HRRS-Nummer: HRRS 2023 Nr. 1093
Bearbeiter: Julia Heß/Karsten Gaede
Zitiervorschlag: BGH, 2 StR 48/22, Urteil v. 19.07.2023, HRRS 2023 Nr. 1093
1. Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des Landgerichts Köln vom 15. Juli 2021 mit den Feststellungen aufgehoben.
2. Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Schwurgerichtskammer des Landgerichts zurückverwiesen.
l.
Das Landgericht hat den Angeklagten vom Vorwurf des Totschlags aus tatsächlichen Gründen freigesprochen. Dagegen richtet sich die Revision der Staatsanwaltschaft, mit der sie die Verletzung sachlichen Rechts beanstandet. Das Rechtsmittel hat Erfolg.
1. Die Staatsanwaltschaft hat dem Angeklagten folgendes zur Last gelegt:
Der Angeklagte habe in der Nacht vom 16. auf den 17. April 2019 seinen Nachtdienst als einziger Krankenpfleger auf Station 5 der Inneren Medizin des Krankenhauses W. versehen. Zu den etwa 30 Patienten, für die er in der Nacht alleine zuständig gewesen sei, habe auch der 79 Jahre alte, multimorbide und unter anderem an schwerer Demenz leidende F. gezählt. Im Laufe des Abends und der Nacht sei dieser immer wieder aus seinem Bett aufgestanden und in verwirrtem Zustand laut fluchend auf der Station herumgelaufen. Er habe sich nur unter Protest jedes Mal vom Angeklagten zurück in sein Zimmer führen lassen, wo er gegen Mitternacht auf den Boden uriniert habe. In der Zeit zwischen 2:00 Uhr und 4:55 Uhr soll sich der Angeklagte, wie schon mehrfach zuvor in der Nacht, in das Einzelzimmer des Patienten F. begeben und diesen getötet haben, indem er ihn vorsätzlich ohne rechtfertigenden Grund erwürgt habe.
5 2. Das Landgericht hat folgende Feststellungen getroffen:
a) Der unter zunehmenden gesundheitlichen Beschwerden leidende Verstorbene, dessen Umzug in ein Pflegeheim von seinem gesetzlichen Betreuer bereits im August 2013 veranlasst worden war, wurde am 16. April 2019 wegen Wassereinlagerungen im Körper und Atemnot infolge seiner Herzinsuffizienz in das Krankenhaus W. eingeliefert. In der Notaufnahme wurde F. vom sachverständigen Zeugen Dr. M. untersucht, der unter anderem eine Ultraschalluntersuchung durchführte. Er verschrieb dem Verstorbenen, der regelmäßig verschiedene Medikamente einnehmen musste, weitere Medikamente und ordnete die stationäre Aufnahme an. Während der Untersuchung durch Dr. M. verhielt sich F. wenig kooperativ, beschwerte sich mit lauter Stimme über seine Atemprobleme und forderte vom Personal, auf sein Zimmer gebracht zu werden. Von weiteren therapeutischen Maßnahmen, insbesondere einer Entwässerung mittels eines Blasenkatheters, sah Dr. M. ab, da sich F. bei einem früheren Aufenthalt im Krankenhaus W. den Katheter eigenmächtig gezogen hatte, was zu Blutungen geführt hatte. So hatte sich der Verstorbene wegen seines sich kontinuierlich verschlechternden Gesundheitszustands seit 2015 bereits mehrmals in stationärer Behandlung im Krankenhaus W. befunden. Es wurden zahlreiche gesundheitliche Einschränkungen festgestellt, u.a. eine dekompensierte Herzinsuffizienz mit Vorhofflimmern, chronischer Alkohol- und Nikotinmissbrauch, Bluthochdruck, eine Leberzirrhose, eine chronische Stauungsdermatitis, eine Prostatahyperplasie sowie eine Refluxösophagitis. Ferner wurde im Jahr 2018 eine Demenz mit Weglauftendenzen diagnostiziert.
Neben der Vielzahl an körperlichen Erkrankungen, die aufgrund des schlechten Allgemeinzustands des Verstorbenen mitunter zu Stürzen führte, baute auch seine geistige Leistungsfähigkeit immer weiter ab. Zudem war sein Tag-Nacht-Rhythmus gestört, was dazu führte, dass er nachts wach und unruhig war.
b) Auch in der Nacht vom 16. auf den 17. April 2019 war der Verstorbene unruhig. Nachdem er im Anschluss an die Untersuchung durch Dr. M. auf das auch nachts frei zugängliche Zimmer 507 der Station 5, auf der der Angeklagte - der als ruhig, hilfsbereit und freundlich sowie fachlich als hoch kompetent und stressresistent galt - ab 20.00 Uhr alleine Nachtdienst verrichtete, verbracht worden war, versuchte er etwa viermal, die Station zu verlassen. Der Angeklagte musste ihn bei jeder dieser Gelegenheiten in sein Zimmer zurückführen. Hierbei wurde er lautstark beschimpft. F. hob auch den Arm gegen ihn, ohne jedoch tätlich zu werden. Zudem urinierte und kotete der Verstorbene im Laufe der Nacht auf den Boden seines Zimmers und warf u.a. den dort befindlichen Toilettenstuhl um. Dieses Verhalten hatte auch zur Folge, dass der Angeklagte den Boden mehrfach wischen musste. Über die bestehenden Schwierigkeiten mit seinem Patienten informierte der Angeklagte sodann den diensthabenden Arzt, erklärte diesem aber, er habe „die Lage im Griff“, sein Erscheinen sei nicht nötig.
Gegen 23.30 Uhr wurde ein ebenfalls dementer, 85 Jahre alter Patient mit gestörtem Tag-Nacht-Rhythmus auf die Station gebracht, was der Angeklagte aufgrund der damit verbundenen deutlich höheren Arbeitsbelastung und der damit einhergehenden Dauerbetreuung der beiden dementen Patienten vergeblich zu verhindern versuchte.
F. verstarb am 17. April 2019 zwischen 2.00 und 4.55 Uhr. Einzelheiten zum Tötungsgeschehen konnten nicht festgestellt werden.
3. Das Landgericht vermochte sich keine Überzeugung von der Täterschaft des die Tat bestreitenden Angeklagten zu bilden. Dabei ließ es bei sich widerstreitenden Sachverständigengutachten offen, ob F. eines natürlichen Todes starb oder Opfer eines Tötungsdeliktes wurde, da dem Angeklagten selbst unter der Annahme eines nicht natürlichen Todes des Verstorbenen eine Täterschaft nicht mit der erforderlichen Sicherheit nachzuweisen sei.
Die Revision der Staatsanwaltschaft ist begründet, weil die dem Freispruch zugrundeliegende Beweiswürdigung rechtlicher Nachprüfung nicht standhält.
1. Das Revisionsgericht muss es grundsätzlich hinnehmen, wenn das Tatgericht einen Angeklagten freispricht, weil es Zweifel an seiner Täterschaft nicht zu überwinden vermag. Die Beweiswürdigung ist Sache des Tatrichters (§ 261 StPO). Ihm obliegt es, das Ergebnis der Hauptverhandlung festzustellen und zu würdigen. Seine Schlussfolgerungen brauchen nicht zwingend zu sein, es genügt, dass sie möglich sind (st. Rspr.; vgl. nur Senat, Urteil vom 1. Februar 2017 - 2 StR 78/16, juris Rn. 20 mwN). Es kommt nicht darauf an, ob das Revisionsgericht angefallene Erkenntnisse anders gewürdigt oder Zweifel überwunden hätte. Vielmehr hat es die tatrichterliche Überzeugungsbildung selbst dann hinzunehmen, wenn eine andere Beurteilung näher gelegen hätte oder überzeugender gewesen wäre (vgl. BGH, Urteil vom 24. März 2015 - 5 StR 521/14, NStZ-RR 2015, 178, 179). Die revisionsgerichtliche Prüfung beschränkt sich allein darauf, ob dem Tatrichter Rechtsfehler unterlaufen sind. Dies ist in sachlich-rechtlicher Hinsicht der Fall, wenn die Beweiswürdigung widersprüchlich, unklar oder lückenhaft ist, die Beweiserwägungen gegen Denkgesetze oder allgemeine Erfahrungssätze verstoßen oder der Tatrichter überspannte Anforderungen an die tatrichterliche Überzeugungsbildung gestellt hat. Erforderlich ist insoweit nicht eine absolute, das Gegenteil denknotwendig ausschließende Gewissheit. Vielmehr genügt ein nach der Lebenserfahrung ausreichendes Maß an Sicherheit, das vernünftige Zweifel nicht aufkommen lässt. Dabei haben solche Zweifel außer Betracht zu bleiben, die realer Anknüpfungspunkte entbehren und sich daher letztlich als Spekulation erweisen (Senat, Urteil vom 1. September 1993 - 2 StR 361/93, BGHR StPO § 261 Überzeugungsbildung 22; Urteil vom 22. September 2016 - 2 StR 27/16, juris Rn. 26 mwN; Urteil vom 17. August 2016 - 2 StR 562/15, juris Rn. 10; BGH, Urteil vom 11. April 2002 - 4 StR 585/01, NStZ-RR 2002, 243).
2. Gemessen hieran hält die Beweiswürdigung des Landgerichts rechtlicher Nachprüfung nicht stand. Sie erweist sich in einem wesentlichen Punkt als lückenhaft und stellt zudem überspannte Anforderungen an die tatrichterliche Überzeugungsbildung.
a) Das Landgericht hat zur Todesursache ein Sachverständigengutachten eingeholt. Die Sachverständige ist dabei ausgehend von dem körperlichen Befund des Getöteten, bei dem Zeichen einer komprimierenden Gewalteinwirkung sowie zahlreiche Folgen einer stumpfen Gewalteinwirkung am Körper festgestellt wurden, zu dem Ergebnis gelangt, dass dieser infolge der komprimierenden Gewalteinwirkung auf den Hals verstorben sei. Weitere Zeichen einer Gewalteinwirkung am Körper könnten hingegen bedingt durch mehrere Stürze zu erklären sein.
Demgegenüber ist ein von der Verteidigung gestellter Sachverständiger in seinem Gutachten davon ausgegangen, dass das hochgradig herzkranke Tatopfer eines natürlichen Todes gestorben sei. Die bei ihm festgestellten Verletzungen seien auch ohne Weiteres auf ein Sturzgeschehen rückführbar, wobei er auch durchaus zwei- oder dreimal auf Kanten habe auftreffen können.
Das Landgericht hat offen gelassen, welcher sachverständigen Expertise zu folgen sei. Denn selbst wenn die Strafkammer einen nicht natürlichen Tod und damit ein Tötungsdelikt zu Lasten des Tatopfers angenommen hätte, wäre der Angeklagte aus seiner Sicht freizusprechen gewesen, da ihm eine Täterschaft nicht mit der erforderlichen Sicherheit nachzuweisen sei.
b) Diese Beweiswürdigung, die sich letztlich nicht mit der Frage auseinandersetzt, ob und gegebenenfalls durch welche Tathandlungen gewaltsam auf das Tatopfer eingewirkt worden ist, erweist sich als lückenhaft. Das Landgericht hätte - im Zweifel auch auf der Grundlage eines weiteren Gutachtens - erörtern müssen, wie sich die Vorgänge im Patientenzimmer des Tatopfers entwickelt haben. Das mögliche Tatbild reichte nach den vorliegenden gutachterlichen Einschätzungen von einem natürlichen Ableben mit Stürzen über ohne äußere Einwirkung von Dritten erfolgte Stürze bei davon unabhängiger Gewalteinwirkung auf den Hals bis hin zu gewaltsamen Übergriffen auf den Hals und auch auf den übrigen Körper. Die Strafkammer durfte beweiswürdigend nicht offen lassen, ob Verletzungen durch das Tatopfer „eigenverantwortlich“ oder - zumindest zum Teil -fremdverursacht waren. Vor dem Hintergrund der übrigen Beweislage - der Angeklagte hat die Tat bestritten, auch gab es keine Tatzeugen oder aussagekräftige Sachbeweise, er hatte aber auch grundsätzlich die Möglichkeit zur Tatbegehung und es gab gegebenenfalls einen Anlass für die Tatbegehung durch das Vorverhalten des Tatopfers - hätte das Landgericht die Frage nach der Täterschaft des Angeklagten nur mit Blick auf ein konkretes Tatbild abschließend beantworten können. Hierzu hätte das Landgericht unter Heranziehung der vorhandenen Anknüpfungstatsachen Mindestfeststellungen zum Tatgeschehen treffen müssen (vgl. BGH, Urteil vom 11. März 2020 - 2 StR 69/19, juris Rn. 37). Dabei war angesichts des Umstands, dass der Angeklagte zuvor völlig unbescholten und langjährig als Pfleger gearbeitet hatte, als zu erörternde Möglichkeit ausdrücklich in den Blick zu nehmen, dass es womöglich nach einer Reihe von Ärgernissen im Laufe der Nacht zu einem Augenblicksversagen gekommen sein könnte. Eine Feststellung, dass dies die durch Fremdeinwirkung entstandenen Verletzungen erklären könnte, setzt dabei notwendig voraus, dass geklärt ist, welche Verletzungen selbst verursacht und welche fremdverschuldet sind. Erst dann, wenn Tatsachenfeststellungen zum eigentlichen Tatgeschehen nicht getroffen werden können, stellt sich die insoweit nachrangig zu beantwortende Frage, ob ohne konkrete Feststellungen zum eigentlichen Kerngeschehen der Tat die Überzeugung des Tatrichters auf einem tragfähigen Ausschluss aller in Betracht kommenden Alternativen beruht (vgl. dazu: Senat, Urteil vom 2. Mai 2012 - 2 StR 395/11, StraFo 2012, 466; Beschluss vom 27. Oktober 2015 - 2 StR 4/15, NStZ-RR 2016, 144, 145).
c) Soweit das Landgericht im Übrigen im Rahmen einer knappen Gesamtwürdigung zunächst anführt, dass sich „ansonsten kein Tatmotiv einer anderen Person und damit ein Alternativtäter aufdrängt, der diese Tat begangen haben könnte“, es anschließend aber „bei der gebotenen Sachlage nicht mit der gebotenen Sicherheit auszuschließen“ vermag, „dass eine andere, unbekannt gebliebene Person sich aus einem unbekannt gebliebenen Grund Zutritt zu dem Zimmer des F. in der fraglichen Nacht verschafft und diesen getötet hat“, besorgt der Senat, dass die Strafkammer damit überspannte Anforderungen an eine Überzeugungsbildung gestellt haben könnte. Es gibt nach den dem Urteil zugrunde gelegten Beweisgrundlagen keinen realen Anhaltspunkt dafür, dass eine dritte Person die Tat begangen haben könnte.
d) Die Beweiswürdigungsmängel führen zur Aufhebung der angegriffenen Entscheidung. Der Senat kann nicht ausschließen, dass die Strafkammer bei rechtsfehlerfreier Würdigung zu einer Verurteilung des Angeklagten gelangt wäre.
HRRS-Nummer: HRRS 2023 Nr. 1093
Bearbeiter: Julia Heß/Karsten Gaede