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HRRS-Nummer: HRRS 2023 Nr. 1268

Bearbeiter: Julia Heß/Karsten Gaede

Zitiervorschlag: BGH, 2 StR 217/22, Urteil v. 15.03.2023, HRRS 2023 Nr. 1268


BGH 2 StR 217/22 - Urteil vom 15. März 2023 (LG Erfurt)

Beweiswürdigung (Zweifelssatz: einzelnes Indiz); Rechtsbeugung (objektiver Tatbestand: Differenzierung zwischen Rechtsverstoß und Beugung des Rechts; subjektiver Tatbestand: Differenzierung zwischen bedingtem Vorsatz und bewusster Entfernung von Recht und Gesetz, Unvertretbarkeit der Rechtsansicht, bedingter Vorsatz, sachwidriges Privileg, sachbezogene Überlegungen, , Ermessensausübung, rechtliche Irrtümer, In-Frage-Stellen der Rechtsordnung); Absehen von der Verfolgung bei Geringfügigkeit (durchermittelter Sachverhalt; hypothetische Schuldbeurteilung: gewisse Wahrscheinlichkeit; Ermessen; weiter Beurteilungsspielraum; Willkürverbot).

§ 261 StPO; § 153 StPO; § 339 StGB

Leitsätze des Bearbeiters

1. Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs verwirklicht nicht schon jede (bedingt) vorsätzlich begangene Rechtsverletzung eine „Beugung des Rechts"; vielmehr wird vorausgesetzt, dass der Richter „sich bewusst in schwerwiegender Weise von Recht und Gesetz entfernt“. Diese Differenzierung zwischen Rechtsverstoß und „Beugung des Rechts“ in objektiver Hinsicht, bedingtem Vorsatz und „bewusster Entfernung von Recht und Gesetz“ in subjektiver Hinsicht enthält, entgegen in der Literatur erhobener Kritik, keinen Widerspruch, wenn für die praktische Anwendung des Tatbestands hinsichtlich der Tatbestandsvoraussetzung der Verletzung einer Rechtsnorm bedingter Vorsatz ausreicht und für die Schwerebeurteilung die Bedeutung der verletzten Rechtsvorschrift maßgebend ist.

2. Der Täter des § 339 StGB muss einerseits die Unvertretbarkeit seiner Rechtsansicht zumindest für möglich gehalten und billigend in Kauf genommen haben; andererseits muss er sich der grundlegenden Bedeutung der verletzten Rechtsregel für die Verwirklichung von Recht und Gesetz bewusst gewesen sein. Bedingter Vorsatz reicht für das Vorliegen eines Rechtsverstoßes aus; Bedeutungskenntnis im Sinn direkten Vorsatzes ist hinsichtlich der Schwere des Rechtsverstoßes erforderlich. Diese Differenzierung trägt dem berechtigten Anliegen Rechnung, einerseits den Verbrechenstatbestand der Rechtsbeugung nicht auf jede „nur“ rechtsfehlerhafte Entscheidung anzuwenden, andererseits aber ein sachwidriges Privileg für Richter auszuschließen, die unter bedingt vorsätzlicher Anwendung objektiv unvertretbarer Rechtsansichten bei der Entscheidung von Rechtssachen Normen verletzen, deren grundlegende - materiellrechtliche oder verfahrensrechtliche - Bedeutung für die Rechtsordnung im Allgemeinen oder für die zu entscheidende Sache ihnen bewusst ist.

3. Nach § 153 Abs. 1 StPO kann die Staatsanwaltschaft unter den in dieser Vorschrift näher bezeichneten Voraussetzungen von der Erhebung der öffentlichen Klage absehen. Für die Beurteilung der geringen Schuld wird ein durchermittelter Sachverhalt nicht vorausgesetzt. Aus der Formulierung „die Schuld als gering anzusehen wäre“ folgt, dass es eines Schuldnachweises nicht bedarf. Es genügt eine gewisse Wahrscheinlichkeit auf der Grundlage einer hypothetischen Schuldbeurteilung. Auf der Rechtsfolgenseite eröffnet die Bestimmung echtes Ermessen. Den Staatsanwaltschaften kommt bei der Anwendung des Opportunitätsprinzips gemäß § 153 Abs. 1 Satz 2 StPO zudem ein weiterer Beurteilungsspielraum zu. Im Bereich der Massenverfahren mit Bagatellcharakter, auf die § 153 StPO zugeschnitten ist, sind deshalb für gewöhnlich Einstellungen eher knapp und stereotyp begründet.

4. Eröffnet eine Rechtsnorm einen Beurteilungsspielraum und ein Ermessen, begründet das Willkürverbot eine Verpflichtung zu dessen sachgerechter Ausübung. Das zur Entscheidung berufene Rechtspflegeorgan darf seine Entscheidung daher nicht nach freiem Belieben treffen, sondern muss das ihm eingeräumte Ermessen pflichtgemäß ausüben.

Entscheidungstenor

1. Die Revision der Staatsanwaltschaft gegen das Urteil des Landgerichts Erfurt vom 3. Februar 2022 wird verworfen.

2. Die Kosten des Rechtsmittels und die der Angeklagten hierdurch entstandenen notwendigen Auslagen trägt die Staatskasse.

Gründe

Das Landgericht hat die Angeklagte von dem Vorwurf der Rechtsbeugung in Tateinheit mit Strafvereitelung im Amt in 13 Fällen freigesprochen. Die hiergegen gerichtete, auf die Rüge einer Verletzung materiellen Rechts gestützten Revision der Staatsanwaltschaft hat keinen Erfolg.

I.

1. Die Staatsanwaltschaft legt der Angeklagten zur Last, sie habe als Amtsanwältin bei der Staatsanwaltschaft Erfurt im Zeitraum vom 5. Januar 2015 bis zum 2. März 2016 insgesamt 13 verkehrsstrafrechtliche Ermittlungsverfahren gemäß § 153 Abs. 1 Satz 2 StPO eingestellt, obwohl - was die Angeklagte gewusst habe - die dafür erforderlichen tatbestandlichen Voraussetzungen nicht vorgelegen hätten. Die Einstellungsentscheidungen seien nicht mehr vertretbar; die schriftlichen Gründe der Einstellungsverfügungen bestünden nur aus den im staatsanwaltschaftlichen Fachverfahren vorgegebenen formelhaften Wendungen, die zu den konkreten Sachverhalten teilweise nicht passten. Die Angeklagte habe sich mit den jeweiligen Verfahren inhaltlich nicht auseinandergesetzt und zudem im Bewusstsein gehandelt, die Bestrafung der jeweiligen Beschuldigten zu verhindern.

2. Das Landgericht hat sich eine Überzeugung von der Tatbegehung aufgrund der durchgeführten Beweisaufnahme nicht zu bilden vermocht und die Angeklagte aus tatsächlichen und rechtlichen Gründen freigesprochen. Folgende Feststellungen und Wertungen hat das Landgericht getroffen:

a) Die Angeklagte ist seit 1994 als Amtsanwältin bei der Staatsanwaltschaft Erfurt für die ausschließliche Bearbeitung von Verkehrsstrafsachen tätig. Nachdem die Angeklagte zunächst ihre Tätigkeit zur Zufriedenheit ihrer Dienstvorgesetzten erledigte, wurden ihre Leistungen ab 2005 in qualitativer und quantitativer Hinsicht zunehmend bemängelt.

Für den Beurteilungszeitraum 2005 bis 2008 entsprachen ihre Leistungen wegen erheblicher Wissenslücken und fehlender Gründlichkeit bei der Arbeit zwar „noch den Anforderungen“; anlässlich der Beurteilung aus dem Jahr 2013 führte der Dienstvorgesetzte für den Zeitraum vom 1. Januar 2009 bis zum 8. März 2013 allerdings aus, dass die Arbeit der Angeklagten „in qualitativer Hinsicht nicht den Anforderungen“ entspreche, und „dass die Angeklagte ihr Dezernat zwar zahlenmäßig bewältigt, […] die Qualität ihrer Arbeit [...] jedoch häufig mangelhaft“ sei. Sie suche „keinen fachlichen Rat bei Kollegen“ und reagiere „auf Hinweise zum Teil unzugänglich und impulsiv.“ Der Angeklagten bereite „schon die rechtliche Beurteilung einfach gelagerter Sachverhalte häufig Schwierigkeiten.“ Auffassungsgabe, Urteilsfähigkeit und die Breite und Tiefe ihres fachlichen Wissens entsprächen ebenfalls „nicht mehr den Anforderungen.“ Insbesondere liege ein „unzureichendes strafprozessuales und strafrechtliches Wissen“ vor, was sich unter anderem in „fehlerhaften prozessrechtlichen Entscheidungen wie der Rücknahme einer Anklage nach Eröffnung des Hauptverfahrens oder dem Beharren auf unzutreffenden Anklagen oder Strafbefehlsanträgen“ zeige. Im Jahr 2013 stand die Angeklagte - wie schon im Jahr 2008 - daher vorübergehend unter Gegenzeichnungspflicht.

Die Leitende Oberstaatsanwältin bewertete bei der letzten dienstlichen Beurteilung im Jahr 2016, die sich auf den Zeitraum vom 1. Januar 2013 bis zum 31. Dezember 2016 bezog, die Qualität und die Quantität der Arbeitsweise der Angeklagten als nicht mehr den Anforderungen entsprechend und begründete dies sowohl mit der Auffassungsgabe der Angeklagten, ihrer Beweglichkeit im Denken, ihrer Urteilsfähigkeit und ihrer Entschlusskraft, als auch damit, dass „der Angeklagten die rechtliche Beurteilung einfach gelagerter Sachverhalte Schwierigkeiten bereite und die Breite und Tiefe ihres fachlichen Wissens nicht den Anforderungen“ entspreche.

b) Den eingestellten 13 Ermittlungsverfahren lagen in acht Fällen der Tatvorwurf des Fahrens ohne Fahrerlaubnis, in vier Fällen der Tatvorwurf des unerlaubten Entfernens vom Unfallort und in einem Fall der Vorwurf einer im Straßenverkehr begangenen Nötigung und einer Sachbeschädigung zugrunde.

aa) In den Fällen 1, 5, 7, 9, 10, 11, 12 und 13 der Urteilsgründe (Tatvorwurf: Fahren ohne Fahrerlaubnis) begründete die Angeklagte die jeweilige Einstellung zum einen damit, dass die Beschuldigten nicht vorbestraft seien, was in den Fällen 1, 5, 10, 12 und 13 der Urteilsgründe auch zutraf.

Im Fall 7 der Urteilsgründe enthielt das „Fahreignungsregister […] die Eintragung, dass gegen den Beschuldigten durch Urteil des Amtsgerichts Walsrode vom 25. Januar 2006 […] eine Geldstrafe in Höhe von 50 Tagessätzen“ verhängt sowie eine isolierte Sperre für die Wiedererteilung der Fahrerlaubnis angeordnet worden ist; ein (späterer) Bundeszentralregisterauszug vom 16. Januar 2018 weist zudem gegenüber dem Beschuldigten eine amtsgerichtliche Verurteilung wegen eines Vergehens nach dem Waffengesetz auf, die seit dem 27. Mai 2015 - dem Tag der Einstellungsverfügung durch die Angeklagte - rechtskräftig ist.

Im Fall 9 der Urteilsgründe war der Beschuldigte in fünf Fällen wegen Straßenverkehrsdelikten vorgeahndet, davon in vier Fällen einschlägig wegen Fahrens ohne Fahrerlaubnis; die letzte einschlägige Verurteilung zu einer zur Bewährung ausgesetzten Freiheitsstrafe erfolgte am 30. Oktober 2002, was sich aus dem entsprechenden Auszug aus dem Bundeszentralregister vom 11. Dezember 2017 ergibt. Die Einstellungsverfügung der Angeklagten datierte vom 27. April 2015.

Im Fall 11 der Urteilsgründe war der Beschuldigte wegen vorsätzlicher Körperverletzung und Erschleichens von geringwertigen Leistungen vorbestraft, hingegen nicht einschlägig, was die Angeklagte schlagwortartig im Rahmen ihrer Einstellungsverfügung vom 26. Februar 2015 als Grund anführte.

Die Einstellungsverfügungen der Angeklagten sind zum anderen in allen vorgenannten Fällen stereotyp damit begründet worden, dass „der Schaden gering“ sei, obwohl den jeweiligen Verfahren nur in den Fällen 10 und 13 der Urteilsgründe ein (leichter) Verkehrsunfall zugrunde lag; die Höhe des jeweiligen konkreten Schadens hat das Landgericht nicht beziffert.

Zudem gab die Angeklagte in allen in den vorgenannten Fällen ergangenen Einstellungsverfügungen gleichförmig an, dass (etwaige) zivilrechtliche Entscheidungen durch die Entscheidung nicht berührt seien.

bb) In den Fällen 2, 3, 4 und 8 der Urteilsgründe (Tatvorwurf: unerlaubtes Entfernen vom Unfallort) begründete die Angeklagte die Einstellung zum einen ebenfalls damit, dass die jeweiligen Beschuldigten - was zutraf - nicht vorbestraft seien.

Die Einstellungsverfügungen der Angeklagten sind zum anderen in allen vorgenannten Fällen überdies damit begründet, dass „ein bleibender Schaden nicht entstanden“ sei. Im Fall 2 der Urteilsgründe hat das Landgericht dazu festgestellt, dass die Angeklagte Nachermittlungen hinsichtlich der Schadenshöhe nicht unternahm, da „diese aus ihrer Erfahrung häufig keinen Erfolg bringen und mehrere Monate dauern würden.“ Nach den Feststellungen der zugrundeliegenden Ermittlungsverfahren ist im Fall 2 bzw. 4 der Urteilsgründe - jeweils nach Schätzung der Polizeibeamten - ein Schaden in Höhe von 1.200 Euro bzw. 1.000 Euro, im Fall 3 der Urteilsgründe - laut einer bei den Akten befindlichen Werkstattrechnung - ein Schaden in Höhe von 824,97 Euro und im Fall 8 der Urteilsgründe - nach Schätzung der Rechtsvertreterin des Geschädigten - ein Schaden in Höhe von 2.000 Euro entstanden.

Im Fall 8 der Urteilsgründe hat die Angeklagte die Einstellungsverfügung zudem zusätzlich noch damit begründet, dass „davon auszugehen ist, dass der Beschuldigte aufgrund seines hohen Lebensalters und seines straflosen Vorlebens bereits durch Einleitung des Ermittlungsverfahrens von der Begehung weiterer Straftaten abgehalten wird.“ cc) Dem Fall 6 der Urteilsgründe lag ein Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts der Nötigung und Sachbeschädigung im Straßenverkehr zugrunde, in dem nach Angaben des Geschädigten ein Sachschaden in Höhe von 150 Euro entstanden sei. Nach dem Bundeszentralregisterauszug vom 6. November 2017 ist der Beschuldigte mehrfach vorbestraft, wobei die letzte straßenverkehrsrechtliche Verurteilung am 6. Juli 2000 wegen Fahrens ohne Fahrerlaubnis erfolgte; ferner ist der Beschuldigte am 3. November 2011 wegen Nötigung zu einer Geldstrafe verurteilt worden. Die Einstellungsverfügung vom 5. Januar 2015 begründete die Angeklagte damit, dass der Beschuldigte „nicht einschlägig vorbestraft“ und „ein bleibender Schaden nicht entstanden“ sei.

c) Das Landgericht hat die Verfahrenseinstellung in den Fällen 2, 3, 4, 7, 8, 10 und 11 der Urteilsgründe für objektiv vertretbar gehalten.

In den Fällen 1, 5, 6, 9, 12 und 13 der Urteilsgründe ist das Landgericht der Ansicht, dass die jeweilige Einstellung des Verfahrens zwar objektiv nicht mehr vertretbar, gleichwohl der objektive Tatbestand der Rechtsbeugung auch in diesen Fällen nicht verwirklicht sei, weil sich die Angeklagte nicht bewusst und in schwerwiegender Art und Weise von Recht und Gesetz entfernt und ihr Handeln nicht an eigenen Maßstäben statt an Recht und Gesetz ausgerichtet habe. Die Angeklagte habe die Ermittlungsakten bearbeitet und ihre Einstellungsentscheidungen unter Abwägung der daraus ersichtlichen Umstände - mithin unter Ausübung des ihr eingeräumten Ermessens - wenn auch ermessensfehlerhaft getroffen.

Jedenfalls fehle es in allen angeklagten Fällen am Vorsatz der Angeklagten, da nicht festzustellen sei, dass die Angeklagte, die im Tatzeitraum den beruflichen Anforderungen nicht mehr gewachsen war, schon die Unvertretbarkeit ihrer Rechtsansicht für möglich gehalten und billigend in Kauf genommen habe.

II.

Die Revision der Staatsanwaltschaft ist unbegründet. Ausgehend von den revisionsrechtlich nicht zu beanstandenden Feststellungen (dazu nachfolgend unter 1.), weist jedenfalls die Wertung des Landgerichts, die Angeklagte habe ohne Vorsatz gehandelt, keine durchgreifenden Rechtsfehler zu deren Gunsten auf (nachfolgend unter 2.).

1. Die Beweiswürdigung ist rechtlich nicht zu beanstanden.

a) Spricht das Gericht eine Angeklagte frei, weil es Zweifel an ihrer Täterschaft nicht zu überwinden vermag, so ist dies durch das Revisionsgericht in der Regel hinzunehmen. Die Beweiswürdigung ist Sache des Tatrichters. Es kommt nicht darauf an, ob das Revisionsgericht angefallene Erkenntnisse anders gewürdigt oder Zweifel überwunden hätte. Eine Beweiswürdigung ist dann rechtsfehlerhaft, wenn sie schon von einem rechtlich unzutreffenden Ansatz ausgeht, wenn sie lückenhaft ist, namentlich wesentliche Feststellungen nicht erörtert, wenn sie widersprüchlich oder unklar ist, gegen Gesetze der Logik oder gesicherte Erfahrungssätze verstößt oder wenn an die zur Verurteilung erforderliche Gewissheit überspannte Anforderungen gestellt werden (st. Rspr.; vgl. etwa BGH, Urteil vom 22. Mai 2007 - 1 StR 582/06, juris; Senat, Urteil vom 2. November 1994 - 2 StR 441/94, BGHR StPO § 261 Überzeugungsbildung 25, jew. mwN).

b) Diesen Maßstäben wird das Urteil gerecht.

Das Landgericht hat umfangreich die die Angeklagte belastenden Indizien sowie die sie entlastenden Umstände aufgelistet und abwägend gewürdigt. Die Beweiswürdigung ist weder durchgreifend lückenhaft noch entbehrt sie einer erschöpfenden Gesamtwürdigung. An ihre Überzeugungsbildung hat die Strafkammer keine überspannten Anforderungen gestellt und auch die Bedeutung des Zweifelssatzes nicht verkannt. Die mehrfachen sprachlichen Wendungen im Urteil, wonach aus bestimmten Umständen „nicht zwingend“ ein entsprechender Schluss gezogen werden könne bzw. bestimmte Umstände „nicht auszuschließen“ seien, lässt den Senat unter Berücksichtigung der jeweiligen konkreten Begründungszusammenhänge und den mit § 339 StGB einher gehenden hohen Anforderungen an die Urteilsgründe (vgl. dazu MüKo-StGB/ Uebele, 4. Aufl., § 339 Rn. 81 mwN), noch nicht besorgen, dass das Landgericht mit diesen missglückten Formulierungen den Zweifelssatz rechtsfehlerhaft auf ein einzelnes Indiz übertragen (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 66. Aufl., § 261 Rn. 26 mwN) oder überspannte Anforderungen an die Beweiswürdigung gestellt haben könnte.

2. Hiervon ausgehend ist gegen die Wertung des Landgerichts, die Angeklagte habe in allen Fällen jedenfalls ohne Vorsatz gehandelt, revisionsrechtlich nichts zu erinnern.

a) Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs verwirklicht nicht schon jede (bedingt) vorsätzlich begangene Rechtsverletzung eine „Beugung des Rechts"; vielmehr wird vorausgesetzt, dass der Richter „sich bewusst in schwerwiegender Weise von Recht und Gesetz entfernt“. Diese Differenzierung zwischen Rechtsverstoß und „Beugung des Rechts“ in objektiver Hinsicht, bedingtem Vorsatz und „bewusster Entfernung von Recht und Gesetz“ in subjektiver Hinsicht enthält, entgegen in der Literatur erhobener Kritik, keinen Widerspruch, wenn für die praktische Anwendung des Tatbestands hinsichtlich der Tatbestandsvoraussetzung der Verletzung einer Rechtsnorm bedingter Vorsatz ausreicht und für die Schwerebeurteilung die Bedeutung der verletzten Rechtsvorschrift maßgebend ist (vgl. Senat, Urteil vom 22. Januar 2014 - 2 StR 479/13, BGHSt 59, 144, 147 mwN).

Der Täter des § 339 StGB muss also einerseits die Unvertretbarkeit seiner Rechtsansicht zumindest für möglich gehalten und billigend in Kauf genommen haben; andererseits muss er sich der grundlegenden Bedeutung der verletzten Rechtsregel für die Verwirklichung von Recht und Gesetz bewusst gewesen sein (vgl. Senat, aaO; MüKo-StGB/Uebele, aaO, Rn. 62). Bedingter Vorsatz reicht für das Vorliegen eines Rechtsverstoßes aus; Bedeutungskenntnis im Sinn direkten Vorsatzes ist hinsichtlich der Schwere des Rechtsverstoßes erforderlich. Diese Differenzierung trägt dem berechtigten Anliegen Rechnung, einerseits den Verbrechenstatbestand der Rechtsbeugung nicht auf jede „nur“ rechtsfehlerhafte Entscheidung anzuwenden, andererseits aber ein sachwidriges Privileg für Richter auszuschließen, die unter bedingt vorsätzlicher Anwendung objektiv unvertretbarer Rechtsansichten bei der Entscheidung von Rechtssachen Normen verletzen, deren grundlegende - materiellrechtliche oder verfahrensrechtliche - Bedeutung für die Rechtsordnung im Allgemeinen oder für die zu entscheidende Sache ihnen bewusst ist.

b) Entgegen der Auffassung der Beschwerdeführerin ist es auch mit Blick auf die Schwere der zur Last liegenden Rechtsverstöße und die Gesamtheit der konkret festgestellten Tatumstände nicht zu beanstanden, dass das Landgericht nicht von einem (bedingten) Vorsatz der Angeklagten im Sinne einer bewussten Abkehr von Recht und Gesetz ausgegangen ist.

aa) Nach § 153 Abs. 1 StPO kann die Staatsanwaltschaft unter den in dieser Vorschrift näher bezeichneten Voraussetzungen von der Erhebung der öffentlichen Klage absehen. Für die Beurteilung der geringen Schuld wird ein durchermittelter Sachverhalt nicht vorausgesetzt (SSW-StPO/Schnabl, 5. Aufl., § 153 Rn. 8). Aus der Formulierung „die Schuld als gering anzusehen wäre“ folgt, dass es eines Schuldnachweises nicht bedarf. Es genügt eine gewisse Wahrscheinlichkeit auf der Grundlage einer hypothetischen Schuldbeurteilung (BVerfG, Beschluss vom 29. Mai 1990 - 2 BVR 254/88 u.a., BVerfGE 82, 106, 116; SSW-StPO/Schnabl, aaO). Auf der Rechtsfolgenseite eröffnet die Bestimmung echtes Ermessen (KK-StPO/Diemer, 9. Aufl., § 153 Rn. 17). Den Staatsanwaltschaften kommt bei der Anwendung des Opportunitätsprinzips gemäß § 153 Abs. 1 Satz 2 StPO zudem ein weiterer Beurteilungsspielraum zu (vgl. auch BVerfG, Beschluss vom 5. November 2001, 2 BvR 1551/01 - NJW 2002, 815, 816). Im Bereich der Massenverfahren mit Bagatellcharakter, auf die § 153 StPO zugeschnitten ist, sind deshalb für gewöhnlich Einstellungen eher knapp und stereotyp begründet.

Eröffnet eine Rechtsnorm einen Beurteilungsspielraum und ein Ermessen, begründet das Willkürverbot eine Verpflichtung zu dessen sachgerechter Ausübung. Das zur Entscheidung berufene Rechtspflegeorgan darf seine Entscheidung daher nicht nach freiem Belieben treffen, sondern muss das ihm eingeräumte Ermessen pflichtgemäß ausüben (vgl. BVerfG, Beschluss vom 29. Oktober 2015 - 2 BvR 388/13; Beschluss vom 15. Februar 2010 - 1 BvR 285/10; BVerfGE 116, 1, 12).

bb) Gemessen daran ist die Begründung, mit der das Landgericht in den Fällen 1, 5, 6, 9, 12 und 13 zwar von objektiv unvertretbaren Entscheidungen ausgegangen ist, ein bewusstes und schwerwiegendes Hinwegsetzen der Angeklagten über Recht und Gesetz aber verneint hat, aus Rechtsgründen nicht zu beanstanden.

(1) Das Landgericht hat in den Blick genommen, dass die Angeklagte in den vorbezeichneten Fällen ihrer jeweiligen Entscheidung teilweise Gesichtspunkte und Erwägungen zu Grunde gelegt hat, die nicht der jeweiligen Aktenlage entsprachen. Dies betrifft etwa das Vorliegen bzw. Fehlen von Vorstrafen bei den Beschuldigten sowie der stereotype Hinweis der Angeklagten in sämtlichen Fällen auf geringe Schäden, obwohl solche nur in zwei Fällen entstanden waren. Die Begründungen für eine Einstellung gemäß § 153 Abs. 1 StPO erweisen sich nach alledem schon jede für sich genommen als sachwidrig.

(2) Der Angeklagten ist jedoch bei wertender Gesamtbetrachtung aller objektiven und subjektiven Umstände kein elementarer Rechtsverstoß zur Last zu legen.

Maßgeblich gegen das Vorliegen zumindest bedingt vorsätzlich begangener elementarer Rechtsverstöße sprechen hier die vom Landgericht letztlich rechtsfehlerfrei festgestellten weiteren sachbezogenen Überlegungen, die die Angeklagte bei Erlass der Einstellungsentscheidungen anstellte. Schon die Vorsortierung der Verfahrensakten durch die Angeklagte danach, ob eine Einstellung nach § 170 Abs. 2 StPO, eine solche nach § 153 StPO oder eine Anklage bzw. ein Strafbefehl in Betracht kam, legt für sich genommen einen solchen elementaren Rechtsverstoß nicht nahe. Ferner konnte die Strafkammer bei ihrer Bewertung des Handelns der Angeklagten ohne Rechtsfehler darauf abstellen, dass die für das Absehen von Klageerhebung herangezogenen Gesichtspunkte jedenfalls teilweise tatsachenfundiert waren und die Angeklagte - jedenfalls in Ansätzen - deren Gewichtung vornahm. Darin konnte das Landgericht im Ergebnis ohne Rechtsfehler die von § 153 Abs. 1 StPO vorgeschriebene Ermessensausübung sehen. Dass ein anderes Abwägungsergebnis vertretbar gewesen wäre, verleiht den Entscheidungen der Angeklagten ebenso wie rechtliche Irrtümer infolge ihrer vom Landgericht festgestellten mangelhaften Rechtskenntnisse noch nicht den Charakter elementarer Rechtsbrüche (vgl. BGH, Urteil vom 29. Oktober 2009 - 4 StR 97/09, juris Rn. 15).

(3) Bei der Beurteilung des Gewichts der der Angeklagten zur Last gelegten Rechtsverstöße hat das Landgericht die Zahl der letztlich zu beanstandenden Fälle zu Recht in ein Verhältnis mit den von 2014 bis 2016 dienstaufsichtsrechtlich geprüften Fällen gesetzt.

Nach rechtskräftigem Freispruch der Angeklagten vom Vorwurf der Rechtsbeugung in anderer Sache im August 2017 sind insgesamt 389 von ihr bearbeitete Verfahren aus dem Zeitraum von 2014 bis 2016 geprüft worden. Die Leitende Oberstaatsanwältin hat deren Verfahrensweise in 44 Fällen beanstandet; ihr Stellvertreter hat diese Zahl anschließend auf 31 reduziert. Die Anklage hat nur noch 13 dieser Verfahren zum Gegenstand. Die Strafkammer hat schließlich - wenn auch mit anderer Begründung - die Einstellung in sieben der angeklagten Fälle im Ergebnis für vertretbar und in nur sechs Fällen für ermessensfehlerhaft erachtet.

Wenngleich sich aus den Urteilsgründen nicht ergibt, ob alle Beanstandungen durch die Leitende Oberstaatsanwältin und deren Stellvertreter den Vorwurf der Rechtsbeugung zum Gegenstand hatten, wird damit zumindest indiziell das geringe Ausmaß und Gewicht der angeklagten Verfahren im Verhältnis zu den geprüften bzw. ursprünglich beanstandeten Verfahren über einen Zeitraum von zwei Jahren belegt. Zudem gibt es keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass die Angeklagte ihr Verhalten systematisch statt an Recht und Gesetz an ihren eigenen Maßstäben ausgerichtet hat.

cc) Den Feststellungen ist auch im Übrigen nicht zu entnehmen, dass sich die Angeklagte bewusst in schwerwiegender Weise von Recht und Gesetz entfernt (vgl. dazu nur BGH, Urteil vom 18. August 2021 - 5 StR 39/21, NStZ-RR 2021, 378; Senat, Urteil vom 22. Januar 2014 - 2 StR 479/13, BGHSt 59, 144, 147 f., jeweils mwN) und die Einstellungsentscheidungen an ihren eigenen Maßstäben ausgerichtet hat.

(1) Die in den jüngeren dienstlichen Beurteilungen der Angeklagten hervorgehobenen Qualitätsmängel bei der Bearbeitung auch einfach gelagerter Sachverhalte und die Gespräche mit Vorgesetzten, die (auch) ihre schleppende Arbeitsweise zum Gegenstand hatten, betrafen nicht ihre Einstellungspraxis gemäß §§ 153 f. StPO.

(2) Die Strafkammer hat auch nicht festzustellen vermocht, dass die seit 1994 als Amtsanwältin tätige Angeklagte die Rechtsordnung (teilweise) in Frage stellt oder früher in Frage stellte oder auch nur vereinzelt unsachliche Kritik daran übte (vgl. dazu Senat, Urteil vom 22. Januar 2014 - 2 StR 479/13, BGHSt 59, 144, 145). Entsprechende Äußerungen der Angeklagten sind nicht festgestellt. Dass die Angeklagte „keinen fachlichen Rat bei Kollegen suchte und auf Hinweise zum Teil unzugänglich und impulsiv reagierte“, reicht dafür nicht aus. Das Landgericht hat vielmehr rechtsfehlerfrei festgestellt, dass die Angeklagte gerade nicht in der Absicht handelte, eine ermessensfehlerfreie Anwendung des Rechts generell zu verweigern oder ihr Ermessen mutwillig zu missbrauchen (vgl. BGH, Urteil vom 21. Januar 2021 - 4 StR 83/20, NStZ 2021, 365, 367 f. mwN).

(3) Es ist schließlich auch nicht festgestellt, dass die Angeklagte im Hinblick darauf, dass sie Betroffene oder ihre Rechtsbeistände gekannt habe oder diese auf sie Einfluss genommen hätten, gehandelt haben könnte.

3. Nach alledem weist der umfassende Freispruch keinen Rechtsfehler zum Vorteil der Angeklagten auf.

HRRS-Nummer: HRRS 2023 Nr. 1268

Bearbeiter: Julia Heß/Karsten Gaede