HRRS-Nummer: HRRS 2020 Nr. 981
Bearbeiter: Karsten Gaede/Marc-Philipp Bittner
Zitiervorschlag: BGH, 2 ARs 181/20, Beschluss v. 21.07.2020, HRRS 2020 Nr. 981
1. Der Beschluss des Landgerichts Braunschweig vom 29. Mai 2020 - Az. 50 StVK 238/20 - wird aufgehoben.
2. Für die Entscheidung über die Aussetzung der Vollstreckung des Restes der Gesamtfreiheitsstrafe aus dem Urteil des Amtsgerichts Niebüll vom 6. Oktober 2011 - Az. 6 Ls 108 Js 6272/10 (33/11) - zur Bewährung nach Verbüßung von zwei Dritteln der verhängten Strafe ist das Landgericht Braunschweig ? Strafvollstreckungskammer ? zuständig.
3. Der Antrag auf Bestimmung des zuständigen Gerichts gemäß § 14, § 458 Abs. 1 StPO betreffend die Zulässigkeit der Vollstreckung aus dem Urteil des Amtsgerichts Niebüll vom 6. Oktober 2011 wird zurückgewiesen.
Das Amtsgericht Niebüll hat den vielfach vorbestraften Verurteilten am 6. Oktober 2011 wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in zehn Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr und neun Monaten verurteilt und die Vollstreckung der Gesamtfreiheitsstrafe zur Bewährung ausgesetzt. Mit Beschluss des Landgerichts Braunschweig - Strafvollstreckungskammer - vom 16. März 2018 wurde die Strafaussetzung zur Bewährung widerrufen. Dieser Beschluss ist seit dem 21. Juni 2018 rechtskräftig. Ferner wurde der Verurteilte in anderer Sache am 16. Dezember 2019 durch das Landgericht Braunschweig wegen schwerer Vergewaltigung in Tateinheit mit räuberischer Erpressung unter Auflösung der Gesamtfreiheitsstrafe aus dem Urteil des Amtsgerichts Niebüll vom 6. Oktober 2011 und unter Einbeziehung der dortigen Einzelstrafen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von sieben Jahren verurteilt. Dieses Urteil ist nicht rechtskräftig; der Bundesgerichtshof hat im Revisionsverfahren ein Vorabentscheidungsersuchen an den Gerichtshof der Europäischen Union gerichtet (vgl. BGH, Beschluss vom 21. April 2020 - 6 StR 41/20, NStZ-RR 2020, 228).
Die Gesamtfreiheitsstrafe aus dem Urteil des Amtsgerichts Niebüll wird seit dem 10. Oktober 2018 vollstreckt. Vom 23. Juli 2019 bis zum 11. Februar 2020 war die Strafvollstreckung unterbrochen; in dieser Zeit befand sich der Verurteilte in der beim Landgericht Braunschweig anhängigen Sache in Untersuchungshaft. Seit dem 12. Februar 2020 wird die Strafvollstreckung in vorliegender Sache fortgesetzt. Dabei war der Verurteilte zunächst in der Justizvollzugsanstalt W. inhaftiert. Am 19. Mai 2020 wurde er in die Justizvollzugsanstalt K. verlegt. Zwei Drittel der zu vollstreckenden Gesamtfreiheitsstrafe waren am 7. Juni 2020 verbüßt; das Strafende ist auf den 7. Januar 2021 notiert. Im Anschluss an die zu verbüßende Gesamtfreiheitsstrafe ist Untersuchungshaft wegen des Verdachts der schweren Vergewaltigung u.a. notiert.
Der Verurteilte hat mit schriftlicher Erklärung vom 12. März 2020 gegenüber der Justizvollzugsanstalt W. einer Aussetzung der Reststrafe zur Bewährung gemäß § 57 Abs. 1 StGB zugestimmt. Die Justizvollzugsanstalt W. hat am 9. April 2020 eine Reststrafenaussetzung nicht befürwortet. Die Staatsanwaltschaft Flensburg hat sich dieser Stellungnahme angeschlossen und die Akten unter dem 17. April 2020 an die Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Braunschweig abverfügt, wo sie am 30. April 2020 eingegangen sind. Mit Schriftsatz vom 28. April 2020, bei dem Landgericht Braunschweig eingegangen am 29. April 2020, hat der Verteidiger des Verurteilten in dessen Auftrag beantragt, die Reststrafe nach Ablauf von zwei Dritteln zur Bewährung auszusetzen.
Nach Verlegung des Verurteilten in die Justizvollzugsanstalt K., hat der gemäß § 78b Abs. 1 Nr. 2 GVG für die Aussetzungsentscheidung zuständige Einzelrichter der Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Braunschweig am 27. Mai 2020 mit dem Verteidiger des Verurteilten die örtliche Zuständigkeit des Landgerichts Braunschweig sowie die Frage erörtert, ob und gegebenenfalls auf welchem Wege zeitnah ein Anhörungstermin durchgeführt werden könne. Im Anschluss an das Gespräch hat der Verurteilte mit Schreiben vom 27. Mai 2020, das beim Landgericht Braunschweig am selben Tag per Fax eingegangen ist, einen „Antrag […] auf Zurücknahme des Gesuches zur Aussetzung der Vollstreckung der Restfreiheitsstrafe gemäß § 57 StGB […] aus Gründen der Unzuständigkeit“ eingereicht. Schon zuvor hatte der Verurteilte mit bei dem Landgericht Braunschweig am 29. April 2020 eingegangenem Schreiben Einwendungen gegen die Zulässigkeit der Strafvollstreckung aus dem Urteil des Amtsgerichts Niebüll vom 6. Oktober 2011 im Sinne von § 458 Abs. 1 StPO erhoben und eine gerichtliche Entscheidung hierüber begehrt. Sein Vorbringen hierzu hat er mit weiterer Eingabe vom 22. Mai 2020 bei dem Landgericht Kiel wiederholt und ergänzt.
Die Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Braunschweig hat sich mit Beschluss vom 29. Mai 2020 für örtlich unzuständig erklärt und das Verfahren an die Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Kiel abgegeben. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt, der Verurteilte befinde sich seit dem 19. Mai 2020 in der Justizvollzugsanstalt K. Über den Antrag auf Reststrafenaussetzung sei nach der „Zurücknahme des Gesuchs“ des Verurteilten vom 27. Mai 2020, die als Rücknahme der nach § 57 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 StGB erforderliche Einwilligung auszulegen sei, nicht mehr zu entscheiden. Zugleich sei damit auch das Befasstsein des Landgerichts Braunschweig mit dem Antrag im Sinne von § 462a Abs. 1 Satz 1 StPO beendet. Der weitere Antrag des Verurteilten auf gerichtliche Entscheidung gemäß § 458 Abs. 1 StPO sei erst nach der Verlegung des Angeklagten in die Justizvollzugsanstalt K. bei dem Landgericht Braunschweig eingegangen.
Mit bei dem Landgericht Kiel am 2. Juni 2020 eingegangenem Schreiben vom 29. Mai 2020 hat der Verurteilte erneut die Aussetzung der Reststrafe zur Bewährung beantragt. Zur Begründung hat er ausgeführt, dass sich „aufgrund“ seiner „Verlegung […] die zuständige Strafvollstreckungskammer geändert“ habe, sodass er „auf Anraten des Landgerichts Braunschweig“ den dort „gestellten Antrag gemäß § 57 StGB zurückgenommen“ habe. Dieser solle nunmehr „an der zuständigen Stelle erneut gestellt werden“. Mit Verfügung vom 8. Juni 2020 hat die Staatsanwaltschaft Flensburg die Akten dem Landgericht Kiel zur Entscheidung über die Anträge des Verurteilten nach § 57 StGB und § 458 StPO, denen sie entgegengetreten ist, vorgelegt. Am 15. Juni 2020 hat der Verurteilte gegenüber der Justizvollzugsanstalt K. ein weiteres Mal schriftlich sein Einverständnis mit einer Aussetzung des Strafrestes erklärt.
Die Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Kiel hat ihre Zuständigkeit verneint mit der Begründung, die Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Braunschweig sei mit dem Antrag auf Reststrafenaussetzung und dem Antrag nach § 458 Abs. 1 StPO bereits vor der Verlegung des Verurteilten in die Justizvollzugsanstalt K. befasst gewesen. Das Befasstsein sei nicht durch Rücknahme der Einwilligung nach § 57 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 StPO beendet worden. Die Auslegung der maßgeblichen Erklärungen des Verurteilten ergebe, dass dieser zu keinem Zeitpunkt ernsthaft mit einer vorzeitigen Haftentlassung nicht mehr einverstanden gewesen sei und entgegen seinem zuvor geäußerten Willen zumindest bis auf Weiteres in Strafhaft habe bleiben wollen. Der weitere Antrag des Verurteilten gemäß § 458 Abs. 1 StPO sei ausweislich des Posteingangsstempels bereits am 29. April 2020 bei dem Landgericht Braunschweig eingegangen. Zu diesem Zeitpunkt habe sich der Verurteilte noch in der Justizvollzugsanstalt W. befunden.
Mit Verfügung vom 22. Juni 2020 hat die Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Braunschweig die Akten dem Bundesgerichtshof zur Entscheidung des Zuständigkeitsstreits gemäß § 14 StPO vorgelegt. Sie sei für die Entscheidung über den Antrag auf Reststrafenaussetzung nach § 57 StGB nicht zuständig, weil feststehe, dass der Verurteilte seine zuvor erteilte Einwilligung in eine vorzeitige Entlassung jedenfalls bei diesem Gericht habe zurücknehmen wollen. Für die Bescheidung des weiteren Antrags des Verurteilten nach § 458 StPO sei zwar - entgegen der im Beschluss vom 29. Mai 2020 geäußerten Auffassung - weiterhin das Landgericht Braunschweig örtlich zuständig. Gleichwohl werde aber auch insoweit eine Entscheidung des Bundesgerichtshofs über die Zuständigkeit erstrebt.
1. Der Bundesgerichtshof ist nach § 14 StPO als gemeinschaftliches oberstes Gericht der Landgerichte Braunschweig (Oberlandesgerichtsbezirk Braunschweig) und Kiel (Bezirk des Schleswig-Holsteinischen Oberlandesgerichts) zur Entscheidung des Zuständigkeitsstreits berufen. Ein solcher besteht freilich nur hinsichtlich der Entscheidung über die Reststrafenaussetzung nach § 57 Abs. 1 StGB. Über die Zuständigkeit für die Entscheidung über den Antrag des Verurteilten gemäß § 458 Abs. 1 StPO muss der Senat hingegen nicht befinden. Denn der zuständige Einzelrichter der Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Braunschweig hat in seiner Vorlage deutlich gemacht, dass er insoweit an seiner früheren Auffassung nicht mehr festhält, sondern sich der Ansicht des Landgerichts Kiel anschließt, wonach das Landgericht Braunschweig örtlich zuständig ist. Ein Zuständigkeitsstreit besteht daher diesbezüglich nicht.
2. Für die Entscheidung über die Reststrafenaussetzung ist gemäß § 462a Abs. 1 Satz 1 StPO die Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Braunschweig zuständig.
a) Nach dieser Vorschrift ist, wenn - wie hier - gegen den Verurteilten eine Freiheitsstrafe vollstreckt wird, für die nach § 454 StPO zu treffenden Entscheidungen die Strafvollstreckungskammer zuständig, in deren Bezirk der Verurteilte zu dem Zeitpunkt, in dem das Gericht mit der Sache befasst wird, aufgenommen ist.
In vorliegender Sache wurde das Landgericht Braunschweig mit der Frage der Reststrafenaussetzung (spätestens) am 29. April 2020 befasst, weil an diesem Tag ein entsprechender Antrag dort einging, den der Verteidiger für den Verurteilten angebracht hatte (vgl. Appl, in: KK-StPO, 8. Aufl., § 462a Rn. 18 mwN). Nur einen Tag später gingen die vom 9. April 2020 und vom 17. April 2020 stammenden Stellungnahmen der Justizvollzugsanstalt W. und der Staatsanwaltschaft Flensburg zu einer eventuellen Strafaussetzung zum 2/3 Zeitpunkt bei dem Landgericht Braunschweig ein. Zu diesem Zeitpunkt war der Verurteilte noch in der Justizvollzugsanstalt W. inhaftiert, die im Bezirk des Landgerichts Braunschweig gelegen ist. Die damit begründete Zuständigkeit dieses Gerichts wurde durch die spätere Verlegung des Verurteilten am 19. Mai 2020 in die Justizvollzugsanstalt K. nicht berührt. Die Zuständigkeit durch Befasstsein mit der Frage der bedingten Entlassung wirkt bei einer Verlegung des Verurteilten in eine Justizvollzugsanstalt in einem anderen Landgerichtsbezirk fort, bis über die Frage abschließend entschieden ist (vgl. st. Rspr.; BGH, Beschluss vom 8. Dezember 2016 - 2 ARs 5/16, juris Rn. 19 mwN).
b) Zwar wird das Verfahren über die Strafrestaussetzung zur Bewährung auch ohne dass es einer förmlichen Sachentscheidung des mit dieser Frage befassten Gerichts bedarf, beendet, wenn der Verurteilte seine zunächst erteilte Einwilligung in die bedingte Entlassung zurücknimmt (str., zum Meinungsstand vgl. BGH, aaO, juris Rn. 22 f. mwN). Dies gilt aber nur in Fällen, in denen das endgültige Fehlen der für eine bedingte Entlassung erforderlichen Einwilligung des Verurteilten zweifelsfrei feststeht; hierzu bedarf es einer eindeutigen Rücknahmeerklärung (vgl. BGH, aaO, juris Rn. 23, 26 mwN).
An einem solchen eindeutig erklärten Rücknahmewillen fehlt es hier. Aus dem Schreiben des Verurteilten vom 27. Mai 2020 ergibt sich nicht, dass dieser entgegen seinem zuvor geäußerten Willen zumindest bis auf Weiteres in Strafhaft bleiben wollte und mit einer vorzeitigen bedingten Entlassung nicht (mehr) einverstanden war. Der Verurteilte hat darin lediglich erklärt, sein „Gesuch zur Aussetzung der Vollstreckung der Restfreiheitsstrafe“ - nicht etwa seine hierzu erteilte Einwilligung - zurücknehmen zu wollen, und zwar „aus Gründen der Unzuständigkeit“. Dem Wortlaut nach wollte er sein Begehren, eine Aussetzung der Strafvollstreckung zu erreichen, keineswegs aufgeben, sondern es nur vor einem anderen Gericht weiterverfolgen, weil er im Anschluss an die Unterredung zwischen seinem Verteidiger und dem Richter der Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Braunschweig das Landgericht Braunschweig irrig für unzuständig hielt. Dem entspricht, dass zuvor auch der Verteidiger telefonisch erklärt hatte, der Verurteilte wolle „seiner Ansicht nach lieber in K. angehört werden“ und „eventuell […] den Antrag zurücknehmen“. Dass der Verurteilte nicht seine Einwilligung zurücknehmen wollte, sondern lediglich einem Irrtum über die gerichtliche Zuständigkeit erlegen war, findet zudem in seinem weiteren Schreiben an das Landgericht Kiel vom 29. Mai 2020 eine eindeutige Bestätigung. Darin führt er nämlich - rechtlich unzutreffend - aus, dass sich „aufgrund“ seiner „Verlegung […] die zuständige Strafvollstreckungskammer geändert“ habe und er aus diesem Grunde den bei dem Landgericht Braunschweig „gestellten Antrag gemäß § 57 StGB zurückgenommen“ habe, den er nunmehr „an der zuständigen Stelle [d.h. bei dem Landgericht Kiel] erneut stellen wolle“.
Eine - eindeutige - Rücknahme der Einwilligung als einer materiellrechtlichen Voraussetzung der Reststrafenaussetzung kann in den Schreiben des Verurteilten nicht gesehen werden. Darin kam lediglich zum Ausdruck, dass der Verurteilte in prozessualer Hinsicht rechtsirrtümlich davon ausging, für die Entscheidung über die - von ihm unverändert angestrebte - Reststrafenaussetzung sei infolge seiner Verlegung anstelle des Landgerichts Braunschweig nunmehr das Landgericht Kiel zuständig, weshalb er das Verfahren vor diesem Gericht weiterbetreiben wolle. Eine solche Erklärung ist jedoch rechtlich irrelevant; sie beendet nicht das Befasstsein des nach § 462a Abs. 1 Satz 1 StPO zur Entscheidung berufenen Gerichts mit der Sache (vgl. BGH, aaO, juris Rn. 28; OLG Hamm, Beschluss vom 18. März 2013 - III-3 Ws 71/13, juris Rn. 16 f.).
Soweit der Verteidiger des Verurteilten die Auffassung vertritt, das Befasstsein der ursprünglich zuständigen Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Braunschweig habe bereits mit Rücknahme seines Antrags geendet, ohne dass es insoweit des Widerrufs der Einwilligung in eine Strafaussetzung bedurft hätte, ist dem nicht zu folgen. Die Entscheidung über die Aussetzung gemäß § 57 Abs. 1 Satz 1 StGB ergeht von Amts wegen, ohne dass es eines darauf gerichteten Antrags des Verurteilten bedarf. Dementsprechend hatten die Justizvollzugsanstalt W. - schon vor Antragstellung durch den Verteidiger nach Einholung einer Zustimmungserklärung des Verurteilten in eine vorzeitige Entlassung - am 9. April 2020 und die Staatsanwaltschaft am 17. April 2020 Stellungnahmen zur Aussetzungsfrage abgegeben und an die zuständige Strafvollstreckungskammer beim Landgericht Braunschweig zur Prüfung von Amts wegen weitergeleitet.
Zuständig für die von Amts wegen vorzunehmende Prüfung ist damit weiterhin die Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Braunschweig.
HRRS-Nummer: HRRS 2020 Nr. 981
Bearbeiter: Karsten Gaede/Marc-Philipp Bittner