hrr-strafrecht.de - Rechtsprechungsübersicht


HRRS-Nummer: HRRS 2023 Nr. 953

Bearbeiter: Julia Heß/Karsten Gaede

Zitiervorschlag: BGH, 2 StR 318/22, Beschluss v. 14.02.2023, HRRS 2023 Nr. 953


BGH 2 StR 318/22 - Beschluss vom 14. Februar 2023 (LG Aachen)

Einstellung des Verfahrens bei Verfahrenshindernis (Gegenstand der Anklage: keine Nachtragsanklage, prozessuale Tat, tatsächliches Geschehen, natürliche Einheit); Verbreitung, Erwerb und Besitz kinderpornographischer Inhalte (Drittbesitzverschaffung).

§ 206a Abs. 1 StPO; § 184b StGB

Leitsatz des Bearbeiters

Nach ständiger Rechtsprechung bezeichnet die Tat im prozessrechtlichen Sinne den geschichtlichen sowie den damit zeitlich und sachverhaltlich begrenzten Vorgang, auf den Anklage und Eröffnungsbeschluss hinweisen und innerhalb dessen der Angeklagte als Täter oder Teilnehmer einen Straftatbestand verwirklicht haben soll. Den Rahmen bildet also das tatsächliche Geschehen, wie es die Anklage beschreibt. Umfasst werden aber auch alle damit zusammenhängenden und darauf bezüglichen Vorkommnisse und tatsächlichen Umstände, die nach der Auffassung des Lebens eine natürliche Einheit bilden und die in ihren Einzelgeschehnissen, aus denen sie sich zusammensetzen, so eng verknüpft sind, dass eine getrennte Aburteilung zu einer Aufspaltung eines zusammengehörenden Geschehens führen würde.

Entscheidungstenor

1. Auf die Revision der Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Aachen vom 25. April 2022 wird

a) das Verfahren eingestellt, soweit die Angeklagte in den Fällen II. 1 und II. 3 der Urteilsgründe verurteilt worden ist; insoweit fallen die Kosten des Verfahrens und die notwendigen Auslagen der Angeklagten der Staatskasse zur Last;

b) das vorbenannte Urteil aufgehoben

aa) soweit die Angeklagte in den Fällen II. 6 und 7 der Urteilsgründe verurteilt worden ist sowie im

bb) Gesamtstrafenausspruch.

Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die verbleibenden Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

2. Die weitergehende Revision wird verworfen.

Gründe

Das Landgericht hat die Angeklagte wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern in kinderpornographischer Absicht in drei Fällen, jeweils in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch von Schutzbefohlenen und mit der Herstellung und der Drittbesitzverschaffung kinderpornographischer Inhalte, davon in einem Fall in weiterer Tateinheit mit schwerem sexuellen Missbrauch von Kindern und mit Vergewaltigung und davon in einem weiteren Fall in Tateinheit mit sexuellem Übergriff sowie wegen der Drittbesitzverschaffung kinderpornographischer Inhalte in acht Fällen, davon in zwei Fällen in Tateinheit mit der Herstellung kinderpornographischer Inhalte zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von fünf Jahren verurteilt. Die auf die Verletzung formellen und sachlichen Rechts gestützte Revision der Angeklagten hat in dem aus der Beschlussformel ersichtlichen Umfang Erfolg; im Übrigen ist sie unbegründet (§ 349 Abs. 2 StPO).

1. Die Verfahrensrüge ist nicht ausgeführt und deshalb unzulässig (§ 344 Abs. 2 Satz 2 StPO).

2. Der Schuldspruch in den Fällen II. 2, II. 4 - II. 5 sowie II. 8 - II. 11 der Urteilsgründe hält rechtlicher Nachprüfung stand, ebenso die dazu gehörigen Einzelstrafaussprüche.

Hingegen begegnet der Schuldspruch in den Fällen II. 1 und 3 sowie in den Fällen II. 6 und 7 der Urteilsgründe durchgreifenden rechtlichen Bedenken.

a) Das Verfahren ist gemäß § 206a Abs. 1 StPO auf Kosten der Staatskasse (§ 467 Abs. 1 StPO) einzustellen, soweit das Landgericht die Angeklagte im Hinblick auf Taten vom 8. April bzw. 2. Mai 2021 wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern in kinderpornographischer Absicht in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch von Schutzbefohlenen und mit der Herstellung und Drittbesitzverschaffung kinderpornographischer Inhalte in weiterer Tateinheit mit schwerem sexuellem Missbrauch von Kindern und Vergewaltigung (Tat II. 1 der Urteilsgründe) bzw. schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern in kinderpornographischer Absicht in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch von Schutzbefohlenen und mit der Herstellung und Drittbesitzverschaffung kinderpornographischer Inhalte (Tat II. 3 der Urteilsgründe) verurteilt hat. Insofern besteht ein Verfahrenshindernis, weil die Taten nicht Gegenstand der Anklage sind und eine Nachtragsanklage nicht erhoben worden ist.

aa) Die unverändert zur Hauptverhandlung zugelassene Anklage hat der Angeklagten insoweit zur Last gelegt, am 2. September 2021 kinderpornographische Inhalte, die ein tatsächliches oder wirklichkeitsnahes Geschehen wiedergeben, besessen zu haben. Der Tatvorwurf wird im konkreten Anklagesatz dahingehend konkretisiert, dass die Angeklagte am 2. September 2021 unter ihrer Wohnanschrift in Handys bzw. Clouds über 910 kinderpornographische Dateien verfügte. Der Vorwurf mit der Herstellung und Drittbesitzverschaffung kinderpornographischer Inhalte verbundener sexueller Übergriffe am 8. April bzw. 2. Mai 2021 findet weder im Anklagesatz noch im wesentlichen Ermittlungsergebnis Erwähnung.

bb) Nach ständiger Rechtsprechung bezeichnet die Tat im prozessrechtlichen Sinne den geschichtlichen sowie den damit zeitlich und sachverhaltlich begrenzten Vorgang, auf den Anklage und Eröffnungsbeschluss hinweisen und innerhalb dessen der Angeklagte als Täter oder Teilnehmer einen Straftatbestand verwirklicht haben soll (vgl. BGHSt 59, 120, 124). Den Rahmen bildet also das tatsächliche Geschehen, wie es die Anklage beschreibt. Umfasst werden aber auch alle damit zusammenhängenden und darauf bezüglichen Vorkommnisse und tatsächlichen Umstände, die nach der Auffassung des Lebens eine natürliche Einheit bilden (st. Rspr.; vgl. etwa BGHSt 41, 292, 297 f.) und die in ihren Einzelgeschehnissen, aus denen sie sich zusammensetzen, so eng verknüpft sind, dass eine getrennte Aburteilung zu einer Aufspaltung eines zusammengehörenden Geschehens führen würde (BGH NStZ 2001, 436, 437; NStZ 2019, 354).

cc) Gemessen daran stellt sich der allein in der Anklageschrift vorgeworfene Besitz von 910 kinderpornographischen Dateien auf verschiedenen Datenträgern am 2. September 2021 als ein Geschehen dar, das keinerlei tatsächlichen Bezug zum Verschaffens- bzw. Herstellungsvorgang der Dateien aufweist. Demgegenüber stellen sich die zeitlich viel früher, im April bzw. Mai 2021 erfolgten, jetzt in Abweichung von der Anklageschrift abgeurteilten sexuellen Übergriffe der Angeklagten, die mit der Herstellung und Weiterleitung von Videoaufnahmen an einen Dritten verbunden waren, als völlig unterschiedliche Lebensvorgänge dar, die nicht mehr von dem zeitlich und sachverhaltlich auf den Besitz begrenzten Vorwurf in der Anklageschrift erfasst sind.

b) Ferner wird die Annahme des Landgerichts, die Angeklagte habe in den Fällen II. 6 und II. 7 der Urteilsgründe tatmehrheitlich jeweils eine Tat der Drittbesitzverschaffung kinderpornographischer Inhalte begangen, von den Feststellungen nicht getragen. Die Strafkammer ist dabei davon ausgegangen, dass jeweils im Hinblick auf die Versendung von kinderpornographischen Dateien an einen Nutzer eine Tat vorliegt, und hat insoweit die nacheinander erfolgte Übermittlung unterschiedlicher Bilder an einen Nutzer als eine Tat abgeurteilt. Sie hat dabei nicht erwogen, dass die jeweils am 30. Mai 2021 erfolgten Übersendungen an die verschiedenen Nutzer in engem zeitlichen und räumlichen Zusammenhang stehen (Tatzeiten hinsichtlich Fall II. 7 der Urteilsgründe zwischen 11.39 Uhr und 12.10 Uhr, hinsichtlich II. 6 der Urteilsgründe 12.13 Uhr und 18.06 Uhr) und insoweit von einem vorab gefassten Tatentschluss getragen sein könnten (vgl. Senat, Beschluss vom 8. Februar 2013 - 2 StR 136/21). Der Senat sieht sich gehindert, die Taten selbst zu einer Tat zusammenzufassen, weil Feststellungen zu einem für die Annahme einer natürlichen Handlungseinheit erforderlichen umfassenden Tatvorsatz der Angeklagten für die am 30. Mai 2021 veranlasste und insbesondere auch für die erst am 4. Juni 2021 erfolgte weitere Versendung (abgeurteilt auch im Fall II. 7 der Urteilsgründe) der Fotos fehlen. Die Sache bedarf insoweit neuer Verhandlung und Entscheidung. Die rechtsfehlerfrei getroffenen Feststellungen können bestehen bleiben; das neu zur Entscheidung berufene Landgericht ist nicht gehindert, ergänzende Feststellungen zu treffen, die den bisherigen nicht widersprechen.

3. Die Aufhebung des Schuldspruchs in den genannten Fällen führt zum Entfallen der jeweiligen Einzelstrafaussprüche und entzieht der Gesamtstrafe ihre Grundlage.

HRRS-Nummer: HRRS 2023 Nr. 953

Bearbeiter: Julia Heß/Karsten Gaede