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HRRS-Nummer: HRRS 2022 Nr. 435

Bearbeiter: Karsten Gaede/Julia Heß

Zitiervorschlag: BGH, 2 ARs 381/21, Beschluss v. 01.03.2022, HRRS 2022 Nr. 435


BGH 2 ARs 381/21 2 AR 259/21 - Beschluss vom 1. März 2022

Zuständigkeitsbestimmung durch das gemeinschaftliche obere Gericht (Entscheidung über die Reststrafenaussetzung: Befasstsein, aktenkundig, Vorlaufzeit, Zwei-Drittel-Termin, Verlegung).

§ 14 StPO; § 462a StPO

Entscheidungstenor

Für die Entscheidung über die Aussetzung der Vollstreckung der Reste der Freiheitsstrafen aus den Urteilen des Amtsgerichts Köln vom 21. Oktober 2015 - 581 Ls 322/15 - und vom 21. November 2018 - 581 Ds 350/18 - nach Verbüßung von zwei Dritteln der verhängten Strafen ist das Landgericht Konstanz - Strafvollstreckungskammer - zuständig.

Gründe

I.

Die Strafvollstreckungskammern der Landgerichte Konstanz und Köln streiten darüber, welches von ihnen für die nachträgliche Entscheidung im Verfahren über die Strafrestaussetzung zur Bewährung zuständig ist.

Der Verurteilte verbüßt wegen mehrerer Betäubungsmitteldelikte eine Gesamtfreiheitsstrafe von sieben Monaten aus dem Urteil des Amtsgerichts Köln vom 21. Oktober 2015 sowie eine weitere Freiheitsstrafe von drei Monaten aus dem Urteil des Amtsgerichts Köln vom 21. November 2018. Der gemeinsame Zwei-Drittel-Termin datiert auf den 11. Dezember 2021, das Strafzeitende auf den 24. März 2022.

Nach seiner Festnahme aufgrund eines Vollstreckungshaftbefehls befand sich der Verurteilte vom 25. September 2021 an zunächst in der Justizvollzugsanstalt Konstanz bevor er am 25. Oktober 2021 in die Justizvollzugsanstalt Köln verschubt wurde. Zwischenzeitlich ersuchte die Staatsanwaltschaft Köln die Justizvollzugsanstalt Konstanz am 14. Oktober 2021 um eine Stellungnahme zur Frage einer bedingten Entlassung zum Zwei-Drittel-Termin. Am 25. Oktober 2021, dem Tag der Verlegung, erstellte die Justizvollzugsanstalt Konstanz einen Führungsbericht mit ungünstiger Kriminalprognose und trat einer bedingten Strafaussetzung entgegen. Am selben Tage erteilte der Verurteilte - noch in Konstanz - sein Einverständnis mit einer vorzeitigen Entlassung.

Der Führungsbericht nebst Einverständniserklärung ging am 29. Oktober 2021 bei der Staatsanwaltschaft Köln ein, die die Sache am 8. November der Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Köln vorlegte mit dem Antrag, die Strafreste nicht zur Bewährung auszusetzen. Das Landgericht Köln hat sich für unzuständig erklärt mit der Begründung, das Landgericht Konstanz sei schon vor der Verlegung des Verurteilten wegen des herannahenden Zwei-Drittel-Termins mit der Sache im Sinne des § 462a Abs. 1 Satz 1 StPO befasst gewesen.

Das Landgericht Konstanz lehnt eine Übernahme ab. Der Zeitraum vom Eingang der Akten beim Landgericht Köln am 8. November 2021 bis zum Zwei-Drittel-Termin sei ausreichend, um eine rechtskräftige Entscheidung herbeizuführen. Da der Verurteilte bereits vor Eingang der Akten in die Justizvollzugsanstalt Köln verlegt worden sei, sei die Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Köln zuständig.

II.

1. Der Bundesgerichtshof ist nach § 14 StPO als gemeinschaftliches oberes Gericht der Landgerichte Köln (Oberlandesgericht Köln) und Konstanz (Oberlandesgericht Karlsruhe) zur Entscheidung des Zuständigkeitsstreits berufen.

2. Für die Entscheidung über die Reststrafenaussetzung ist gemäß § 462a Abs. 1 Satz 1 StPO die Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Konstanz zuständig, da in dessen Bezirk die Justizvollzugsanstalt Konstanz liegt, in die der Verurteilte zu dem Zeitpunkt, in dem das Landgericht mit der Sache befasst war, aufgenommen war. Die Verlegung des Verurteilten am 25. Oktober 2021 in die Justizvollzugsanstalt Köln steht dem nicht entgegen.

In seiner Antragsschrift hat der Generalbundesanwalt hinsichtlich der Zuständigkeitsregelung des § 462a Abs. 1 Satz 1 StPO ausgeführt:

„(1.) Nach dieser Vorschrift ist, wenn gegen den Verurteilten - wie hier - eine Freiheitsstrafe vollstreckt wird, für die nach § 454 StPO zu treffenden Entscheidungen die Strafvollstreckungskammer zuständig, in deren Bezirk die Strafanstalt liegt, in die der Verurteilte zu dem Zeitpunkt, in dem das Gericht mit der Sache befasst wird, aufgenommen ist. Bei Entscheidungen, die von Amts wegen ergehen, ist das Gericht im Sinne von § 462a Abs. 1 Satz 1 StPO bereits „mit der Sache befasst“, wenn Tatsachen aktenkundig werden, die eine solche Entscheidung rechtfertigen können, unabhängig davon, ob sich die Verfahrensakten zu diesem Zeitpunkt bei der (zuständigen) Strafvollstreckungskammer befinden (vgl. BGH, Beschluss vom 26. Oktober 2021 - 2 ARs 335/21 -, juris, Rn. 10; Appl, in: KK-StPO, 8. Aufl., § 462a Rn. 17, jeweils m. w. Nachw.). Mit der von Amts wegen zu treffenden Entscheidung über eine Reststrafenaussetzung ist die Strafvollstreckungskammer deshalb schon dann befasst, wenn der nach § 57 Abs. 1 StGB maßgebliche - stets aktenkundige - Zeitpunkt herannaht, auch wenn sie bislang untätig geblieben und ein Aussetzungsantrag noch nicht bei ihr eingegangen ist. Die erforderliche Vorlaufzeit ist so zu bemessen, dass der Verurteilte im Falle einer Bewilligung der Strafaussetzung nach vorheriger Durchführung der erforderlichen Maßnahmen zur Vorbereitung der Entlassung bei Eintritt der Aussetzungsreife entlassen werden könnte (vgl. § 36 Abs. 2 Satz 5 StVollstrO); dabei ist auch ein möglicherweise durchzuführendes Beschwerdeverfahren zu berücksichtigen (vgl. BGH, Beschuss vom 13. Oktober 2021 - 2 ARs 322/21 -, juris Rn. 8 m. w. Nachw.). Wenn allerdings der Verurteilte bereits drei Monate vor dem Zwei-Drittel-Termin verlegt worden ist, kann von einem „Befasstsein“ der Strafvollstreckungskammer, welche für die frühere Justizvollzugsanstalt zuständig war, in der Regel nicht mehr ausgegangen werden (vgl. BGH, Beschluss vom 26. Oktober 2021 - 2 ARs 335/21 - juris, Rn. 11 m. w. Nachw.).

(2.) In vorliegender Sache ist demnach bereits vor der Verlegung des Verurteilten Ende Oktober 2021 die für die örtliche Zuständigkeit entscheidende gerichtliche Befassung mit der Frage der Reststrafenaussetzung eingetreten. Wie sich aus der Stellungnahme der Justizvollzugsanstalt Konstanz ergibt, wären im Falle einer Bewilligung der Strafaussetzung umfangreiche Maßnahmen zur Vorbereitung der Entlassung erforderlich, weil der Verurteilte, der vor seiner Festnahme illegal in die Bundesrepublik Deutschland eingereist war, „hier über keinerlei günstige Entlassungsbedingungen“ verfügt. Außerdem hat die Staatsanwaltschaft Köln beantragt, die Vollstreckung der Strafreste nicht zur Bewährung auszusetzen, weshalb damit zu rechnen ist, dass sie gegen eine Bewilligung einer Strafaussetzung sofortige Beschwerde einlegen wird. Bei dieser Sachlage hätten die Akten nicht erst am 8. November 2021 - nur viereinhalb Wochen vor Eintritt der Aussetzungsreife am 12. Dezember 2021 - dem Gericht vorgelegt werden dürfen. Vielmehr hätte die Aktenvorlage deutlich früher, jedenfalls noch vor der Verlegung des Verurteilten, erfolgen müssen, um eine rechtzeitige (rechtskräftige) Entscheidung über die Reststrafenaussetzung zu gewährleisten, mithin zu einem Zeitpunkt, als der Verurteilte noch in der Justizvollzugsanstalt Konstanz aufgenommen war.“ Dem schließt sich der Senat an. Soweit das Landgericht Konstanz die Auffassung vertritt, der Verurteilte müsse zur Durchführung der gemäß § 454 Abs. 1 Satz 3 StPO zwingend erforderlichen mündlichen Anhörung wieder nach Konstanz verschubt werden, verweist der Senat auf den mit Wirkung zum 1. Juli 2021 eingeführten § 463e StPO, der die Möglichkeit der mündlichen Anhörung im Wege der Bild- und Tonübertragung eröffnet.

HRRS-Nummer: HRRS 2022 Nr. 435

Bearbeiter: Karsten Gaede/Julia Heß