HRRS-Nummer: HRRS 2023 Nr. 1275
Bearbeiter: Julia Heß/Karsten Gaede
Zitiervorschlag: BGH, 2 StR 266/22, Urteil v. 19.07.2023, HRRS 2023 Nr. 1275
Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des Landgerichts Köln vom 8. Februar 2022 mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben, soweit der Angeklagte freigesprochen worden ist.
Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen der Verletzung des höchstpersönlichen Lebensbereichs durch Bildaufnahmen zu einer Geldstrafe von 40 Tagessätzen zu je 40 Euro verurteilt. Darüber hinaus hat es den Angeklagten vom Vorwurf der Vergewaltigung freigesprochen und von einer Entscheidung über den Adhäsionsantrag der Nebenklägerin abgesehen.
Die Staatsanwaltschaft wendet sich mit ihrer auf die Rügen der Verletzung formellen und materiellen Rechts gestützten Revision, die vom Generalbundesanwalt vertreten wird, gegen den Teilfreispruch. Darüber hinaus greift sie die Kostenentscheidung, soweit der Angeklagte freigesprochen wurde, mit der sofortigen Beschwerde an.
1. Dem Angeklagten lag aufgrund der unverändert zur Hauptverhandlung zugelassenen Anklage zur Last, in Köln am späten Abend des 22. Februar 2020 in dem gemeinsam mit dem früheren Mitangeklagten Z. genutzten Hotelzimmer an der nach massivem Alkoholkonsum dort tief schlafenden Nebenklägerin ungeschützten vaginalen Geschlechtsverkehr durchgeführt und von ihr nach dem Erwachen ohne ihr Wissen mittels seines Mobiltelefons eine Videoaufnahme gefertigt zu haben, die die Nebenklägerin lediglich in BH und Slip zeigt.
2. Das Landgericht hat den Angeklagten vom Vorwurf der Vergewaltigung aus tatsächlichen Gründen freigesprochen und im Wesentlichen folgende Feststellungen und Wertungen getroffen:
a) Um Karneval zu feiern, hielten sich der Angeklagte und die früheren Mitangeklagten Z. und D. seit 21. Februar 2020 in K. auf. Sie wohnten in einem Hotel in der K. Altstadt. Der Angeklagte und Z. teilten sich ein Zimmer, D. bezog ein eigenes Hotelzimmer. Der Angeklagte, die früheren Mitangeklagten Z. und D., die Zeugen A. und S. sowie 12 weitere Personen unterhielten seit mehreren Jahren eine WhatsApp-Gruppe, die zwischen den Mitgliedern „Stich-Gruppe“ genannt wurde und dem Austausch und Wettbewerb hinsichtlich sexueller Eroberungen der einzelnen Gruppenmitglieder diente. Die ungeschriebenen Regeln des Wettbewerbs sahen vor, dass derjenige, der mit einer erwachsenen Frau Geschlechtsverkehr durch im Regelfall vaginales Eindringen mit dem Penis gehabt hatte, in die Gruppe ein „N“ (für „Neu“) postete. Voraussetzung für den Erwerb des „N“ war, dass es sich bei der Sexualpartnerin um eine solche handelt, mit der das jeweilige Gruppenmitglied bisher noch nicht geschlechtlich verkehrt hatte. Um den Wettbewerb nicht nur entsprechenden Behauptungen zu überlassen, wurden Belege für die erfolgreiche Durchführung von Geschlechtsverkehr in Form von Screenshots von Chatverläufen oder gemeinsame Selfies mit der Sexualpartnerin verlangt.
Der Angeklagte, der frühere Mitangeklagte Z. und der Zeuge A. trafen am Nachmittag des 22. Februar 2020 in einem Lokal auf die 21-jährige Nebenklägerin, die sich dort ohne Begleitung aufhielt. In der Bar kam es im weiteren Verlauf zwischen Z. und der Nebenklägerin zum Austausch von Zärtlichkeiten. Am späten Nachmittag begaben sich Z. und die stark angetrunkene Nebenklägerin in das Hotel, wo es im Hotelzimmer zu einvernehmlichem Geschlechtsverkehr kam. Nachdem die Nebenklägerin auf dem dortigen Bett eingeschlafen war, erstellte Z. mit seinem Mobiltelefon zwei Videos, die ihn unbekleidet und mit posierender Geste im Bad des Zimmers sowie die unbekleidete Nebenklägerin reglos bäuchlings auf dem Bett liegend zeigten. Diese Videos postete er anschließend in die WhatsApp-Gruppe.
Während Z. schlief, kehrte der Angeklagte um 19.51 Uhr ins Hotel zurück, fuhr um 20.03 Uhr mit dem Aufzug in die dritte Etage und betrat das gemeinsam genutzte Hotelzimmer. Die Tür des Zimmers ließ er offen. Er begab sich zu seiner Bettseite, auf der die Nebenklägerin schlief, und schloss sein Handy an das Ladegerät an. Die Strafkammer konnte nicht ausschließen, dass die Nebenklägerin erwachte, als der Angeklagte sich auf das Bett setzte und sie leicht zur Seite schob, und sodann den Angeklagten am Arm fasste, zu sich zog und küsste.
Der frühere Mitangeklagte D. kam in diesen Minuten an dem Hotelzimmer vorbei und betrat durch die offene Tür unbemerkt den Vorraum des Zimmers. Er sah den Angeklagten in seinem Kostüm, das dieser kurz darauf auszog. Der Angeklagte - mittlerweile - ohne Kostüm - legte sich ins Bett zwischen die Beine der Nebenklägerin, woraufhin diese - ohne dass der Angeklagte hierzu etwas beigetragen hatte - ihr linkes Bein um die Hüfte und den unteren Rücken des Angeklagten schlang. D. fertigte ein elfsekündiges Video von dieser sich ihm bietenden Szene an, das er um 20.08 Uhr in die WhatsApp-Gruppe stellte. Sodann verließ er - weiterhin unbemerkt - das Zimmer und fertigte ein siebensekündiges Video von sich selbst an, auf dem er von dem Geschehen berichtete.
Der Angeklagte führte währenddessen seinen Finger oder seinen Penis in die Vagina der Nebenklägerin ein, wobei nicht festgestellt werden konnte, dass der Angeklagte gegen den erkennbaren Willen der Nebenklägerin handelte oder dass die Nebenklägerin nicht in der Lage gewesen wäre, einen entsprechenden Willen zu bilden oder zu äußern, weil sie zu dem Zeitpunkt noch geschlafen hätte, oder dass die Nebenklägerin - für den Angeklagten erkennbar - aufgrund ihres Zustands, insbesondere ihrer Alkoholisierung, in der Bildung und/oder Äußerung ihres Willens eingeschränkt gewesen wäre.
Der Angeklagte hatte zu diesem Zeitpunkt eine BAK von maximal 2,56 o/oo, die Nebenklägerin von mindestens 1,85 o/oo.
Während der Angeklagte sexuelle Handlungen an der Nebenklägerin vornahm, erwachte Z. und nahm wahr, dass die Nebenklägerin ihn mit offenen Augen ansah, während sexuelle Handlungen zwischen ihr und dem Angeklagten stattfanden, ohne dass die Nebenklägerin auf den Augenkontakt reagierte. Er verließ daraufhin das Schlafzimmer. Die Nebenklägerin äußerte einige Minuten nach Beginn der sexuellen Handlungen, ihr sei schlecht und sie müsse sich übergeben. Der Angeklagte ließ daraufhin von ihr ab. Sie begab sich ins Badezimmer.
Als die Nebenklägerin aus dem Badezimmer kam, machte sie dem Angeklagten und Z. zumindest sinngemäß Vorwürfe, sie vergewaltigt zu haben und äußerte den Wunsch zu gehen. Sie ging davon aus, dass Z. - an den sie sich erinnerte - sie in das Hotelzimmer gebracht und dem Angeklagten ausgeliefert hätte. An die Zeit ab dem Verlassen des Lokals hatte sie keinerlei Erinnerung mehr. Vielmehr setzte ihre Erinnerung erst wieder ein, als der Angeklagte dabei war, sie zu penetrieren.
Der Angeklagte und Z. halfen der Nebenklägerin, ihre Sachen zusammenzusuchen, und die Nebenklägerin zog sich an. Währenddessen fertigte der Angeklagte um 20.41 Uhr zwei kurze Videos, auf denen der frühere Mitangeklagte Z. im Kostüm und die mit Büstenhalter und Slip bekleidete Nebenklägerin, die sich gerade ihre Hose anzieht, zu sehen sind.
Die Nebenklägerin verließ sodann das Hotelzimmer und begab sich in die Lobby, wohin ihr der Angeklagte auf Socken folgte. Er bot ihr an, die Sache noch einmal zu besprechen. Die Nebenklägerin versicherte ihm, dass alles gut sei und sie nach Hause gehen wolle. Schließlich verließ sie das Hotel, während der Angeklagte dort verblieb. Kurz darauf verschickte sie Sprachnachrichten an ihre Freundinnen, in denen sie unter Tränen schilderte, vergewaltigt worden zu sein, und bat, die Polizei zu rufen.
Im Hotelzimmer führte der Angeklagte mit Z. ein Gespräch über das stattgefundene Geschehen, das durch vor dem Zimmer inzwischen eingetroffene Polizeibeamte mitgehört wurde. Diese stürmten schließlich das Zimmer und nahmen den Angeklagten und Z. fest.
b) Das Landgericht hat den Freispruch des Angeklagten im Wesentlichen auf dessen Einlassung und die darauf gründende Annahme eines - aus dessen Sicht - nicht ausschließbar einvernehmlichen Sexualverkehrs gestützt. Es sei - auch im Hinblick auf die Videoaufnahme des D. - naheliegend, dass es vor dem von der Nebenklägerin als „Aufwachen“ empfundenen Moment aufgrund eines alkoholbedingten „Blackouts“ einen Zeitraum gegeben habe, in welchem sie schon wach gewesen sei, den sie aber nicht bewusst erlebt habe und an den sie sich nicht mehr habe erinnern können und in dem sie sich aus der Warte des Angeklagten zustimmend zu sexuellen Handlungen verhalten habe.
Die zu Ungunsten des Angeklagten eingelegte Revision ist wirksam auf den erfolgten (Teil-) Freispruch beschränkt. Bei dem Vorwurf der Vergewaltigung, hinsichtlich dessen der Angeklagte freigesprochen wurde, handelt es sich um eine eigenständige Tat, die losgelöst von dem nicht angegriffenen Teil der Entscheidung, der Verurteilung des Angeklagten wegen der Verletzung des höchstpersönlichen Lebensbereichs durch Bildaufnahmen, rechtlich und tatsächlich selbständig geprüft werden kann.
Die Revision hat mit der Verfahrensbeanstandung Erfolg, so dass es keines näheren Eingehens auf die sachlich-rechtlichen Beanstandungen bedarf.
a) Die Staatsanwaltschaft rügt zu Recht, dass das Landgericht die den im Selbstleseverfahren eingeführten Chatverkehr der „Stich-Gruppe“ zwischen 20.03 Uhr und 20.32 Uhr in wesentlichen Teilen bei ihrer Überzeugungsbildung unberücksichtigt gelassen hat.
aa) Die Rüge ist zulässig erhoben (§ 344 Abs. 2 Satz 2 StPO). Mit einer Verfahrensbeschwerde kann geltend gemacht werden, dass eine verlesene oder im Selbstleseverfahren eingeführte Urkunde unvollständig oder unrichtig im Urteil gewürdigt worden sei, wenn der Nachweis ohne Rekonstruktion der Hauptverhandlung geführt werden kann (vgl. etwa BGH, Urteil vom 13. Januar 2022 - 3 StR 318/21; Tiemann, in KK-StPO, 9. Aufl., § 261 Rn. 210 ff., jeweils mwN).
bb) Der gerügte Verfahrensfehler liegt auch vor, da die Würdigung des im Selbstleseverfahren eingeführten Chatverlaufs der „Stich-Gruppe“ vom Tatabend zwischen 20.03 Uhr und 20.32 Uhr unvollständig ist.
Das Landgericht hat aus den Inhalten der Whats-App-Gruppe „Stich“ keine den Angeklagten bezüglich des Tatvorwurfs belastenden Anhaltspunkte zu ziehen vermocht. Dabei hat es jedoch ersichtlich nur die Kommunikation bis 20.11 Uhr berücksichtigt. Die Strafkammer lässt damit insbesondere die zwischen dem Angeklagten und den Gruppenmitgliedern „K.“ und D. ausgetauschten Nachrichten außer Betracht.
(1) So forderte „K.“ nach den Schilderungen des D. („M. “) um 20.25 Uhr eine „Bestätigung…, das das wirklich passiert“, worauf der Angeklagte eine Minute später mit „N“ - also dem internen Code für erfolgten vaginalen Geschlechtsverkehr - reagierte. Die Aussage von „K. “, „F. leckt Frau die Da. vorher hatte“, korrigierte D. dahin, der Angeklagte habe nicht geleckt, sondern „nur schnell drauf und rein“, „war vor Ort“, „Rape“, „live und direkt“. Auf die Frage von „K. “: „Wusste sie das es net Da. ist?“ antwortete D. : „Die war bewusstlos“, „wie ein Stück Stoff“. Diese Äußerungen des D. legen nahe, dass er - entgegen der Annahme des Landgerichts - selbst gesehen hat, dass der Angeklagte sexuelle Handlungen an der schlafenden Nebenklägerin vorgenommen hat und auch eigene Wahrnehmungen zum Zustand der Nebenklägerin gemacht hat, die ein völlig passives Verhalten der Nebenklägerin nahelegen. Damit wird auch die Würdigung des Landgerichts in Frage gestellt, D. habe nur vorhergehende Zustandsbeschreibungen des früheren Mitangeklagten Z. aufgegriffen. Dies gilt umso mehr, als D. die Authentizität seiner vorherigen Schilderungen betont („war vor Ort“, „live und direkt“).
Die Kommunikation begründet auch Zweifel an der vom Landgericht für glaubhaft gehaltenen Aussage des D., er habe sich mit seiner Beschreibung der Nebenklägerin als „bewusstlos“ lediglich über den Angeklagten lustig machen wollen. Auch die offenkundig auf körperliche Merkmale und das Alter der Nebenklägerin bezogenen Äußerungen des D. („180“, „D Titte“, „17 1/2“), die über die zuvor vom früheren Mitangeklagten Z. gemachten Angaben hinausgehen („168“, „B titte“, „21 Jahre“) und die von „K.“ mit „wow“ kommentiert wurden, legen nahe, dass - anders als vom Landgericht angenommen - in der konkreten Situation gerade keine Diskreditierung der sexuellen Handlung des Angeklagten bezweckt war. Die äußere Beschreibung der Nebenklägerin könnte zudem gegen die Bewertung des Landgerichts sprechen, D. habe aus seinem Blickwinkel nichts anderes wahrgenommen, als auf dem von ihm erstellten Video zu sehen ist.
(2) Da der Angeklagte, der um 20.26 Uhr ein „N“ postete, in die zwischen „K.“ und D. ab 20.19 Uhr laufende Kommunikation eingebunden war, wäre eine nähere Auseinandersetzung der Strafkammer nicht nur damit erforderlich gewesen, dass dieser die wiederholte Darstellung des früheren Mitangeklagten D., die Nebenklägerin sei „bewusstlos“ gewesen, unkommentiert - mithin unwidersprochen - gelassen hat. Er hat den von diesem geschilderten Sachverhaltsverlauf auch insgesamt nicht in Abrede gestellt, obgleich schon die vorhergehenden nachrichtlichen Schilderungen des früheren Mitangeklagten bereits unmissverständlich auf eine Ausübung des Geschlechtsverkehrs - bewusst - unter Ausnutzung einer mangelnden Fähigkeit der Nebenklägerin zur selbstbestimmten Entscheidung hinwiesen.
b) Das Landgericht war daher im Rahmen der Beweiswürdigung gehalten, den genannten Chatverlauf in seine Erwägungen zum Tatablauf einzubeziehen (§ 261 StPO). Durch die Nichterörterung wesentlicher Teile der Kommunikation hat es den in die Hauptverhandlung eingeführten Nachrichtenverkehr unzureichend ausgeschöpft, so dass die Beweiswürdigung eine durchgreifende Lücke aufweist, auf der das Urteil beruht.
Der Rechtsfehler führt zur Aufhebung des Teilfreispruchs mitsamt den zugehörigen Feststellungen (§ 353 Abs. 2 StPO).
Der neue Tatrichter wird auf der Grundlage der neu zu treffenden Feststellungen auch eine Strafbarkeit gemäß § 177 Abs. 2 Nr. 2 StGB in den Blick zu nehmen haben.
Einer Entscheidung über die gegen den tatrichterlichen Kosten- und Auslagenausspruch gerichtete sofortige Beschwerde der Staatsanwaltschaft bedarf es nicht, da diese mit der Teilaufhebung und Zurückverweisung des Urteils gegenstandslos geworden ist.
HRRS-Nummer: HRRS 2023 Nr. 1275
Bearbeiter: Julia Heß/Karsten Gaede