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HRRS-Nummer: HRRS 2022 Nr. 1108

Bearbeiter: Julia Heß/Karsten Gaede

Zitiervorschlag: BGH, 2 StR 435/21, Beschluss v. 23.06.2022, HRRS 2022 Nr. 1108


BGH 2 StR 435/21 - Beschluss vom 23. Juni 2022 (LG Bonn)

Form und Voraussetzungen der Jugendstrafe (schädliche Neigungen: Begehung weiterer Straftaten, halbes Jahr Untersuchungshaft, Begehung von Straftaten unter den Augen des Gerichts); Bemessung der Jugendstrafe (keine Berücksichtigung nicht prozessordnungsgemäß festgestellter oder in einem anderen Verfahren rechtskräftig abgeurteilter Folgedelikte; Strengbeweis; gerichtskundig).

§ 17 Abs. 2 JGG; § 18 JGG

Entscheidungstenor

1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Bonn vom 15. Juni 2021, soweit es ihn betrifft, im Ausspruch über die Höhe der Einheitsjugendstrafe mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben.

2. Die weitergehende Revision wird als unbegründet verworfen.

3. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Jugendkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen versuchten schweren Raubes, Wohnungseinbruchsdiebstahls in Tateinheit mit Sachbeschädigung, vorsätzlicher Körperverletzung, Erschleichens von Leistungen in zwei Fällen sowie wegen exhibitionistischer Handlungen unter Einbeziehung von vier amtsgerichtlichen Urteilen zu einer Einheitsjugendstrafe von vier Jahren verurteilt und ihn im Übrigen freigesprochen.

Die auf die Sachrüge gestützte Revision des Angeklagten hat zum Ausspruch über die Höhe der Jugendstrafe Erfolg; im Übrigen ist sie unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.

Der Schuldspruch weist keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten auf. Die Verhängung von Jugendstrafe wegen der Schwere der Schuld hat das Landgericht ebenfalls rechtsfehlerfrei begründet. Die Erwägungen des Landgerichts zum Vorliegen schädlicher Neigungen und zur Höhe der verhängten Jugendstrafe halten hingegen revisionsrechtlicher Prüfung nicht stand. Ausweislich der Urteilsgründe hat sich während laufender Hauptverhandlung Folgendes ereignet.

„Am 08.06.2021, dem dritten Hauptverhandlungstag, steckte einer der im Gericht Anwesenden dem in Untersuchungshaft befindlichen Angeklagten K. zwei Handys, zwei Ladegeräte sowie mindestens 10 Gramm Haschisch zu. Bei der vorherigen morgendlichen körperlichen Durchsuchung der Vorführstelle wurden keine verbotenen Gegenstände gefunden. Aufgrund eines Hinweises aus der Justizvollzugsanstalt wurde der Angeklagte K. am Ende des Verhandlungstages in der Vorführzelle des Gerichts nochmals durchsucht, wobei die genannten Gegenstände in der Unterhose des Angeklagten K. gefunden wurden.“

Die Annahme schädlicher Neigungen hat die Strafkammer u.a. wie folgt begründet:

„Auch die gegenständlichen Strafverfahren nebst der stattgefundenen Hauptverhandlung sowie die im Zeitpunkt der Hauptverhandlung bereits seit knapp ein halbem Jahr andauernde Untersuchungshaft konnten den Angeklagten nicht von der Begehung weiterer Straftaten abhalten. Er scheute sich dabei nichtmals unter den Augen des Gerichts Straftaten zu begehen und die Vorführungen zu den Verhandlungsterminen dazu auszunutzen, Drogen (und verbotenen Gegenständen) in die Justizvollzugsanstalt schmuggeln zu wollen.“

Auch bei der Bemessung der zu verhängenden Jugendstrafe legt ihm das Landgericht sein Verhalten am dritten Prozesstag zur Last, bei dem er versucht habe, unter den Augen des Gerichts Mobiltelefone und Betäubungsmittel in die Vollzugsanstalt zu schmuggeln.

Der Generalbundesanwalt hat dazu ausgeführt:

„Es kann dahinstehen, ob die vom Landgericht getroffenen Feststellungen bereits hinreichend belegen, dass in dem Angeklagten bereits vor den verfahrensgegenständlichen Taten auf schädliche Neigungen hinweisende Persönlichkeitsmängel angelegt waren. Die Feststellungen zum Fortbestehen solcher Neigungen auch im Urteilszeitpunkt sind indes unvollständig. Für die Feststellbarkeit des Fortbestehens schädlicher Neigungen kann auf das nachtatliche Geschehen verwiesen werden, insbesondere auf das Nachtatverhalten. Da es sich bei schädlichen Neigungen um eine selbständige Voraussetzung der Jugendstrafenverhängung handelt, muss das fragliche Folgedelikt aber prozessordnungsgemäß festgestellt oder in einem anderen Verfahren bereits rechtskräftig abgeurteilt worden sein (Eisenberg JGG 22. Auflage § 17 JGG Rn. 36). Es muss zur Überzeugung des Gerichts feststehen und entsprechend festgestellt werden (MüKo-StGB Radtke/Scholze § 17 JGG Rn. 43). Daran fehlt es hier. Den Urteilsgründen lässt sich nicht entnehmen, dass die Strafkammer das postdeliktische Verhalten des Angeklagten vom 08.06.2021 prozessordnungsgemäß in die Hauptverhandlung eingeführt hat (UA S. 39/52/55). Der zweimalige Hinweis der Strafkammer, der Angeklagte habe sich nicht gescheut, „unter den Augen des Gerichts“ Straftaten zu begehen (UA S. 52/55) genügt nicht. Unabhängig davon steht dies auch im Widerspruch dazu, dass der Angeklagte erst aufgrund eines Hinweises aus der Vollzugsanstalt am Ende des Verhandlungstages in der Vorführzelle des Gerichts nochmals durchsucht und die hier relevanten Gegenstände in der Unterhose des Angeklagten gefunden wurden (UA S. 39). … Der aufgezeigte Rechtsfehler führt zur Aufhebung des Ausspruchs über die Höhe der Jugendstrafe. Auch wenn die Jugendkammer in rechtlich nicht zu beanstandender Weise die Notwendigkeit der Verhängung von Jugendstrafe auch auf die Schwere der Schuld gestützt hat, ist nicht auszuschließen, dass sich die bisher von den Feststellungen nicht getragene Annahme schädlicher Neigungen bei der Bemessung der Jugendstrafe zum Nachteil des Angeklagten ausgewirkt hat; zumal das Landgericht auch insoweit das vorstehend genannte postdeliktische Verhalten des Angeklagten straferschwerend berücksichtigt hat (UA S. 55).“

Dem schließt sich der Senat an. Das Landgericht hat zum Nachteil des Angeklagten Tatsachen verwertet, die weder im Strengbeweis eingeführt wurden noch als gerichtskundig dem Urteil zugrunde gelegt werden durften. Der Senat kann nicht ausschließen, dass die Strafkammer ohne Berücksichtigung des nicht eingeführten Umstands eine (noch) mildere Jugenstrafe verhängt hätte.

HRRS-Nummer: HRRS 2022 Nr. 1108

Bearbeiter: Julia Heß/Karsten Gaede