöhten Strafrahmen eröffnet. Der Senat kann damit nicht ausschließen, dass das Landgericht bei der gebotenen Prüfung eine höhere Strafe gegen die Angeklagte verhängt hätte.

dd) Ob daneben - etwa mit Blick auf die heimlich entwendeten Haus- und Wohnungsschlüssel (vgl. dazu Senat, Beschluss vom 11. Juli 1986 - 2 StR 352/86, BGHR § 243 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 Schlüssel, falscher 1) - auch ein unbenannter schwerer Fall des Diebstahls gemäß § 243 StGB anzunehmen ist, wird das neue Tatgericht zu prüfen haben.

c) Die rechtsfehlerfrei getroffenen Feststellungen sind von dem aufgezeigten Wertungsfehler nicht betroffen und haben Bestand. Das neue Tatgericht kann ergänzende, nicht im Widerspruch stehende Feststellungen treffen.

2. Zur Angeklagten C. D.

Das wirksam auf den Strafausspruch beschränkte Rechtsmittel der Staatsanwaltschaft hat in diesem Umfang Erfolg.

Das Landgericht hat eine Schwere der Schuld der Angeklagten im Sinne des § 17 Abs. 2 Var. 2 JGG verneint. Ob in der Straftat schädliche Neigungen gemäß § 17 Abs. 2 Var. 1 JGG von einem Umfang hervorgetreten sind, die eine Jugendstrafe erforderlich machen, vermochte es nicht mit Sicherheit zu beurteilen, weshalb es nach § 27 JGG verfahren ist. Die Erwägungen, aufgrund derer das Landgericht eine Schwere der Schuld der Angeklagten im Sinne des § 17 Abs. 2 Var. 2 JGG verneint hat, halten revisionsrechtlicher Nachprüfung nicht stand.

a) Die Jugendkammer ist zutreffend davon ausgegangen, dass bei der Beurteilung der Schuldschwere eine - jugendspezifische - Gesamtabwägung vorzunehmen ist, in die sämtliche für die Schuldbeurteilung relevanten Umstände einzubeziehen sind (BeckOK JGG/Brögeler, 29. Ed., § 17 Rn. 18 mwN). Der Schuldgehalt der Tat bei der Deliktsbegehung durch jugendliche und heranwachsende Täter ist jugendspezifisch zu bestimmen. Die „Schwere der Schuld“ im Sinne des § 17 Abs. 2 Var. 2 JGG wird daher nicht vorrangig anhand des äußeren Unrechtsgehalts der Tat und ihrer Einordnung nach dem allgemeinen Strafrecht bestimmt, sondern es ist in erster Linie auf die innere Tatseite abzustellen. Der äußere Unrechtsgehalt der Tat und das Tatbild sind jedoch insofern von Belang, als hieraus Schlüsse auf die charakterliche Haltung, die Persönlichkeit und die Tatmotivation des Jugendlichen oder Heranwachsenden gezogen werden können; entscheidend ist, ob und in welchem Umfang sich die charakterliche Haltung, die Persönlichkeit sowie die Tatmotivation des Täters vorwerfbar in der Tat manifestiert haben (zum Ganzen vgl. BGH, Urteil vom 9. Januar 2018 ? 1 StR 239/17, NStZ 2018, 659 mwN).

b) Soweit die Jugendkammer allerdings in ihre Gesamtabwägung eingestellt hat, dass sich die Angeklagte C. D. im Hinblick auf die geplante und von ihr durchgeführte Tat „innerlich ablehnend“ gezeigt habe, und hierauf gestützt (als innere Einstellung der Angeklagten zur Tat) die Schwere der Schuld verneint hat, steht dies mit den weiteren Urteilsgründen nicht in Einklang. So hat die Jugendkammer bei der Prüfung, ob bei der Angeklagten schädliche Neigungen im Sinne des § 17 Abs. 2 Var. 1 JGG vorhanden sind, dargelegt, dass deren zögerliche Haltung und die insbesondere gegenüber der Mitangeklagten S. geäußerten Bedenken und Zweifel kein Ausdruck von Empathie mit der 91-jährigen Geschädigten waren, sondern vorrangig in der Furcht vor einer Entdeckung begründet waren. Eine die Tat innerlich ablehnende Haltung zeigt sich darin ebenso wenig wie in dem Umstand, dass sie aus Angst um sich und um einer leichteren Durchführbarkeit der Tat willen zusammen mit S. den Tatplan eigeninitiativ änderte und einen Hammer zur zusätzlichen Bedrohung der ohnehin weitestgehend immobilen Geschädigten einsteckte.

3. Zur Angeklagten S.

Die Nachprüfung des angefochtenen Urteils aufgrund der wirksam auf den Strafausspruch beschränkten Revision hat im Hinblick auf die Angeklagte S. keinen Rechtsfehler erbracht.

Die Jugendkammer hat insbesondere beachtet, dass bei der Prüfung, ob die Anwendung des Ausnahmestrafrahmens des § 250 Abs. 3 StGB geboten erscheint, eine Gesamtbetrachtung erforderlich ist, bei der alle Umstände heranzuziehen und zu würdigen sind, die für die Wertung der Tat und des Täters in Betracht kommen (vgl. Senat, Urteile vom 19. März 1975 - 2 StR 53/75, BGHSt 26, 97, 99; vom 16. August 2017 - 2 StR 344/15, NStZ 2018, 104, 105). Diese Wertung vorzunehmen ist Sache des Tatrichters; sie ist vom Revisionsgericht nur begrenzt nachprüfbar. Weist sie keinen Rechtsfehler auf, ist sie deshalb auch dann zu respektieren, wenn eine andere Entscheidung möglich gewesen wäre oder vielleicht sogar nähergelegen hätte. Gemessen hieran ist es revisionsrechtlich nicht zu beanstanden, dass die Jugendkammer trotz der strafschärfend berücksichtigten erheblichen kriminellen Energie und besonderen Rücksichtslosigkeit nach einer umfassenden Gesamtwürdigung einen minder schweren Fall bejaht hat.

HRRS-Nummer: HRRS 2023 Nr. 1100

Bearbeiter: Julia Heß/Karsten Gaede