HRRS-Nummer: HRRS 2023 Nr. 529
Bearbeiter: Julia Heß/Karsten Gaede
Zitiervorschlag: BGH, 2 StR 159/22, Urteil v. 23.11.2022, HRRS 2023 Nr. 529
1. Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des Landgerichts Kassel vom 15. Oktober 2021 mit den Feststellungen aufgehoben,
a) im Fall II.5. der Urteilsgründe,
b) im Ausspruch über die Gesamtfreiheitsstrafe und
c) im Ausspruch über die Maßregel.
2. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere als Schwurgericht zuständige Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Totschlags, Computerbetrugs in Tateinheit mit Fälschung beweiserheblicher Daten in drei Fällen und versuchten Computerbetrugs in Tateinheit mit Fälschung beweiserheblicher Daten zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zehn Jahren verurteilt. Es hat die Unterbringung des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt angeordnet und bestimmt, dass drei Jahre der Gesamtfreiheitsstrafe vor der Vollziehung der Unterbringung zu vollstrecken sind. Außerdem hat es die Einziehung des Wertes von Taterträgen in Höhe von 2.763,55 € angeordnet. In Laos erlittene Abschiebehaft hat es im Verhältnis von eins zu drei auf die erkannte Gesamtfreiheitsstrafe angerechnet. Gegen dieses Urteil richtet sich die auf die Sachrüge gestützte und auf Fall II.5. der Urteilsgründe beschränkte Revision der Staatsanwaltschaft. Das Rechtsmittel hat Erfolg.
Das Landgericht hat folgende Feststellungen und Wertungen getroffen:
1. Der Angeklagte wohnte seit Ende April oder Anfang Mai 2019 bei P. P. stand unter Betreuung und arbeitete in beschützenden Werkstätten. Er verfügte nur über geringe Einnahmen, die kaum die Höhe seiner Ausgaben überstiegen, weshalb er beides zu kontrollieren pflegte. Er sehnte sich nach sozialen Kontakten und war froh über jede Bekanntschaft. So entstand auch die Freundschaft zu dem Angeklagten, den er nach der Haftentlassung in seine Wohnung aufgenommen hatte. Beide tranken gemeinsam Alkohol und konsumierten Cannabis. P. hielt zehn Katzen, an denen er sehr hing.
Der Angeklagte hatte im Mai 2019 kaum noch finanzielle Mittel und beschloss, auf den Namen und für die Rechnung von P. im Internet Mobilfunkverträge abzuschließen, welche die Überlassung von Handys zum Gegenstand hatten. Er wollte die Mobiltelefone nicht bezahlen, aber weiterverkaufen. Bei den Bestellungen gab er den Namen von P. und dessen Kontoverbindung an, verwendete einen von ihm eingerichteten E-Mail-Account mit einer auf P. hinweisenden Namenskennung und gab bei den Bestellungen dessen Daten an. Auf diese Weise schloss er am 7. Mai 2019 mit der D. AG einen Mobilfunkvertrag ab, die daraufhin ein iPhone im Wert von 1.649 € an die Anschrift von P. übersandte, wo es vom Angeklagten entgegengenommen wurde (Fall II.1. der Urteilsgründe). Auf die gleiche Weise versuchte der Angeklagte bei dem Anbieter 1 einen Mobilfunkvertrag abzuschließen, der zunächst nicht zustande kam (Fall II.2. der Urteilsgründe). Am 9. Mai 2019 gelang es ihm, mit diesem Anbieter einen Mobilfunkvertrag abzuschließen, der die Lieferung eines Handys im Wert von 349 € zur Folge hatte (Fall II.3. der Urteilsgründe). Schließlich bestellte der Angeklagte bei der R. GmbH & Co. KG einen Laptop im Wert von 765,55 € unter dem Namen von P. Das Gerät wurde an dessen Anschrift geliefert und vom Angeklagten in Empfang genommen (Fall II.4. der Urteilsgründe).
Der Angeklagte verkaufte die Geräte. P. hatte von den Vorgängen keine Kenntnis. In der Folgezeit versuchten die D. AG und die R. GmbH & Co. KG, die vereinbarten Beträge von seinem Konto einzuziehen, was zu Rücklastschriften führte. Am 24. Mai 2019 äußerte P. gegenüber seiner Betreuerin in Anwesenheit des Angeklagten, dass er die Buchungsvorgänge nicht einordnen könne.
Am 17. Juni 2019 begab sich P. in einen Verkaufsladen der D. AG, wo er das Guthaben der Prepaid-Karte seines Mobiltelefons aufladen wollte. Der dortige Mitarbeiter stellte fest, dass ein Mobilfunkvertrag bestand. P. erklärte, dass er davon nichts wisse und vermute, dass ein Mitbewohner etwas damit zu tun haben könne; er wolle mit diesem darüber sprechen. Der Mitarbeiter der AG empfahl P., dass er sich an die Polizei wenden solle. P. begab sich zuerst zu seinem Freund L., dem er von seinem Erlebnis berichtete. Nachdem bereits in der Vergangenheit Unbekannte auf seinen Namen Waren bestellt hatten, riefen P. und L. gemeinsam die Polizei an, um Strafanzeige zu erstatten. Ihnen wurde mitgeteilt, dass Unterlagen benötigt würden, die P. am nächsten Tag überbringen solle. Am 18. Juni 2019 erschien P. bei L., der dann aber keine Zeit für ihn hatte. Zu einer Strafanzeige kam es in der Folgezeit nicht mehr.
Am Abend des 19. Juni 2019 wollten P. und Le. in der Wohnung von P. Videofilme ansehen; auch der Angeklagte war anwesend. Wegen Problemen mit dem Internetanschluss gelang es nicht, Videofilme aufzurufen, worüber P. aufgebracht war. Auch zwischen ihm und dem Angeklagten gab es eine verbale Auseinandersetzung, wobei Le. aber nicht den Eindruck hatte, dass P. den Angeklagten für die Probleme mit dem Internet verantwortlich machte. Le. verließ nach ein bis zwei Stunden die Wohnung. Im weiteren Verlauf des Abends teilten sich der Angeklagte und P., welche die meiste Zeit gemeinsam auf dem Sofa im Wohnzimmer verbrachten, Wasser und Bier, in das der Angeklagte jeweils einige Tropfen Benzodiazepine gab. Außerdem rauchten sie zusammen Cannabis. Später gab es einen Streit zwischen dem Angeklagten und P. In diesem Zusammenhang tötete der Angeklagte P. auf dem Sofa.
Der genaue Ablauf war nicht festzustellen. Jedenfalls schlug der Angeklagte mit einem stumpfen Gegenstand mindestens zweimal auf den auf einem Widerlager liegenden Kopf von P. Die Schläge verursachten eine Trümmerfraktur des Schädels, die bald zum Tod führte. Außerdem würgte der Angeklagte P. vor, während oder nach den Schlägen derart am Hals, dass es zu einer Fraktur des Kehlkopfknorpels kam; das Würgen war aber nicht ursächlich für den Tod. Zudem erlitt P. Schnittverletzungen an Fingern und am Handgelenk. Bei der Tatbegehung war das Hemmungsvermögen des Angeklagten aufgrund der Intoxikation mit Alkohol und Betäubungsmitteln erheblich eingeschränkt (Fall II.5. der Urteilsgründe).
2. Zu dem Tötungsverbrechen hat der Angeklagte im Kern angegeben, er habe Benzodiazepin in die Getränke gegeben, um einen Rausch zu erzeugen. Die Getränke habe er sich mit P. geteilt. Zusammen mit diesem habe er auf dem Sofa gesessen und Musik gehört; später habe er PlayStation gespielt. Als es bereits dunkel gewesen sei, sei er versehentlich einer der Katzen auf den Schwanz getreten. P. habe sich lange darüber aufgeregt. Er, der Angeklagte, habe die PlayStation ausgemacht, als er wegen des Betäubungsmittelkonsums nicht mehr habe spielen können. Danach habe er versucht, P. zu beruhigen. Gegen 22.00 Uhr oder 22.30 Uhr hätten sie zusammen eine Wasserpfeife geraucht. An das, was danach geschehen sei, könne er sich nicht erinnern.
Aufgrund dieser Einlassung und weiterer Indizien hat sich das Landgericht davon überzeugt, dass der Angeklagte der Täter des Tötungsdelikts war. Nach der Einlassung habe aber keine Verdeckungsabsicht vorgelegen. Auslöser der Tat sei ein Streit am Abend gewesen, weil der Angeklagte versehentlich auf den Schwanz einer Katze getreten sei. Die Einlassung sei dahin zu verstehen, dass der Angeklagte den Streit sowie den Alkohol- und Drogeneinfluss als Motiv für die Tötung angesehen habe. Ein Mordmerkmal lasse sich daraus nicht ableiten. Das behauptete Geschehen sei nicht ausgeschlossen, weil P. seine Katzen sehr geliebt habe und aufbrausend gewesen sei. Der Zeuge Le. habe P. aufgeregte Stimmung bei dem vorangegangenen Geschehen geschildert. Zwar sei auch eine Tötung des Opfers in Verdeckungsabsicht möglich. P. habe eine Strafanzeige erstatten wollen. Außerdem habe er geäußert, dass er den Angeklagten auf die Bestellungen im Internet habe ansprechen wollen. Eine Motivation des Angeklagten, der zur Tatzeit unter Bewährung gestanden habe, hätte darin bestanden haben können, eine Strafanzeige durch P. zu verhindern. Die Flucht nach Laos zeige, dass er sich vor Haft gefürchtet habe; jedoch stellte sich die Frage, warum er nicht schon geflohen sei, um sich der Verfolgung wegen der betrügerischen Bestellungen zu entziehen. Schließlich stehe nicht fest, dass P. den Angeklagten mit Vorwürfen wegen der Internetbestellungen unter seinem Namen konfrontiert und ihm eine Strafanzeige angedroht habe. Die massive Tatausführung lasse nicht auf ein Handeln aus Verdeckungsabsicht schließen. Das Nachtatgeschehen sei nicht aussagekräftig. Anhaltspunkte für das Vorliegen anderer Mordmerkmale lägen nicht vor.
Das Rechtsmittel der Staatsanwaltschaft ist wirksam beschränkt.
1. Die Staatsanwaltschaft hat die Sachrüge erhoben und beantragt, „das angefochtene Urteil“ … „mitsamt allen zugrundeliegenden Feststellungen aufzuheben“. Nach der Revisionsbegründung hat sie „insbesondere - also ohne Beschränkung der Anfechtung auf die nachfolgenden Einzelaspekte“ die Lückenhaftigkeit und Erörterungsmängel in den Feststellungen zur Tötungshandlung sowie die fehlerhafte Behandlung des Mordmerkmals der Verdeckungsabsicht bemängelt. Für Revisionen der Staatsanwaltschaft ist aber Nr. 156 Abs. 1 RiStBV zu berücksichtigen. Danach ist die Staatsanwaltschaft verpflichtet, jedes von ihr eingelegte Rechtsmittel zu begründen. Darüber hinaus soll sie ihre Revision stets so rechtfertigen, dass klar ersichtlich ist, in welchen Ausführungen des angefochtenen Urteils sie eine Rechtsverletzung erblickt und auf welche Gründe sie ihre Rechtsauffassung stützt (Nr. 156 Abs. 2 RiStBV). Dies entspricht zugleich dem Zweck des § 345 Abs. 2 StPO (vgl. BGH, Urteil vom 14. April 2022 - 5 StR 313/21; NStZ-RR 2022, 201). Angesichts dessen ist nach dem maßgeblichen Sinn der Revisionsbegründung allein die Verurteilung des Angeklagten im Fall II.5. der Urteilsgründe angefochten.
2. Die Verurteilung wegen Totschlags bildet eine Grundlage der Gesamtfreiheitsstrafe und der Maßregel, so dass diese von der Revisionsbeschränkung nicht erfasst werden. Die auf die Fälle des Computerbetruges bezogene Einziehungsentscheidung und die allgemein geltende Bestimmung eines Anrechnungsmaßstabs für erlittene Auslieferungshaft bleiben unberührt.
Im Umfang der Anfechtung ist das Rechtsmittel begründet.
1. Die Beweiswürdigung des Landgerichts erweist sich als rechtsfehlerhaft.
a) Das Revisionsgericht muss es grundsätzlich hinnehmen, wenn das Tatgericht eine dem Angeklagten günstige Entscheidung trifft, weil es Zweifel an der Tat oder an Erschwerungsgründen nicht zu überwinden vermag. Die Beweiswürdigung ist Sache des Tatgerichts. Ihm obliegt es, das Ergebnis der Hauptverhandlung festzustellen und zu würdigen. Seine Schlussfolgerungen brauchen nicht zwingend zu sein, es genügt, dass sie möglich sind (vgl. Senat, Urteil vom 1. Februar 2017 - 2 StR 78/16, NStZ-RR 2017, 183, 184 mwN). Die revisionsgerichtliche Prüfung beschränkt sich darauf, ob dem Tatrichter Rechtsfehler unterlaufen sind. Dies ist der Fall, wenn die Beweiswürdigung widersprüchlich, unklar oder lückenhaft ist oder gegen die Denkgesetze oder gesicherte Erfahrungssätze verstößt. Das Urteil muss erkennen lassen, dass der Tatrichter wesentliche Umstände, die geeignet sind, die Entscheidung zu Gunsten oder zu Ungunsten des Angeklagten zu beeinflussen, erkannt und in seine Überlegungen einbezogen hat. Aus den Urteilsgründen muss sich ferner ergeben, dass die einzelnen Beweisergebnisse nicht nur isoliert gewertet, sondern in eine umfassende Gesamtwürdigung eingestellt wurden (vgl. Senat, Urteil vom 23. Juli 2008 - 2 StR 150/08, NJW 2008, 2792, 2793 mwN). Rechtsfehlerhaft ist eine Beweiswürdigung schließlich, wenn an die zur Verurteilung erforderliche Gewissheit überspannte Anforderungen gestellt worden sind. Dies ist auch der Fall, wenn zu besorgen ist, dass die Zweifel des Gerichts ohne konkrete Anhaltspunkte hierfür auf bloß denktheoretische Möglichkeiten gestützt sind (vgl. BGH, Urteil vom 7. November 2006 - 1 StR 307/06, NStZ-RR 2007, 86, 87).
b) Gemessen daran begegnet die Beweiswürdigung des Landgerichts durchgreifenden rechtlichen Bedenken.
aa) Das Landgericht hat seine tragenden Überlegungen so zusammengefasst: „Letztlich hat für die Kammer ausschlaggebende Bedeutung für die Verneinung der Verdeckungsabsicht zum einen, dass die Einlassung des Angeklagten plausibel erscheint, und zum anderen, dass es aufgrund der Aussage des Zeugen Le. Anhaltspunkte für einen Streit am Tattag gibt, der auch tatsächlich nicht mit den Taten des Angeklagten zu tun hatte. Nicht zuletzt auch das verfassungsrechtliche Gebot der restriktiven Anwendung führt daher dazu, das Vorliegen von Verdeckungsabsicht abzulehnen.“
bb) Das ist rechtsfehlerhaft.
(1) Zunächst ergibt sich aus der Bemerkung der Strafkammer, dass eine verfassungsgerichtliche Forderung nach restriktiver Auslegung des Mordmerkmals der Verdeckungsabsicht zu berücksichtigen sei, ein falscher Maßstab für die Beweiswürdigung. Bei der Auslegung des Mordmerkmals (vgl. BVerfG, Urteil vom 21. Juni 1977 - 1 BvL 14/76, BVerfGE 45, 187, 264 f.) handelt es sich um einen Teil der rechtlichen Würdigung des festgestellten Sachverhalts, nicht der Würdigung von Beweisgrundlagen für die Feststellung einer Verdeckungsabsicht. Durch die Hervorhebung eines Gebots der restriktiven Auslegung des Mordmerkmals hat das Landgericht daher überzogene Anforderungen an die Überzeugungsbildung aufgestellt.
(2) Ferner hat es auch seine Annahme, es komme ein Streit als Tatanlass in Betracht, der nichts mit der Aufdeckung der Vortaten durch den Geschädigten zu tun gehabt habe, nicht tragfähig begründet. Dafür fehlt ein tatsächlicher Anhaltspunkt. Ein solcher ergibt sich entgegen der Urteilsbegründung auch nicht aus der Einlassung des Angeklagten, P. sei erbost gewesen und habe ihn stundenlang wegen eines Tritts auf den Schwanz einer Katze angebrüllt; denn er will den Geschädigten geraume Zeit danach zu beruhigen versucht und dazu gemeinsam mit ihm eine Wasserpfeife geraucht haben. An das nachfolgende Geschehen hat der Angeklagte keine Erinnerung. Die Erinnerungslücke umfasst demnach das gesamte Tötungsgeschehen, einschließlich des konkreten Anlasses dazu.
(3) Ein weiterer Rechtsfehler kommt hinzu.
Das Landgericht hat ausgeführt, dass Hinweise auf andere Mordmerkmale, wie insbesondere Habgier oder sonst niedrige Beweggründe, nicht vorlägen. Dabei hat es Heimtücke nicht ausdrücklich erwähnt. Angesichts der massiven Tötungshandlungen und der Position des Opfers zur Tatzeit auf dem Sofa kam ein überraschender Angriff auf sein Leben in Frage. Damit hätte sich das Landgericht unter den gegebenen Umständen genauer als mit dem pauschalen Hinweis, dass „andere Mordmerkmale“ nicht vorlägen, befassen müssen.
2. Die Rechtsfehler zwingen auch zur Aufhebung der Feststellungen zum Tatgeschehen (§ 353 Abs. 2 StPO). Die Aufhebung der Verurteilung des Angeklagten im Fall II.5. der Urteilsgründe entzieht zugleich der Gesamtfreiheitsstrafe und dem Maßregelausspruch die Grundlage, so dass auch diese aufzuheben sind.
HRRS-Nummer: HRRS 2023 Nr. 529
Bearbeiter: Julia Heß/Karsten Gaede