HRRS-Nummer: HRRS 2022 Nr. 809
Bearbeiter: Christian Becker
Zitiervorschlag: BGH, StB 26/22, Beschluss v. 29.06.2022, HRRS 2022 Nr. 809
Die sofortige Beschwerde des Verurteilten gegen den Beschluss des Kammergerichts vom 17. Mai 2022 wird verworfen.
Der Beschwerdeführer hat die Kosten seines Rechtsmittels zu tragen.
Gegen den Beschwerdeführer wurde durch Urteil des Kammergerichts vom 24. Januar 2020 wegen Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat in Tateinheit mit Vorbereitung eines Explosionsverbrechens eine Freiheitsstrafe von fünf Jahren und vier Monaten verhängt, die seit dem 27. Januar 2021 vollstreckt wird. Zuvor hatte sich der Verurteilte in dieser Sache seit dem 22. August 2018 ununterbrochen in Untersuchungshaft befunden. Zwei Drittel der Strafe waren am 9. März 2022 verbüßt; das Strafende ist auf den 19. Dezember 2023 notiert.
Unter dem 27. September 2021 hat der Beschwerdeführer beantragt, die Vollstreckung des Strafrests gemäß § 57 Abs. 1 StGB zur Bewährung auszusetzen und mitgeteilt, sein Rechtsanwalt sei Herr Dr. E. Mit Schreiben vom 6. Dezember 2021 hat der Generalbundesanwalt dem Kammergericht den Vorgang zur mündlichen Anhörung des Verurteilten und Entscheidung über die Aussetzung der Vollstreckung der Restfreiheitsstrafe zur Bewährung gemäß § 454 Abs. 1 StPO, § 57 Abs. 1 StGB unter ablehnender Stellungnahme vorgelegt. Auch die Justizvollzugsanstalt M. sah in ihrer Einschätzung vom 3. November 2021 keine positive Legalprognose für den Beschwerdeführer.
Mit E-Mail vom 28. März 2022 hat Rechtsanwalt Dr. E. seine Beiordnung gemäß § 140 Abs. 2 StPO beantragt. Die Verteidigung des Beschwerdeführers sei notwendig, da gemäß § 8 des Berliner Strafvollzugsgesetzes (StVollzG Bln) ein Diagnostikverfahren nach wissenschaftlichen Erkenntnissen, konkret dem Violent Extremism Risk Assessment Version 2 Revised („VERA-2R“), für die weitere Vollzugsplanung durchzuführen sei. Diesem Antrag hat sich der Verurteilte in der mündlichen Anhörung vom 30. März 2022 angeschlossen.
Zwischenzeitlich liegen dem Kammergericht zur Vorbereitung einer Entscheidung nach § 57 Abs. 1 StGB neben den genannten Stellungnahmen Risikoanalyseberichte des Bundeskriminalamts vom 1. Dezember 2021 und 11. Februar 2022, die sogenannte „VERA-2R"-Beurteilung der zuständigen Anstaltspsychotherapeutin, die im zweiten Anhörungstermin vor dem Kammergericht am 17. Mai 2022 auch mündlich gehört worden ist, und eine Stellungnahme der Justizvollzugsanstalt H. vom 25. April 2022 vor, in der die verfahrensgegenständliche Freiheitsstrafe derzeit vollstreckt wird.
Mit Beschluss vom 17. Mai 2022 hat das Kammergericht den Antrag auf Beiordnung von Rechtsanwalt Dr. E. abgelehnt. Weder die Dauer der noch zu vollstreckenden Reststrafe noch der Umstand, dass anlässlich des Diagnostikverfahrens nach § 8 StVollzG Bln das Prognoseinstrument „VERA-2R“ herangezogen worden sei, begründeten eine außergewöhnliche Schwierigkeit des Vollstreckungsverfahrens. Widerstreitende Prognoseergebnisse lägen nicht vor.
Weder die Justizvollzugsanstalt M. noch die Justizvollzugsanstalt H. hätten eine positive Legalprognose gestellt. Die Stellungnahme der Anstaltspsychologin nach § 8 StVollzG Bln sei in die letzte Beurteilung der Justizvollzugsanstalt H. mit eingeflossen. Die Beiordnung eines Pflichtverteidigers sei auch nicht mit Blick auf § 454 Abs. 2 StPO geboten, denn der Senat beabsichtige nicht die Einholung eines Sachverständigengutachtens.
Gegen diese, dem Verurteilten im Anhörungstermin vom 17. Mai 2022 bekannt gegebene Entscheidung hat er durch Schriftsatz seines Verteidigers vom 23. Mai 2022, eingegangen beim Kammergericht am selben Tag, sofortige Beschwerde eingelegt. Die staatlich veranlasste, unter wissenschaftlichen Gesichtspunkten durchgeführte Beurteilung der Anstaltspsychologin komme einem Gutachten im Sinne des § 454 Abs. 2 StPO gleich; überdies sehe sich der Verurteilte ihn negativ belastenden Beurteilungen gegenüber, die nach Anzahl und Umfang das Übliche deutlich überschritten. Der Generalbundesanwalt hat beantragt, die sofortige Beschwerde zu verwerfen. In Absprache und mit Einverständnis des Verteidigers hat das Kammergericht die Entscheidung nach § 57 Abs. 1 StGB bis zu einer solchen über die sofortige Beschwerde zurückgestellt.
Die gemäß § 142 Abs. 7 Satz 1, § 304 Abs. 4 Satz 2 Nr. 2 StPO statthafte Beschwerde ist zulässig, führt in der Sache jedoch nicht zum Erfolg.
Die Voraussetzungen für eine Beiordnung entsprechend § 140 Abs. 2 StPO sind, unabhängig davon, ob - wie der Generalbundesanwalt meint - dem Vollstreckungsgericht insoweit ein Beurteilungsspielraum zukommt, nicht gegeben.
1. Eine ausdrückliche Regelung zur Pflichtverteidigerbestellung im Vollstreckungsverfahren sieht die Strafprozessordnung nicht vor. In entsprechender Anwendung des § 140 Abs. 2 StPO ist dem Verurteilten jedoch auch im Vollstreckungsverfahren ein Verteidiger zu bestellen, wenn die Schwere des Vollstreckungsfalls für den Verurteilten oder besondere Schwierigkeiten der Sach- und Rechtslage im Vollstreckungsverfahren dies gebieten oder der Verurteilte unfähig ist, seine Rechte sachgerecht selbst wahrzunehmen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 26. August 2008 - 2 BvR 335/08, juris Rn. 4 ff.; KG, Beschlüsse vom 14. September 2005 - 1 AR 951/05 u.a., NStZ-RR 2006, 211; vom 31. Januar 2020 - 1 ARs 4/20, juris Rn. 4; OLG Hamm, Beschluss vom 14. September 2009 - 2 Ws 239/09, juris Rn. 11; OLG Celle, Beschluss vom 3. Dezember 2019 - 2 Ws 352/19 u.a., juris Rn. 12 ff.; Brandenburgisches OLG, Beschluss vom 27. Dezember 2005 - 1 Ws 194/05, StV 2007, 95, 96; OLG Nürnberg, Beschluss vom 6. November 2020 - Ws 962/20 u.a., juris Rn. 19; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 65. Aufl., § 140 Rn. 33 ff.). Mit Blick auf die unterschiedliche Ausgestaltung des jeweiligen Verfahrens führt die Notwendigkeit der Verteidigung im Erkenntnis- nicht zwingend zu einer solchen im Vollstreckungsverfahren (vgl. BVerfG, Beschluss vom 2. Mai 2002 - 2 BvR 613/02, NJW 2002, 2773, 2774; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 65. Aufl., § 140 Rn. 34).
Dies gilt auch nach Inkrafttreten des Gesetzes zur Neuregelung des Rechts der notwendigen Verteidigung vom 10. Dezember 2019 (BGBl. I S. 2128), mit dem der Gesetzgeber die Richtlinie (EU) 2016/1919 des Europäischen Parlaments und des Rats vom 26. Oktober 2016 über Prozesskostenhilfe für verdächtige und beschuldigte Personen in Strafverfahren sowie für gesuchte Personen in Verfahren zur Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls („PKH-Richtlinie“) umgesetzt hat. Zwar hat der Normgeber darin trotz Neuregelung der Fälle notwendiger Verteidigung im Sinne des § 140 StPO weiterhin keine ausdrückliche Bestimmung für das Vollstreckungsverfahren getroffen. Dies bedeutet je doch nicht, dass er eine analoge Anwendung des § 140 Abs. 2 StPO insoweit ausschließen wollte. Gesetzeszweck war die Stärkung der Verteidigung auf der Basis der „PKH-Richtlinie“. Die auf der genannten Richtlinie basierenden Änderungen erstrecken sich deshalb primär auf das Ermittlungsverfahren bzw. das Verfahren zur Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls, nicht das nationale Vollstreckungsverfahren (vgl. Regierungsentwurf, BT-Drucks. 19/13829 S. 1 und S. 32, 44: § 140 Abs. 2 StPO sollte als „Auffangtatbestand“ unverändert bestehen bleiben; §§ 1, 2 „PKH-Richtlinie“).
2. Nach diesen Maßstäben ist aus den zutreffenden Gründen der angefochtenen Entscheidung ein Fall der notwendigen Verteidigung nicht gegeben. Im Einzelnen:
a) Weder die Dauer der bislang vollstreckten Strafe noch der zu vollstreckende Strafrest lassen den Vollstreckungsfall als so schwerwiegend erscheinen, dass eine Verteidigung notwendig im Sinne des § 140 Abs. 2 StPO wäre (vgl. dazu BVerfG, Beschluss vom 26. August 2008 - 2 BvR 335/08, juris Rn. 6; anders: OLG Celle, Beschluss vom 3. Dezember 2019 - 2 Ws 352/19 u.a., juris Rn. 12). Dabei kann dahinstehen, ob mit Blick auf die „PKH-Richtlinie“ eine rückwirkende Pflichtverteidigerbestellung möglich (vgl. dazu OLG Nürnberg, Beschluss vom 6. November 2020 - Ws 962/20 u.a., juris Rn. 24 ff.) und deshalb hinsichtlich der Bestimmung des Strafrests auf den Zeitpunkt der Antragstellung abzustellen ist, denn auch die Dauer der am 28. März 2022 noch zu vollstreckenden Freiheitsstrafe von ca. einem Jahr und neun Monaten ragt über den Durchschnitt nicht dergestalt heraus, dass sie eine besondere Schwere des Vollstreckungsfalles zu begründen vermag (vgl. dazu auch Hamburgisches OLG, Beschluss vom 27. Dezember 2005 - 1 Ws 194/05, juris Rn. 4).
b) Die Notwendigkeit der Verteidigung ergibt sich im Übrigen nicht schon daraus, dass das Verfahren gemäß § 462a Abs. 5 Satz 1 StPO vor einem Oberlandesgericht geführt wird. Hinsichtlich der Zuständigkeitsregelung des § 462a Abs. 5 Satz 1 StPO hat der Gesetzgeber angenommen, dass das Oberlandesgericht für den speziellen Täterkreis, über den es erstinstanzlich zu entscheiden hat, die Resozialisierungsgesichtspunkte bei anfallenden Nachtragsentscheidungen aufgrund seiner - auf der Zuständigkeitskonzentration basierenden - besonderen Sachkunde besser abschätzen kann (BT-Drucks. 7/550 S. 314; vgl. auch KKStPO/Appl, StPO, 8. Aufl., § 462a Rn. 28). Dies bedeutet indes nicht, dass jede durch das Oberlandesgericht zu treffende Entscheidung im Vollstreckungsverfahren besondere Schwierigkeiten in der Sach- oder Rechtslage aufweist. Es kommt dabei - ebenso wie in Verfahren vor der Strafvollstreckungskammer - auf den Einzelfall an.
c) Auch die konkreten Umstände des Verfahrens, insbesondere die bislang dem Kammergericht vorliegenden Einschätzungen zur Legalprognose des Verurteilten, lassen die Sach- und Rechtslage als nicht so schwierig erscheinen, dass die Mitwirkung eines Verteidigers notwendig wäre. Zwar kann die Erörterung eines kriminologischen Gutachtens im Sinne des § 454 Abs. 2 StPO gerade bei divergierenden Prognoseeinschätzungen eine Pflichtverteidigung erfordern (vgl. dazu Brandenburgisches OLG, Beschluss vom 27. Dezember 2005 - 1 Ws 194/05, StV 2007, 95; OLG Hamm, Beschluss vom 14. September 2009 - 2 Ws 239/09, juris Rn. 13 ff.; OLG Celle, Beschluss vom 3. Dezember 2019 - 2 Ws 352/19 u.a., juris Rn. 16; vgl. auch MüKoStPO/Thomas/Kämpfer, § 140 Rn. 41); ein solcher Fall ist vorliegend indes nicht gegeben. Ein Gutachten im Sinne des § 454 Abs. 2 StPO liegt bislang weder vor, noch beabsichtigt das Kammergericht, ein solches einzuholen. Die vom Beschwerdeführer genannte Stellungnahme der zuständigen Anstaltspsychologin ist zwar unter Heranziehung der wissenschaftlichen Methode „VERA-2R“ erstellt worden, es handelt sich dabei jedoch nicht um ein Prognosegutachten nach § 454 Abs. 2 StPO, sondern um ein nach § 8 StVollzG Bln standardmäßig durchzuführendes Diagnostikverfahren zur Vorbereitung der Vollzugs- und Eingliederungsplanung. Dieser Zwecksetzung folgend enthält die Stellungnahme vorwiegend Behandlungsempfehlungen für den weiteren Vollzug. Soweit dabei von einer „günstigen legalprognostischen Entwicklung“ ausgegangen wird, bezieht sich dies darauf, dass nach Einschätzung der Verfasserin der weitere Vollzug unter der Prämisse einer möglichen vorzeitigen Haftentlassung ausgestaltet werden soll, ohne jedoch die aktuellen Voraussetzungen für eine solche zu bewerten. Letzteres ist vielmehr Gegenstand der Stellungnahme der Justizvollzugsanstalt H. (§ 454 Abs. 1 Satz 2 StPO). Diese hat sich mit den Ergebnissen des Diagnostikverfahrens intensiv auseinandergesetzt, allerdings - wie auch die Justizvollzugsanstalt M. - eine Aussetzung der Restfreiheitsstrafe nicht befürwortet. Vor diesem Hintergrund liegen keine unterschiedlichen Einschätzungen zur Legalprognose nach § 454 Abs. 1 Satz 2 StPO vor. Dahingestellt bleiben kann, ob die Risikoanalyse des Bundeskriminalamtes nach wissenschaftlichen Kriterien durchgeführt worden ist. Denn diese hat der Staatsanwaltschaft lediglich zur Vorbereitung ihrer Stellungnahme nach § 454 Abs. 1 Satz 2 StPO gedient. Eine mündliche Anhörung des Verurteilten ist abgesehen von den in § 454 Abs. 1 Satz 4 StPO normierten Ausnahmen vor jeder Entscheidung über die Aussetzung des Rests einer Freiheitsstrafe zur Bewährung durchzuführen (§ 454 Abs. 1 Satz 3 StPO). Die mündliche Erörterung der bereits schriftlich vorliegenden Einschätzung der Anstaltspsychologin hat mit Blick auf die Zwecksetzung des Diagnostikverfahrens (s.o.) die Mitwirkung eines Verteidigers nicht notwendig vorausgesetzt.
Auch unter zusammenfassender Berücksichtigung sämtlicher Aspekte des bisherigen Vollstreckungsverfahrens liegt kein Fall notwendiger Verteidigung nach § 140 Abs. 2 StPO vor.
d) Es ist ferner weder vorgetragen noch sonst ersichtlich, dass der Verurteilte unfähig ist, seine Rechte sachgerecht selbst wahrzunehmen.
3. Die Kostenentscheidung folgt aus § 473 Abs. 1 StPO.
HRRS-Nummer: HRRS 2022 Nr. 809
Bearbeiter: Christian Becker