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HRRS-Nummer: HRRS 2022 Nr. 1016

Bearbeiter: Julia Heß/Karsten Gaede

Zitiervorschlag: BGH, 2 ARs 96/22, Beschluss v. 24.05.2022, HRRS 2022 Nr. 1016


BGH 2 ARs 96/22 2 AR 27/22 - Beschluss vom 24. Mai 2022

Zuständigkeitsbestimmung durch das gemeinschaftliche obere Gericht (Entscheidung über den Widerruf der Strafaussetzung zur Bewährung: Zuständigkeit der Strafvollstreckungskammer, Befasstsein, abschließende Entscheidung der Sache).

§ 14 StPO; § 462a StPO

Entscheidungstenor

Für die Entscheidung über den Widerruf der mit Urteil des Amtsgerichts Essen vom 26. Mai 2020 - 40 Ds-56 Js 1209/19-59/20 - gewährten Strafaussetzung zur Bewährung ist das Landgericht - Strafvollstreckungskammer - Bonn zuständig.

Gründe

Die Strafvollstreckungskammern bei den Landgerichten Bonn und Essen streiten darüber, welches von ihnen für die Entscheidung über den Widerruf der mit Urteil des Amtsgerichts Essen vom 26. Mai 2020 gewährten Strafaussetzung zur Bewährung zuständig ist.

1. a) Das Amtsgericht Essen verhängte gegen den Verurteilten im Verfahren 40 Ds-56 Js 1209/19-59/20 am 26. Mai 2020 wegen Fahrens ohne Fahrerlaubnis in Tateinheit mit Straßenverkehrsgefährdung eine Freiheitsstrafe von zehn Monaten, deren Vollstreckung es für die Dauer von drei Jahren zur Bewährung ausgesetzt hat. Nachdem das Landgericht Bonn aufgrund dort laufender Führungsaufsicht am 3. September 2020 um Übersendung des Bewährungshefts zum Zwecke der Übernahme gebeten hatte, gab das Amtsgericht Essen mit Beschluss vom 6. Oktober 2020 die weiteren die Strafaussetzung zur Bewährung betreffenden Entscheidungen gemäß § 462a Abs. 1, § 453 Abs. 1 StPO an das Landgericht Bonn ab. Mit Verfügung vom 13. Oktober 2020 übernahm das Landgericht Bonn die Bewährungsüberwachung.

b) Mit Schreiben vom 2. Dezember 2020 informierte die Bewährungshelferin des Verurteilten das Landgericht Bonn darüber, dass nach Mitteilung des Verurteilten gegen ihn ein neues Verfahren wegen „Autodiebstahls“ anhängig sei. Mit Schreiben vom 25. Februar 2021 teilte sie dem Landgericht Bonn mit, dass sich der Verurteilte seit dem 23. Februar 2021 aufgrund eines vom Amtsgericht Gelsenkirchen ausgestellten Haftbefehls in Untersuchungshaft in der Justizvollzugsanstalt Essen befinde.

c) Am 17. März 2021 ging die zum Amtsgericht Gelsenkirchen erhobene Anklageschrift der Staatsanwaltschaft Essen vom 26. Februar 2021 bei der Strafvollstreckungskammer bei dem Landgericht Bonn ein. Dem Verurteilten wurden in der Anklageschrift mehrere tateinheitlich am 23. Februar 2021 begangene Straftaten - unter anderem vorsätzliches Fahren ohne Fahrerlaubnis - zur Last gelegt. Mit Schreiben vom 15. April 2021 unterrichtete die Bewährungshelferin des Verurteilten die Strafvollstreckungskammer bei dem Landgericht Bonn, dass der Verurteilte am 12. März 2021 in diesem Verfahren wegen Fahrens ohne Fahrerlaubnis zu einer unbedingten Freiheitsstrafe von zehn Monaten verurteilt worden sei; das Urteil sei noch nicht rechtskräftig. Aus den am 19. Mai 2021 beim Landgericht Bonn eingegangenen Urteilsgründen ist ersichtlich, dass sich der Verurteilte in der Hauptverhandlung geständig eingelassen hat.

Mit Telefaxschreiben vom 2. November 2021 teilte die Bewährungshelferin dem Landgericht Bonn unter anderem mit, dass sich der Verurteilte für ein weiteres - anderes - Verfahren weiterhin in der Justizvollzugsanstalt Essen befinde, was auch dem Vollstreckungsblatt der Justizvollzugsanstalt Essen zu entnehmen war, das am 12. November 2021 beim Landgericht Bonn einging.

d) Mit weiterem Telefaxschreiben vom 26. November 2021 berichtete die Bewährungshelferin dem Landgericht Bonn, dass der Verurteilte am selben Tag vom Amtsgericht Gelsenkirchen in der anderen Sache rechtskräftig zu einer weiteren unbedingten Freiheitsstrafe von einem Jahr und vier Monaten verurteilt worden und das Urteil gemäß § 35 BtMG zurückstellungsfähig sei. Bis zum Therapieantritt werde der Verurteilte in Haft bleiben.

e) Die Staatsanwaltschaft Essen beantragte am 9. Dezember 2021 gegenüber dem Landgericht Bonn den Widerruf der bewilligten Strafaussetzung zur Bewährung. Die Strafvollstreckungskammer bei dem Landgericht Bonn teilte sodann dem Verurteilten mit Schreiben vom 17. Dezember 2021 mit, dass sie vor dem Hintergrund des Urteils des Amtsgerichts Gelsenkirchen vom 26. November 2021 den Widerruf der Strafaussetzung zur Bewährung erwäge, und gab dem Verurteilten Gelegenheit, sich hierzu binnen zehn Tagen ab Zugang des Schreibens zu äußern.

f) Mit Beschluss vom 30. Dezember 2021 erklärte sich die Strafvollstreckungskammer bei dem Landgericht Bonn für örtlich unzuständig und gab das Verfahren an die Strafvollstreckungskammer bei dem Landgericht Essen ab. Sie vertritt die Auffassung, die Strafvollstreckungskammer bei dem Landgericht Essen sei am 26. November 2021, als das Landgericht Bonn von der rechtskräftigen Verurteilung des Amtsgerichts Gelsenkirchen vom selben Tag erfahren habe, bereits mit der Sache befasst im Sinne von § 462a Abs. 1 Satz 1 StPO gewesen.

Mit Beschluss vom 24. Januar 2022 erklärte sich die Strafvollstreckungskammer bei dem Landgericht Essen hinsichtlich der Entscheidung über den Widerruf der Strafaussetzung zur Bewährung für örtlich unzuständig und legte die Sache dem Bundesgerichtshof zur Entscheidung vor.

2. Der Bundesgerichtshof ist nach § 14 StPO als gemeinschaftliches oberstes Gericht der Landgerichte Bonn (Bezirk des Oberlandesgerichts Köln) und Essen (Bezirk des Oberlandesgerichts Hamm) zur Entscheidung des Zuständigkeitsstreits berufen.

3. Für die Entscheidung über den Widerruf der Strafaussetzung zur Bewährung ist gemäß § 462a Abs. 1 Satz 1 StPO i.V.m. § 453 StPO die Strafvollstreckungskammer bei dem Landgericht Bonn zuständig, weil sie bereits bei Übergang der Untersuchungshaft in Strafhaft am 26. November 2021 mit der Frage des Widerrufs der Strafaussetzung zur Bewährung befasst war und wegen der bei ihr andauernden Führungsaufsicht ihre einmal begründete Zuständigkeit noch nicht entfallen war (§ 462a Abs. 1 und 4 StPO; vgl. Senat, Beschluss vom 20. Juli 1978 - 2 ARs 180/78, BGHSt 28, 82 f.; OLG Zweibrücken, NStZ 2010, 109).

Der Generalbundesanwalt hat in seiner Antragsschrift vom 3. März 2022 u.a. ausgeführt:

„Wird gegen einen Verurteilten eine Freiheitsstrafe vollstreckt, so ist für alle den Verurteilten betreffenden nachträglichen Entscheidungen die Strafvollstreckungskammer zuständig, in deren Bezirk die Strafanstalt liegt (§ 462a Abs. 1 Satz 1, Abs. 4 Sätze 1, 3 StPO). Dies gilt unabhängig davon, ob während oder - wie hier - nach der Zeit der Inhaftierung eine Entscheidung in der Sache zu treffen ist (Senat, Beschluss vom 9. Oktober 1981 - 2 ARs 293/81, BGHSt 30, 223 ff.). Auch nach der Entlassung des Verurteilten aus dem Strafvollzug bleibt die Strafvollstreckungskammer für alle weiteren ihn betreffenden nachträglichen Entscheidungen zuständig (§ 462a Abs. 1 Satz 2 StPO). Die einmal begründete Zuständigkeit der Strafvollstreckungskammer wirkt fort und endet erst, wenn die Vollstreckung hinsichtlich aller Verurteilungen, für die die Strafvollstreckungskammer infolge des Konzentrationsprinzips zuständig geworden ist, vollständig erledigt ist oder eine anderweitige Vollstreckung im Bereich eines anderen Landgerichts stattgefunden hat (Senat, Beschluss vom 6. April 2007 - 2 ARs 115/07; OLG Zweibrücken, Beschluss vom 15. Juni 2006 - 1 Ws 139/01, NStZ 2010, 109; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 62. Aufl., § 462a Rn. 13 mwN).

Bei Entscheidungen, die wie die Frage des Widerrufs der Strafaussetzung von Amts wegen zu treffen sind, wird die Strafvollstreckungskammer schon dann mit der Frage befasst, wenn Tatsachen aktenkundig werden, die den Widerruf rechtfertigen können (Senat, Beschlüsse vom 15. März 2000 - 2 ARs 41/00, NStZ 2000, 391 und vom 16. April 1997 - 2 ARs 112/97, NStZ 97, 406; KG Berlin, Beschluss vom 15. Juni 2006 - 1 AR 212/06 - 5 Ws 81/06, juris). Aktenkundigkeit und damit Befasstsein der bislang zuständigen Strafvollstreckungskammer liegen bereits dann vor, wenn ihr eine neue Verurteilung, eine Anklageschrift oder ein Haftbefehl in einer neuen Sache oder der Bericht eines Bewährungshelfers mitgeteilt werden, aus dem sich Widerrufsgründe ergeben (Senat, Beschluss vom 9. Juni 2015 - 2 ARs 113/15, NStZ-RR 2005, 69; OLG Hamm, Beschluss vom 19. Februar 2009 - 3 Ws 44/09, NStZ 2010, 295; Meyer-Goßner/ Schmitt, StPO, 62. Aufl., § 462a Rn. 11b).

[…] Durch die Übersendung der Anklageschrift der Staatsanwaltschaft Essen vom 26. Februar 2021 […] wurde dem Landgericht Bonn im Nachgang zu den Mitteilungen der Bewährungshelferin der dem Verurteilten im Einzelnen angelastete Lebenssachverhalt bekannt. Aus den Gründen des in dieser Sache ergangenen Urteils des Amtsgerichts Gelsenkirchen vom 12. März 2021, eingegangen bei der Strafvollstreckungskammer Bonn am 19. Mai 2021, war überdies ersichtlich, dass sich der Verurteilte hinsichtlich des Vorwurfs, vorsätzlich ohne Fahrerlaubnis ein Fahrzeug geführt zu haben, in der Hauptverhandlung geständig eingelassen hatte […].

Angesichts des nach der Verurteilung vom 26. März 2020 im Verfahren 40 Ds-56 Js 1209/19-59/20 erfolgten einschlägigen strafrechtlichen Verhaltens, welches der Verurteilte geständig eingeräumt hatte, lag ein möglicher Widerrufsgrund gem. § 56f Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 StGB vor; ein glaubhaftes Geständnis der neuen Tat vor einem Richter reicht hierfür nach der Rechtsprechung aus (BVerfG, Beschluss vom 9. Dezember 2004 - 2 BvR 2114/04, NStZ 2005, 204; Fischer, StGB, 69. Aufl., § 56f Rn. 7a mwN). Das Landgericht Bonn hatte daher Anlass, den Widerruf der Strafaussetzung zur Bewährung zu prüfen.

[…] Eine endgültige Entscheidung, dass das dem Verurteilten im Verfahren der Staatsanwaltschaft Gelsenkirchen [richtig: Essen] angelastete Verhalten keinen Widerrufsgrund darstellte, hat das Landgericht Bonn nicht getroffen. Die Strafvollstreckungskammer bei dem Landgericht Bonn hätte daher spätestens nach dem (rechtskräftigen) Abschluss dieses Verfahrens die Frage des Widerrufs nochmals prüfen müssen.

Das Befasstsein mit einer Sache im Sinne von § 462a Abs. 1 StPO endet jedoch erst, wenn in der Sache abschließend entschieden worden ist; vorher tritt ein Wechsel der örtlichen Zuständigkeit für die Entscheidung über die anhängige Sache nicht ein (Senat, Beschluss vom 8. Juli 1975 - 2 ARs 181/75, BGHSt 26, 165 ff.; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 62. Aufl., § 462a Rn. 12 f. mwN).

Das am 26. November 2021 rechtskräftig abgeurteilte weitere Tatgeschehen […] stellte lediglich eine weitere bei der Entscheidung über den Widerruf zu berücksichtigende Tatsache dar. Es trifft indes nicht zu, dass das Landgericht Bonn […] erst am 26. November 2021 mit der Sache befasst worden wäre, zumal auch zuvor aufgrund des Schreibens der Bewährungshelferin vom 2. November 2021 und des beim Landgericht Bonn am 12. November 2021 eingegangenen Vollstreckungsblatts der Justizvollzugsanstalt Essen […] bekannt war, dass sich der Verurteilte für ein weiteres neues Strafverfahren in Untersuchungshaft befand.

Mit der Aufnahme des Verurteilten in die Justizvollzugsanstalt Essen wurde zwar eine originäre neue Konzentrationszuständigkeit der Strafvollstreckungskammer bei dem Landgericht Essen begründet, die sich auf nachträgliche Entscheidungen wegen aller rechtskräftigen Verurteilungen erstreckt. Soweit die fortwirkend zuständige Strafvollstreckungskammer bei dem Landgericht Essen [richtig: Bonn] bei Beginn des Strafvollzugs bereits mit einer konkreten Fragestellung - dem Widerruf der Strafaussetzung zur Bewährung - befasst war, bleibt diese in Bezug auf diese Frage bis zu deren abschließenden Entscheidung neben der anderweitig bestehenden Konzentrationszuständigkeit der Strafvollstreckungskammer bei dem Landgericht Essen hierfür zuständig. Die Vorrangregelung des § 462a Abs. 4 Satz 3 StPO gilt hingegen nur im Verhältnis zwischen erstinstanzlichem Gericht und Strafvollstreckungskammer (vgl. Senat, Beschlüsse vom 19. August 1981 - 2 ARs 174/81, BGHSt 30, 189 ff., vom 21. Juli 2006 - 2 ARs 30/06 - Rn. 5, NStZ-RR 2007, 94 und vom 14. August 2021 - 2 ARs 174/81, BGHSt 26, 165 ff.; KK-StPO/Appl, 8. Aufl., § 462a Rn. 16).“

Diesen Ausführungen schließt sich der Senat an.

HRRS-Nummer: HRRS 2022 Nr. 1016

Bearbeiter: Julia Heß/Karsten Gaede