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HRRS-Nummer: HRRS 2023 Nr. 1102

Bearbeiter: Julia Heß/Karsten Gaede

Zitiervorschlag: BGH, 2 StR 77/22, Beschluss v. 19.07.2023, HRRS 2023 Nr. 1102


BGH 2 StR 77/22 - Beschluss vom 19. Juli 2023 (LG Köln)

Betrug (Vermögensschaden: Beweiswürdigung, Täuschung über Eigenart und Risiko des Geschäfts, Zeitpunkt).

§ 263 StGB; § 261 StPO

Entscheidungstenor

Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Köln vom 28. Oktober 2021 mit den Feststellungen aufgehoben.

Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere als Wirtschaftsstrafkammer zuständige Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Betruges in vier Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren verurteilt und die Einziehung des Wertes von Taterträgen angeordnet. Dagegen wendet sich der Beschwerdeführer mit seiner auf die Rüge der Verletzung materiellen Rechts gestützten Revision. Das Rechtsmittel hat Erfolg.

I.

1. Nach den Feststellungen des Landgerichts begann der als Bankkaufmann ausgebildete Angeklagte schon frühzeitig verschiedene Formen von Geldanlagen für private Personen zu tätigen. Seine Angebote von Tages- und Festgeldanlagen und Neuemissionen unter verschiedenen vom Angeklagten genutzten Firmennamen beruhten auf einer festen Zins- und Gewinnzusage. Die Vereinbarungen mit den Anlegern enthielten - „wie bei vergleichbaren Tages- und Festgeldkonten ähnlicher Bankinstitute - keinerlei Angaben zur Verwendung der Gelder“.

Trotz der weltweiten Finanzkrise ab dem Jahr 2008 änderte der Angeklagte seine über dem Marktniveau liegenden Zinsversprechen zunächst nicht ab. Da er die vergleichsweise hohen Zinsen nicht mehr mit sicheren Anlageformen erwirtschaften konnte, begann er das Geld der Anleger - ohne ihnen dieses mitzuteilen - in Aktien zu investieren. Spätestens im Jahr 2014 führten diese im Ergebnis verlustreichen Geschäfte zu einer ganz erheblichen Kapitallücke. Auf den Konten des Angeklagten befanden sich Mitte 2014 „kaum mehr nennenswerte Werte“; die meisten Konten befanden sich „im Soll“. Zugleich schuldete der Angeklagte seinen Anlegern insgesamt jedenfalls einen Geldbetrag „im Bereich von etwa 450.000 Euro“, wobei die Strafkammer das exakte Gesamtanlagevolumen nicht mehr aufklären konnte; der Angeklagte, der zunehmend den Überblick über sein Finanzsystem verloren hatte, ging im Jahr 2014 von einer Lücke in Höhe von jedenfalls 100.000 € aus.

Um die Kapitallücke zu schließen, verwendete der Angeklagte die Anlegergelder für hochriskante Optionsgeschäfte, ohne die Anleger darüber in Kenntnis zu setzen. Anfänglich erzielte Gewinne reichten nicht aus, um die Zinsversprechen zu erfüllen, zumal er „mit der Zeit durch Optionsgeschäfte auch vermehrt große Verluste realisierte.“ Soweit der Angeklagte Auszahlungswünschen nachkam, nutzte er „spätestens ab dem Jahr 2014 hierfür auch - vergleichbar mit einem ‚Schneeballsystem‘ - neu eingehende Gelder anderer Anleger“, um den Schein zu wahren, dass das angelegte Geld „sicher sei“. Mangels ausreichender anderweitiger Einnahmen bestritt der Angeklagte seine privaten laufenden Kosten und seine sonstigen - nicht luxuriösen - privaten Ausgaben ebenfalls aus den Anlegergeldern.

2. Der Verurteilung liegen vier Fälle zugrunde, in denen die Geschädigten zwischen August 2015 und Mai 2018 bei dem Angeklagten Beträge in Höhe von 100.00 Euro (Fälle II. 5. b) und c) der Urteilsgründe), 290.000 Euro (Fall II. 5. a) cc) der Urteilsgründe) und 680.000 Euro (Fall II. 5. a) bb) der Urteilsgründe) als Tages- bzw. Festgeld anlegten.

II.

1. Die Verurteilung wegen Betruges in vier Fällen hält rechtlicher Prüfung nicht stand, weil es schon an hinreichenden Feststellungen dafür fehlt, dass in den ausgeurteilten Fällen jeweils ein Vermögensschaden im Sinne des § 263 StGB eingetreten ist.

a) Ein Vermögensschaden im Sinne des § 263 Abs. 1 StGB liegt vor, wenn die Vermögensverfügung des Getäuschten bei wirtschaftlicher Betrachtungsweise unmittelbar zu einer nicht durch Zuwachs ausgeglichenen Minderung des wirtschaftlichen Gesamtwerts seines Vermögens führt (Prinzip der Gesamtsaldierung; vgl. etwa BGH, Beschluss vom 18. Februar 2009 - 1 StR 731/08, BGHSt 53, 199, 201 mwN). Maßgeblich ist der Zeitpunkt der Vermögensverfügung, also der Vergleich des Vermögenswerts unmittelbar vor und nach der Verfügung (st. Rspr.; vgl. nur BGH, Beschluss vom 19. Mai 2021 - 1 StR 496/20, NStZ-RR 2021, 310, 311 mwN). Danach ist dem jeweils angelegten Betrag der Wert des gleichzeitig erlangten Rückzahlungsanspruchs gegenüberzustellen. Der Rückzahlungsanspruch wird - bei grundsätzlich gegebener Zahlungswilligkeit des Schuldners - maßgeblich durch dessen Bonität und den Wert gegebenenfalls gestellter Sicherheiten bestimmt. Der Wert dieser Forderung bestimmt sich - wie auch sonst beim Vermögensvergleich - nach wirtschaftlicher Betrachtungsweise (vgl. BGH, Urteil vom 26. November 2015 - 3 StR 247/15, NStZ 2016, 343 f. mwN) und ist nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (vgl. Beschlüsse vom 23. Juni 2010 - 2 BvR 2559/08 u.a., BVerfGE 126, 170, 224 f., 230 f., und vom 7. Dezember 2011 - 2 BvR 2500/09 u.a., BVerfGE 130, 1, 47 f.) konkret festzustellen und zu beziffern.

b) Diesen Maßstäben wird das landgerichtliche Urteil nicht gerecht.

aa) Soweit die Strafkammer den Vermögensschaden darauf stützt, dass die „Anleger“ über Eigenart und Risiko des Geschäfts derart getäuscht worden seien, dass sie etwas völlig anderes erworben hätten, als die von ihnen gewünschte „sichere, konservative Wertanlage“, begegnet dies durchgreifenden rechtlichen Bedenken. Zwar ließe sich ein Vermögensschaden grundsätzlich auch auf das höhere Ausfallrisiko zweckwidrig verwendeter Anlagegelder stützen (vgl. BGH, Beschluss vom 4. Februar 2014 - 3 StR 347/13, NStZ 2014, 457). Aus den getroffenen Feststellungen ergibt sich jedoch weder, zu welchen Zeitpunkten die Auszahlungsansprüche fällig wurden, noch dass sich der Angeklagte mit den Geschädigten darüber geeinigt hat, auf welche konkrete Art und Weise die angelegten Gelder zu verwenden seien.

Nach den Feststellungen enthielten „die Vereinbarungen - wie bei vergleichbaren Tages- und Festgeldkonten ähnlicher Bankinstitute - keinerlei Angaben zur Verwendung der Gelder“, mithin keine über die Risikoverteilung eines Darlehensvertrages hinausgehende Absprache. Eine solche wird auch nicht dadurch belegt, dass der Angeklagte mit der Verwendung „Festgeld“ eine „Sicherheit der Anlage“ suggerierte und die Geschädigten nicht damit rechneten, „dass ein nicht unerhebliches Ausfallrisiko bestand“ (vgl. auch BGH, Beschluss vom 26. August 2003 - 5 StR 145/03, BGHSt 48, 331, 345).

bb) Das Landgericht hat die für jeden Einzelfall erforderliche Schadensermittlung unterlassen. Zur Feststellung des Schadens im Sinne des § 263 Abs. 1 StGB genügt es nicht, pauschal auf eine teilweise mehrere Jahre vor der konkreten Einzeltat bestehende „erhebliche Kapitallücke“ oder auf den jeweils eingetretenen Vermögensverlust abzustellen, der den „Anlegern“ entstanden ist. Die Strafkammer hätte vielmehr - gegebenenfalls mit sachverständiger Beratung - für jeden Zeitpunkt der Vermögensverfügung der Geschädigten den jeweiligen Wert des Rückzahlungsanspruchs unter Berücksichtigung der Bonität des Angeklagten ermitteln müssen. Nur bei Vorliegen eines täuschungsbedingten Minderwerts des Darlehensrückzahlungsanspruchs zu diesem Zeitpunkt wäre die Annahme eines Schadens - ohne dass es auf den tatsächlichen Verlauf des Darlehensverhältnisses (noch) ankommt - gerechtfertigt.

(1) Das Landgericht hat sich nicht hinreichend mit den Vermögenswerten des Angeklagten auseinandergesetzt, obwohl dazu - wie vom Generalbundesanwalt im Einzelnen dargelegt - Anlass bestanden hätte. Der Angeklagte hat sich - auch im Tatzeitraum - durch die Aufnahme privater Darlehen und der Teilentnahme aus einer Lebensversicherung Liquidität verschafft; Auszahlungswünsche von Anlegern konnte er u.a. mit Hilfe seiner - nicht näher bezifferten - „Wertpapierbestände“ und Guthaben auf „seinen Konten“ befriedigen. Bei der erforderlichen Bestimmung des jeweiligen Wertes des Rückzahlungsanspruchs hat das Landgericht diese Vermögenswerte nicht erkennbar berücksichtigt.

(2) Das Landgericht versäumt es, die Höhe der Schulden des Angeklagten für jeden Zeitpunkt der Vermögensverfügung der Geschädigten konkret zu bemessen. Der pauschale Hinweis, wonach „spätestens im Jahr 2014 eine erhebliche Kapitallücke auf Seiten des Angeklagten“ bestanden habe, bleibt schon angesichts unterschiedlicher in den Urteilsgründen genannter Beträge und mit Blick darauf, dass die Strafkammer eine Festlegung vermeidet, nicht nachvollziehbar.

Dies gilt insbesondere vor dem Hintergrund, dass der Angeklagte im Jahr 2014 einen „Handel mit Optionsscheinen“ tätigen und damit auch Gewinne erzielen konnte, obwohl „sich auf seinen Konten […] Mitte 2014 kaum mehr nennenswerte Werte befanden und die meisten Konten im Soll lagen.“ 2. Der aufgezeigte Rechtsfehler entzieht dem Urteil die Grundlage; es war daher mit den Feststellungen aufzuheben. Die Sache bedarf insgesamt neuer Verhandlung und Entscheidung. Das neue Tatgericht wird den subjektiven Tatbestand des § 263 Abs. 1 StGB vor dem Hintergrund, dass es zwischen dem Angeklagten und den Geschädigten keinerlei Absprachen zur Verwendungsweise der angelegten Gelder gegeben hat, ausführlicher als bislang geschehen in den Blick zu nehmen haben.

Im Übrigen wird der neue Tatrichter im Hinblick auf die Dauer des Revisionsverfahrens eine Kompensationsentscheidung wegen einer rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung in den Blick zu nehmen haben.

HRRS-Nummer: HRRS 2023 Nr. 1102

Bearbeiter: Julia Heß/Karsten Gaede