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HRRS-Nummer: HRRS 2023 Nr. 1424

Bearbeiter: Julia Heß/Karsten Gaede

Zitiervorschlag: BGH, 2 StR 163/23, Beschluss v. 27.09.2023, HRRS 2023 Nr. 1424


BGH 2 StR 163/23 - Beschluss vom 27. September 2023 (LG Kassel)

Adhäsionsverfahren (Feststellung einer Verpflichtung zum Schadensersatz im Hinblick auf künftige immaterielle Schäden: Feststellungsinteresse).

§ 403 StPO

Entscheidungstenor

1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Kassel vom 4. Oktober 2022 im Adhäsionsausspruch

a) aufgehoben hinsichtlich sämtlicher zu Gunsten der Nebenklägerin N. M. getroffener Feststellungsentscheidungen und soweit eine Verpflichtung des Angeklagten zur Zahlung von Schadensersatz für alle künftigen immateriellen Schäden zu Gunsten der Nebenklägerin A. M. festgestellt ist. Insoweit wird von einer Entscheidung über die Adhäsionsanträge abgesehen,

b) dahingehend abgeändert, dass festgestellt wird, dass der Angeklagte verpflichtet ist, der Nebenklägerin A. M. sämtliche materiellen Schäden zu ersetzen, die ihr künftig infolge der zu ihrem Nachteil im Zeitraum vom 31. März 2011 bis 30. September 2017 begangenen Taten entstehen, soweit die Ansprüche nicht auf Sozialversicherungsträger oder sonstige Dritte übergegangen sind oder übergehen werden.

2. Die weitergehende Revision wird verworfen.

3. Der Beschwerdeführer hat die Kosten seines Rechtsmittels und die den Neben- und Adhäsionsklägerinnen im Revisionsverfahren entstandenen notwendigen Auslagen zu tragen. Jedoch trägt die Staatskasse die durch den Feststellungsausspruch für die Nebenklägerinnen entstandenen zusätzlichen Auslagen, soweit jeweils von einer Entscheidung abgesehen worden ist.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern in 72 Fällen, jeweils in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch von Schutzbefohlenen, ferner wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern in drei Fällen, jeweils in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch von Schutzbefohlenen, darüber hinaus wegen Vergewaltigung in 15 Fällen, davon in fünf Fällen in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch von Schutzbefohlenen, ferner wegen sexuellen Übergriffs in fünf Fällen, jeweils in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch von Schutzbefohlenen, des Weiteren wegen sexuellen Missbrauchs von Schutzbefohlenen in 160 Fällen und zudem wegen Besitzes kinderpornografischer Inhalte in Tateinheit mit dem Besitz jugendpornografischer Inhalte zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von acht Jahren und sechs Monaten verurteilt und ihn im Übrigen freigesprochen. Außerdem hat es eine Adhäsionsentscheidung getroffen. Die auf die Verletzung sachlichen Rechts gestützte Revision des Angeklagten hat hinsichtlich der Adhäsionsentscheidung einen Teilerfolg; im Übrigen ist sie offensichtlich unbegründet (§ 349 Abs. 2 StPO).

1. Das angefochtene Urteil weist auch unter Berücksichtigung des Revisionsvorbringens Rechtsfehler zu Lasten des Angeklagten weder im Schuldspruch noch im Strafausspruch auf.

2. Hingegen erweist sich die Adhäsionsentscheidung des Landgerichts in mehrfacher Hinsicht als rechtsfehlerhaft.

a) Es ist zwar nicht zu beanstanden, dass das Landgericht hinsichtlich künftiger materieller Schäden eine Verpflichtung zum Schadensersatz zu Gunsten der Nebenklägerin A. M. ausgesprochen hat. Den Urteilsgründen lässt sich entnehmen, dass die Geschädigte eine stationäre Therapie durchzuführen beabsichtigte. Aus diesem Grund konnten mögliche Behandlungskosten noch nicht beziffert werden. Bei noch nicht abgeschlossener Schadensentwicklung besteht insoweit kein Vorrang der Leistungsklage; der Kläger kann in vollem Umfang Feststellung der Ersatzpflicht begehren (vgl. Senat, Beschluss vom 24. Mai 2022 - 2 StR 466/21).

Hingegen fehlt es für die weitergehende Feststellung einer Verpflichtung zum Schadensersatz auch im Hinblick auf künftige immaterielle Schäden an einem hierfür erforderlichen Feststellungsinteresse. Anders als hinsichtlich künftiger materieller Schäden ist weder dem Feststellungsausspruch noch dem Gesamtzusammenhang der Urteilsgründe zu entnehmen, dass künftig immaterielle Schäden, die nicht bereits von dem Ausspruch über die Verurteilung des Angeklagten zur Zahlung der Schmerzensgeldbeträge umfasst sind, wahrscheinlich entstehen werden. Verlangt der Geschädigte für erlittene Verletzungen ein Schmerzensgeld, so werden nach dem Grundsatz der Einheitlichkeit des Schmerzensgeldes davon alle Schadensfolgen erfasst, die entweder bereits eingetreten und objektiv erkennbar sind oder deren Eintritt jedenfalls vorhergesehen und bei der Entscheidung berücksichtigt werden können (st. Rspr.; Senat, Beschluss vom 22. Oktober 2019 - 2 StR 397/19, NStZ-RR 2020, 53). Hinweise auf die Wahrscheinlichkeit anderer als bereits bei der Bemessung der Schmerzensgelder in den Blick genommener zukünftiger immaterieller Schäden enthalten die Urteilsgründe nicht. Der Feststellungsausspruch ist insoweit aufzuheben.

Soweit der Feststellungsanspruch Bestand hat, bedarf er schließlich der Ergänzung. Die Verurteilung ist unter den im Hinblick auf § 116 SGB X bzw. § 86 VVG erforderlichen Vorbehalt zu stellen, dass eine Ersatzpflicht des Angeklagten nur insoweit besteht, als die Schadensersatzansprüche nicht auf Sozialversicherungsträger oder sonstige Dritte - der Urteilstenor führt nur „Träger der Sozialversicherung“ auf - übergegangen sind (vgl. Senat, Beschluss vom 25. August 2016 - 2 StR 585/15).

b) Der Ausspruch über die Feststellung einer Ersatzpflicht hinsichtlich zukünftiger Schäden zu Gunsten der Nebenklägerin N. M. hält rechtlicher Nachprüfung gleichfalls nicht stand, da es insoweit insgesamt an einem Feststellungsinteresse fehlt. Eine Begründung des Feststellungsausspruchs fehlt, auch lässt sich dem Gesamtzusammenhang der Urteilsgründe ein Feststellungsinteresse nicht entnehmen. Das Landgericht hat vielmehr ausdrücklich mitgeteilt, dass konkrete Auswirkungen auf die Geschädigte durch die Taten derzeit nicht festzustellen seien.

c) Schließlich verletzt die Adhäsionsentscheidung § 308 Abs. 1 Satz 1 ZPO (vgl. zu dessen Geltung im Adhäsionsverfahren BGH, Beschluss vom 23. August 2022 - 1 StR 252/22), soweit festgestellt ist, dass „die Hauptsacheforderungen bezüglich der Nebenklägerin N. M. sowohl hinsichtlich des Zahlungs- als auch Feststellungausspruchs aus vorsätzlichen unerlaubten Handlungen herrühren“, denn einen solchen Antrag hat die Nebenklägerin N. M. ? anders als ihre Schwester - nur in Bezug auf die Feststellung der Ersatzpflicht des Angeklagten für zukünftig entstehende Schäden materieller oder immaterieller Art und mithin nicht in Bezug auf die Schmerzensgeldforderung gestellt.

d) Soweit im Adhäsionsverfahren geltend gemachte Ansprüche nicht zuerkannt werden, ist nach § 406 Abs. 1 Satz 3 StPO von einer Entscheidung abzusehen.

3. Die Kostenentscheidung folgt, soweit die Revision zum Adhäsionsausspruch Erfolg hat, aus § 472a Abs. 2 StPO (vgl. Senat, Beschluss vom 22. Oktober 2019 - 2 StR 397/19), im Übrigen aus § 473 Abs. 1 Satz 1 und 2 StPO.

HRRS-Nummer: HRRS 2023 Nr. 1424

Bearbeiter: Julia Heß/Karsten Gaede