HRRS-Nummer: HRRS 2023 Nr. 370
Bearbeiter: Julia Heß/Karsten Gaede
Zitiervorschlag: BGH, 2 StR 262/22, Beschluss v. 22.11.2022, HRRS 2023 Nr. 370
1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Erfurt vom 22. November 2021 mit den Feststellungen aufgehoben.
2. Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Jugendschutzkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Das Landgericht hat den Angeklagten unter Freispruch im Übrigen wegen Körperverletzung in vier Fällen sowie Misshandlung von Schutzbefohlenen in zwei Fällen, davon in einem Fall in Tateinheit mit besonders schwerem sexuellen Missbrauch, zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von acht Jahren und neun Monaten verurteilt. Die auf die Rüge der Verletzung formellen und materiellen Rechts gestützte Revision des Angeklagten hat bereits mit der Sachrüge Erfolg.
Nach den Feststellungen des Landgerichts war der Angeklagte seit März 2020 mit der Mutter der im August 2016 geborenen F. N. liiert und hatte fortan „regelmäßig unbeaufsichtigten Kontakt zu dem Kind“. An einem nicht bestimmbaren Tag im Mai 2020 vor dem 21. Mai 2020 kniff der Angeklagte dem Kind am Ohr, so dass es ein Hämatom erlitt (Fall II.1. der Urteilsgründe). Im Zeitraum vom 13. bis zum 14. Mai 2020 (Fall II.2. der Urteilsgründe), am Mittag des 25. Mai 2020 (Fall II.3. der Urteilsgründe) und am Abend des 25. Mai 2020, nachdem sich F. eingenässt hatte (Fall II.4. der Urteilsgründe), schlug der Angeklagte das Kind auf nicht näher konkretisierbare Weise auf das Gesäß, was im ersten und dritten Fall Rötungen, im zweiten Fall ein Hämatom verursachte. Am 26. Mai 2020 (Fall II.5. der Urteilsgründe) schlug der Angeklagte das Kind gegen Kopf und Gesichtsbereich, sodass es ein Brillenhämatom erlitt; ferner führte er einen unbekannten Gegenstand oder eines seiner Körperteile in den Anus des Kindes ein, wodurch es einen Dammriss mit einer Länge von über 2 cm erlitt, der operativ versorgt werden musste. Am Vormittag des 28. Mai 2020 (Fall II.6. der Urteilsgründe) fügte der Angeklagte dem Kind in nicht näher konkretisierbare Weise Brüche an drei Brustwirbeln zu und riss es gewaltsam an den Haaren, wodurch büschelweise Haare ausgerissen wurden und Hämatome sowie Schwellungen an der Kopfschwarte entstanden. In den beiden letztgenannten Fällen setzte sich der Angeklagte jeweils in gefühlloser Weise über das Leid des Kindes hinweg, dessen erhebliche Schmerzen ihm bewusst waren und die er zumindest billigend in Kauf nahm.
Die diesen Feststellungen vom Landgericht zugrunde gelegte Beweiswürdigung und ihre Darstellung in den Urteilsgründen halten sachlich-rechtlicher Nachprüfung nicht stand. Sie genügt nicht den an sie zu stellenden Anforderungen. Dies muss zur Aufhebung des Urteils insgesamt führen; auf die von der Revision erhobenen Verfahrensbeanstandungen kommt es folglich nicht an.
1. Zwar ist die Beweiswürdigung Sache des Tatgerichts (§ 261 StPO). Der revisionsgerichtlichen Prüfung unterliegt aber, ob dem Tatgericht dabei ein Rechtsfehler unterlaufen ist. Dies ist etwa der Fall, wenn die Beweiswürdigung widersprüchlich, unklar oder lückenhaft ist oder gegen die Denkgesetze oder gesicherte Erfahrungssätze verstößt (st. Rspr.; vgl. BGH, Beschluss vom 30. Januar 2018 - 4 StR 587/17 Rn. 9; Senat, Urteil vom 1. Februar 2017 - 2 StR 78/16 Rn. 20; BGH, Urteile vom 12. Februar 2015 - 4 StR 420/14 Rn. 9; vom 2. Dezember 2005 - 5 StR 119/05 Rn. 35; vom 11. Januar 2005 - 1 StR 478/04 Rn. 8 und vom 30. März 2004 - 1 StR 354/03 Rn. 6).
2. Gemessen hieran hält die Beweiswürdigung rechtlicher Nachprüfung nicht stand.
a) Die Revision beanstandet zu Recht, dass die Feststellung zu Fall II.5. der Urteilsgründe, der Angeklagte habe dem Kind die Verletzungen im Analbereich am 26. Mai 2020 in der Zeit von 9:00 Uhr bis 13:30 Uhr oder in der Zeit von ca. 13:40 Uhr bis ca. 14:00 Uhr beigebracht, als dieses sich in seiner Obhut befand, auf einer rechtsfehlerhaften Beweiswürdigung beruht. Hierzu hat der Generalbundesanwalt zutreffend ausgeführt:
„Die Kammer stützt diese Feststellung auf die Aussage der Zeugin N., die angegeben hat, am 26. Mai 2020 Blut im Schlüpfer des Kindes festgestellt zu haben, sowie auf die Ausführungen der als Zeugen und Sachverständige vernommenen Ärzte, wonach ein Zeitfenster von 24 bis maximal 48 Stunden als zeitlicher Rahmen für das Entstehen der Verletzungen in Betracht komme (UA S. 28). Insoweit unterliegt die Strafkammer jedoch einem Denkfehler. Denn nach den Aussagen der als Zeugen vernommenen Ärzte, die das Kind nach den Feststellungen am 29. Mai 2020 untersucht haben (UA S. 26 f.), kommt eine Verursachung der Verletzungen bereits am 26. Mai 2020 nicht in Betracht. So hat die Zeugin S. den Dammriss auf maximal 24 Stunden alt geschätzt (UA S. 26), der Zeuge Dr. K. auf maximal 48 Stunden (UA S. 26). Nach den Ausführungen des Sachverständigen Dr. H. sei der Zeitpunkt der Entstehung eher dem Tag der Einweisung in die Klinik zuzuordnen als länger zurückliegend (UA S. 27). Angesichts dessen, dass das Kind ausweislich der Urteilsfeststellungen am 28. Mai 2020 gegen 14.50 Uhr in das H. Klinikum E. aufgenommen wurde (UA S. 6), und der erstuntersuchende Arzt, der Zeuge Dr. M., den vorhandenen Dammriss auf maximal 36 Stunden alt schätzte (UA S. 25), könnte die Verletzung erst frühestens in der Nacht zum 27. Mai 2020 gegen 3:00 Uhr entstanden sein. Die von der Kammer festgestellte Tatzeit - am 26. Mai 2020 spätestens um 14.00 Uhr - ist demnach mit den Ausführungen der als Zeugen und Sachverständige vernommenen Ärzte ungeachtet dessen, dass das Urteil keine Feststellungen dazu enthält, wann genau die jeweiligen Untersuchungen stattgefunden haben, rein rechnerisch nicht zu vereinbaren.
Auch greift die Revision zu Recht die fehlende Erörterung durch die Strafkammer an, ob bei einer Tatbegehung drei Tage zuvor bei der gynäkologischen Untersuchung des Kindes am 29. Mai 2020 noch ein klaffender Anus hätte festgestellt werden können, oder ob nicht jedenfalls ein Anus, der bei einem Kind über drei Tage mehr als 2 cm geöffnet ist, notwendigerweise zu einer Inkontinenz hätte führen müssen.“ Den Gründen des angefochtenen Urteils ist auch nach dem Gesamtzusammenhang bislang nicht zu entnehmen, dass sich die Angaben der einvernommenen Ärzte und Sachverständigen auch auf einen Zeitraum bezogen haben könnten, der mit der von der Zeugin N. bekundeten Beobachtung am 26. Mai 2020 in Deckung gebracht werden kann.
b) Der aufgezeigte Rechtsfehler zwingt schon deswegen zur Aufhebung des angefochtenen Urteils auch im Fall II.6. der Urteilsgründe, weil nicht ausgeschlossen werden kann, dass die erneute Hauptverhandlung zu Feststellungen führt, nach denen der Angeklagte die ihm zur Last liegenden Taten (Schlag gegen den Kopf; Eindringen in den Anus) am 28. Mai 2020 begangen hat und diese tateinheitlich mit den Taten, die Gegenstand von Fall II.6. der Urteilsgründe sind, zusammentreffen.
c) Der Rechtsfehler zieht aber auch - insoweit über den Aufhebungsantrag des Generalbundesanwalts hinaus - die Aufhebung des Urteils in den übrigen Fällen nach sich.
aa) Die Strafkammer hat die Feststellungen ausweislich der Urteilsgründe jeweils maßgeblich auch auf die Angaben der Zeugin N. gestützt; im Fall II.4. der Urteilsgründe etwa will diese selbst gesehen und gehört haben, wie „der Angeklagte F. ganz dolle auf das Gesäß geschlagen“ habe. Deren Angaben könnten sich aber - in Abhängigkeit vom Ergebnis einer erneuten Beweisaufnahme zu Fall II.5. der Urteilsgründe - mit Blick auf die zeitliche Einordnung ihrer Beobachtungen als zumindest erörterungsbedürftig erweisen.
bb) Überdies leidet die Beweiswürdigung an weiteren durchgreifenden Rechtsfehlern.
§§ 261 und 267 StPO verpflichten den Tatrichter, in den Urteilsgründen darzulegen, dass seine Überzeugung von den die Anwendung des materiellen Rechts tragenden Tatsachen auf einer umfassenden, von rational nachvollziehbaren Überlegungen bestimmten Beweiswürdigung beruht. Die Urteilsgründe dienen nicht der Darstellung aller Einzelheiten der Beweisaufnahme, sondern sollen das Ergebnis der Hauptverhandlung wiedergeben und die Nachprüfung der getroffenen Entscheidung ermöglichen. Der Tatrichter ist - über den Wortlaut des § 267 Abs.1 Satz 2 StPO hinaus - verpflichtet, die wesentlichen Beweiserwägungen in den Urteilsgründen so darzulegen, dass seine Überzeugungsbildung für das Revisionsgericht nachzuvollziehen und auf Rechtsfehler zu überprüfen ist (zum Ganzen vgl. Senat, Beschluss vom 18. November 2020 - 2 StR 152/20; KK-StPO/Bartel, 9. Aufl., § 267 Rn. 21 mwN). Dem werden die Urteilsgründe nicht gerecht.
(1) Die Strafkammer entnimmt der ungeachtet ihrer sprachlichen Schwächen auf den Urteilsseiten 7 bis 13 wörtlich übernommenen schriftlichen Einlassung des Angeklagten zu Fall II.1. der Urteilsgründe ein Geständnis, weil er darin unter anderem angegeben hat, das Kind „mal an den ‚Löffeln‘ = Ohr gezogen“ zu haben. Der Angeklagte hat aber durchgehend in Abrede gestellt, das Kind (bewusst) verletzt zu haben, vielmehr seien festgestellte Verletzungen auf Sturzgeschehen zurückzuführen. Lediglich zu Fall II.3. der Urteilsgründe hat er angegeben, das er „ihr auf den Arsch haute“ und möglicherweise „durch den Arschvoll eine Rötung“ entstand.
(2) Dass durch das Ziehen am Ohr ein Hämatom entstanden ist, entnimmt die Strafkammer der Aussage der Zeugin K. Mö. Dieser gegenüber hatte F. aber auch angegeben, hingefallen zu sein. Das Urteil referiert ferner die Angaben der Zeugin N., sie habe ab Mai 2020 „immer wieder blaue Flecken bei F. festgestellt, wenn sie vom Angeklagten“ zurückkam, der Angeklagte und auch ihre Tochter hätten aber gesagt, sie sei hingefallen.
Eine nachvollziehbare Würdigung, warum die Strafkammer dessen ungeachtet ein Sturzgeschehen ausschließt, lassen die Urteilsgründe vermissen. Allein dass die Zeugin N. immer „ruhig und geduldig“ im Umgang mit ihrer Tochter war, liefert hierfür keinen Beleg. Zwar nimmt die Strafkammer auch in den Blick, dass F. im Tatzeitraum „einen ängstlichen Eindruck“ gemacht habe, sie stützt dies aber auf die Angaben der Zeugen B., K. Mö. und Ke. Mö., die dies „übereinstimmend schilderten“ „mit Ausnahme des Zeugen Ke. Mö. “. Was der Zeuge K. B. hierzu angab und warum er gegebenenfalls nicht glaubwürdig ist, teilen die Urteilsgründe indes nicht ansatzweise mit.
Zu einer eingehenderen Auseinandersetzung mit der Einlassung des Angeklagten hätte sich die Strafkammer auch deshalb gedrängt sehen müssen, weil sie dieser zur Begründung ihres Teilfreispruchs (betreffend Ziffer 8 der Anklage) jedenfalls insoweit folgt, als der Angeklagte Verletzungen im Gesicht des Kindes damit erklärt, diese seien „bei einem angeblichen Kampf zwischen ihm und dem Kind beim Waschen des Gesichts“ entstanden.
(3) Zu Fall II.2. der Urteilsgründe teilen die Urteilsgründe mit, dass die Zeuginnen N. und B. „bei F. Rötungen am Po“ festgestellt und hiervon ein Lichtbild gefertigt hätten. Die Zeugin N. habe ferner bekundet, dass der Angeklagte und ihre Tochter als Ursache für die Rötung einen Sturz auf Schienen nannten. Schließlich wird eine (verschriftlichte und in dieser Form nahezu unverständliche) Sprachnachricht der Zeugin N. an die Zeugin B. im Wortlaut mitgeteilt, der gerade noch entnommen werden kann, dass der Angeklagte der Zeugin von einem Sturzgeschehen berichtet habe und auf deren Rückfrage „ausgerastet“ sei. Hieran anschließend heißt es in den Urteilsgründen, die Strafkammer habe „in der Gesamtschau (…) keine Zweifel, dass auch diese Rötungen am Po von dem Angeklagten durch Schläge in nicht näher konkretisierbarer Weise verursacht wurde“. Eine nachvollziehbare Würdigung der lediglich dargestellten Beweise und des daraus gezogenen Schlusses lassen die Urteilsgründe vermissen.
Der Senat sieht Anlass zu folgenden Hinweisen:
1. Insbesondere bei einer umfangreicheren Beweiswürdigung ist darauf Bedacht zu nehmen, diese durch eine erkennbare Struktur - etwa eine Gliederung - klar und nachvollziehbar zu machen; ein klarer sprachlicher Ausdruck (zur gebotenen Klarheit in Sprache und Darstellung vgl. Meyer-Goßner/Appl, Die Urteile in Strafsachen, 30. Aufl., Rn. 207 ff., 228 ff.) dient der notwendigen intersubjektiven Vermittelbarkeit der bestimmenden Beweisgründe (vgl. Senat, Beschlüsse vom 11. März 2020 - 2 StR 380/19 Rn. 4, NStZ-RR 2020, 258, und vom 19. Mai 2020 - 2 StR 7/20 je mwN). Waren - wie hier - längere, sprachlich bestenfalls schwer verständliche Chat-Nachrichten und ähnliche, verschriftlichte Kommunikation Gegenstand der Beweisaufnahme, wird deshalb in den Blick zu nehmen sein, ob durch deren „Einkopieren“ in die Urteilsgründe die Nachvollziehbarkeit der Beweiswürdigung erschwert oder gar gefährdet wird und wie dem gegebenenfalls begegnet werden kann.
2. Mit Blick auf die von der Revision erhobene Rüge der Verletzung der Hinweispflicht (§ 265 Abs. 1, 2 Nr. 3 StPO) besteht ferner Anlass zu dem Hinweis, dass durch § 265 Abs. 2 Nr. 3 StPO in der seit 24. August 2017 geltenden Fassung die Hinweispflicht des § 265 Abs. 1 StPO auf Fälle erweitert worden ist, in denen sich in der Hauptverhandlung die Sachlage gegenüber der Schilderung des Sachverhalts in der zugelassenen Anklage ändert und dies zur genügenden Verteidigung vor dem Hintergrund des Gebots rechtlichen Gehörs und des rechtsstaatlichen Grundsatzes des fairen Verfahrens einen Hinweis erforderlich macht (vgl. BGH, Beschlüsse vom 22. Oktober 2020 - GSSt 1/20, BGHSt 66, 20; vom 8. Mai 2018 - 5 StR 65/18; BeckOK-StPO/Eschelbach, 46. Ed., § 265 Rn. 1).
Der Gesetzgeber hat in § 265 Abs. 2 Nr. 3 StPO an die ständige Rechtsprechung angeknüpft, wonach eine Veränderung der Sachlage eine Hinweispflicht auslöst, wenn sie in ihrem Gewicht einer Veränderung eines rechtlichen Gesichtspunkts gleichsteht. Dieser Hinweispflicht kann nicht dadurch genügt werden, dass die Staatsanwaltschaft im Anschluss an ihr Plädoyer dem Verteidiger per Mail darlegt, inwiefern sich aus ihrer Sicht Tatzeiten, Tatorte oder Tatmodalitäten gegenüber den in der Anklage genannten geändert haben könnten. § 265 StPO fordert einen Hinweis des Gerichts (vgl. KK-StPO/Bartel, 9. Aufl., § 265 Rn. 30).
HRRS-Nummer: HRRS 2023 Nr. 370
Bearbeiter: Julia Heß/Karsten Gaede