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HRRS-Nummer: HRRS 2023 Nr. 1092

Bearbeiter: Julia Heß/Karsten Gaede

Zitiervorschlag: BGH, 2 StR 46/22, Beschluss v. 19.07.2023, HRRS 2023 Nr. 1092


BGH 2 StR 46/22 - Beschluss vom 19. Juli 2023 (LG Gießen)

BGHR; Spezialitätsgrundsatz des Auslieferungsrechts (Nichtbeachtung: Gesamtstrafe, Vollstreckungshindernis, nachträglich einzubeziehende Vorstrafe, vom Europäischen Haftbefehl nur teilweise umfasste Taten, Nachtragsersuchen).

§ 83h Abs. 1 Nr. 1 IRG; § 460 StPO

Leitsätze

1. Einbeziehung in Gesamtfreiheitsstrafe. (BGHR)

2. Wenn mehrere Taten zur gleichzeitigen Aburteilung anstehen, von denen ein Teil von einer Auslieferungsbewilligung bzw. von einem Europäischen Haftbefehl nicht umfasst sind, darf eine Gesamtstrafe in dieser Konstellation nicht gebildet werden, um dem Spezialitätsschutz hinreichend Rechnung zu tragen. (Bearbeiter)

Entscheidungstenor

1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Gießen vom 6. August 2021 - soweit es ihn betrifft - im Ausspruch über die Gesamtstrafe mit der Maßgabe aufgehoben, dass eine nachträgliche gerichtliche Entscheidung über die Gesamtstrafe nach §§ 460, 462 StPO zu treffen ist.

2. Die weitergehende Revision wird verworfen.

3. Die Entscheidung über die Kosten des Rechtsmittels bleibt dem für das Nachverfahren nach §§ 460, 462 StPO zuständigen Gericht vorbehalten.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen „unerlaubter“ Einfuhr von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in Tateinheit mit Beihilfe zum „unerlaubten“ Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in vier Fällen (Taten II.4.a) bis d)) sowie wegen Beihilfe zur „unerlaubten“ Einfuhr von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in Tateinheit mit Beihilfe zum „unerlaubten“ Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in vier weiteren Fällen (Taten II.4.f) bis i)) zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und elf Monaten verurteilt und eine Anrechnungsentscheidung für die in Polen vollzogene Auslieferungshaft getroffen. Außerdem hat das Landgericht gegen den Angeklagten als Gesamtschuldner die Einziehung „von Wertersatz“ in Höhe von 14.000 € angeordnet und näher bezeichnete Betäubungsmittel eingezogen. Die auf die Rüge der Verletzung sachlichen Rechts gestützte Revision des Angeklagten erzielt den aus der Beschlussformel ersichtlichen Erfolg; im Übrigen ist das Rechtsmittel unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.

1. Die Überprüfung des Urteils hat zum Schuldspruch, zu den Einzelstrafaussprüchen sowie zum Ausspruch über die Anrechnung von erlittener Auslieferungshaft keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten ergeben.

2. Der Ausspruch über die Gesamtstrafe hält dagegen revisionsrechtlicher Nachprüfung nicht stand, soweit das Landgericht über die Einzelstrafen für die Taten II.4.a) und c) der Urteilsgründe hinaus die weiteren Einzelstrafen für die Taten II.4.b), d) sowie f) bis i) der Urteilsgründe einbezogen hat.

a) Der Einbeziehung für die Taten II.4.b), d) sowie f) bis i) der Urteilsgründe steht der das Auslieferungsrecht beherrschende Grundsatz der Spezialität (Art. 14 des Europäischen Auslieferungsübereinkommens, § 83h Abs. 1 IRG) entgegen.

Der Angeklagte ist aufgrund Europäischen Haftbefehls vom 21. Februar 2019, der Bezug nimmt auf den Haftbefehl des Amtsgerichts Gießen vom 14. Februar 2019, von der Republik Polen ausgeliefert worden, nachdem das Bezirksgericht Kielce mit Entscheidung vom 3. April 2019 die Auslieferung bewilligt hatte. Der vorgenannte Europäische Haftbefehl erfasst lediglich die Taten II.4.a) und c) der Urteilsgründe des hiesigen Verfahrens. Nur zur Verfolgung dieser Straftaten ist der Angeklagte, der auf die Beachtung des Spezialitätsgrundsatzes auch nicht verzichtet hatte, von der Republik Polen ausgeliefert worden. Ein Nachtragsersuchen wurde bislang nicht gestellt.

Die Nichtbeachtung des auslieferungsrechtlichen Spezialitätsgrundsatzes für die Taten II.4.b), d) sowie f) bis i) der Urteilsgründe bewirkt nach gefestigter Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ein Vollstreckungshindernis (Senat, Beschluss vom 16. November 2016 - 2 StR 246/16, NStZ-RR 2017, 116; BGH, Beschluss vom 11. Mai 2016 - 1 StR 627/15, NStZ-RR 2016, 290, 291 und vom 25. Juni 2014 - 1 StR 218/14, NStZ 2014, 590 unter Bezugnahme auf das Urteil des EuGH vom 1. Dezember 2008 - Rs. C-388/08 [Leymann und Pustovarov], NStZ 2010, 35, 38 f.).

Der Bundesgerichtshof hat sich - soweit ersichtlich - in zahlreichen Entscheidungen bisher nur mit der Konstellation befasst, dass unter Nichtbeachtung des Spezialitätsgrundsatzes aus einer an sich nachträglich einzubeziehenden Vorstrafe rechtsfehlerhaft eine Gesamtfreiheitsstrafe gebildet wurde (BGH, Beschlüsse vom 1. Februar 2023 - 5 StR 498/22, juris Rn. 3; vom 24. Februar 2022 - 6 StR 48/22, NStZ-RR 2022, 154; Senat, Beschluss vom 28. August 2019 - 2 StR 25/19, juris Rn. 6; BGH, Beschlüsse vom 3. März 2015 - 3 StR 40/15, juris Rn. 5; vom 25. Juni 2014 - 1 StR 218/14, BGHR IRG § 83h Abs. 1 Nr. 1 Spezialitätsgrundsatz 3; vom 27. Juli 2011 - 4 StR 303/11, NStZ 2012, 100). In diesen Fällen durfte eine wegen dieses Hindernisses nicht vollstreckbare Vorstrafe nicht in eine Gesamtstrafe einbezogen werden.

Soweit sich die vorliegende Fallgestaltung - gleichzeitige Aburteilung mehrerer, von der Auslieferungsbewilligung bzw. dem Europäischen Haftbefehl nur teilweise umfasster Taten - in früheren Verfahren stellte, konnte der Bundesgerichtshof diese nach entsprechender Einstellung der insoweit betroffenen Taten noch offenlassen (vgl. BGH, Urteile vom 13. August 2020 - 1 StR 648/18, juris Rn. 10 ff.; vom 9. Mai 2019 - 4 StR 511/18, juris Rn. 7 ff.).

Sinn und Zweck des vorgenannten Grundsatzes der Spezialität, Schutz der Souveränität des um Rechtshilfe (hier: Auslieferung im Rahmen der Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls) ersuchten Staates (vgl. BGH, Beschluss vom 11. Mai 2016 - 1 StR 627/15, NStZ-RR 2016, 290, 293), bedingen es, die vorgenannte Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zur nachträglichen Einbeziehung von Vorstrafen auf die vorliegende Konstellation zu übertragen, in der hinsichtlich der Gesamtstrafensituation eine vergleichbare Verfahrenslage in Rede steht. Der Unterschied zur bisher entschiedenen Fallgruppe besteht lediglich darin, dass keine nachträgliche Gesamtstrafe mit einer dem Spezialitätsschutz unterfallenden Vorstrafe zu bilden war, sondern mehrere Taten zur gleichzeitigen Aburteilung anstanden, von denen ein Teil von der Auslieferungsbewilligung bzw. von dem Europäischen Haftbefehl nicht umfasst war. Um dem Spezialitätsschutz hinreichend Rechnung zu tragen, darf eine Gesamtstrafe in dieser Konstellation (erst recht) nicht gebildet werden.

Zwar käme vorliegend - wie der Generalbundesanwalt in seiner Zuschrift ausführt und auch im Schrifttum vertreten wird (vgl. Ambos/König/Rackow/Meyer, Rechtshilferecht in Strafsachen, 2. Aufl., IRG, § 83h Rn. 1052) - eine vollständige oder mit Blick auf die Einsatzstrafe von zwei Jahren und zehn Monaten im Fall II.4.a) der Urteilsgründe teilweise Zurückstellung der Vollstreckung bis zur Durchführung des Nachtragsersuchens in Betracht, zumal vorliegend bislang nur geringfügig Untersuchungshaft vollstreckt wurde und ein Nachtragsersuchen aller Voraussicht nach erfolgreich sein wird. Diese Vorgehensweise könnte aber in anderen Konstellationen, vor allem bei niedrigeren Einsatz und Einzelstrafen, in der Vollstreckungspraxis zu uneinheitlichen oder unbilligen Ergebnissen führen.

b) Das Landgericht wird somit aus den für die abgeurteilten Verstöße gegen das Betäubungsmittelgesetz rechtsfehlerfrei bestimmten Einzelstrafen von zwei Jahren und zehn Monaten (Tat II.4.a) der Urteilsgründe) und zwei Jahren und zwei Monaten (Taten II.4.c) der Urteilsgründe) unter Beachtung des § 358 Abs. 2 Satz 1 StPO eine neue Gesamtfreiheitsstrafe zu bilden haben. Dies kann im Beschlusswege nach den §§ 460, 462 StPO erfolgen (§ 354 Abs. 1b StPO). Sollten aufgrund einer nachträglichen Zustimmung der Republik Polen oder nach einem jederzeit möglichen Verzicht des Angeklagten auf die Anwendung des Spezialitätsgrundsatzes die übrigen Einzelstrafen vollstreckbar werden, wäre - ebenfalls gemäß § 460 StPO - nachträglich eine (neue) Gesamtstrafe zu bilden (Senat, Urteil vom 28. August 2019 - 2 StR 25/19, juris Rn. 11). Im Rahmen der nachträglichen gerichtlichen Entscheidung wird auch Gelegenheit bestehen zu prüfen, ob angesichts der Tätigkeit des Angeklagten als internationaler Speditionsfahrer (vgl. UA 54) der Spezialitätsschutz nach § 83 Abs. 2 Nr. 1 IRG oder Art. 14 Abs. 1 Buchst. b) des Europäischen Auslieferungsübereinkommens möglicherweise entfallen ist (vgl. BGH, Beschlüsse vom 19. Dezember 2012 - 1 StR 165/12, juris Rn. 8 ff.; vom 9. Februar 2012 - 1 StR 148/11, BGHSt 57, 138, 143).

HRRS-Nummer: HRRS 2023 Nr. 1092

Bearbeiter: Julia Heß/Karsten Gaede