HRRS-Nummer: HRRS 2020 Nr. 1044
Bearbeiter: Karsten Gaede/Marc-Philipp Bittner
Zitiervorschlag: BGH, 2 StR 210/20, Beschluss v. 28.07.2020, HRRS 2020 Nr. 1044
1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Aachen vom 18. Dezember 2019 mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben, soweit das Landgericht von der Unterbringung des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt abgesehen hat.
Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
2. Die weiter gehende Revision wird als unbegründet verworfen.
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen bewaffneten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren und drei Monaten verurteilt und eine Einziehungsentscheidung getroffen. Die auf die Rüge der Verletzung formellen und materiellen Rechts gestützte Revision des Angeklagten hat den aus der Beschlussformel ersichtlichen Teilerfolg; im Übrigen ist sie unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.
1. Die Überprüfung des Urteils aufgrund der Revisionsrechtfertigung hat aus den Gründen der Zuschrift des Generalbundesanwalts zum Schuld- und Strafausspruch sowie zur Einziehungsentscheidung keinen den Angeklagten benachteiligenden Rechtsfehler ergeben.
2. Das Urteil hält jedoch insoweit der rechtlichen Prüfung nicht stand, als das Landgericht die Unterbringung des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt abgelehnt hat.
a.) Das Landgericht hat zum Rauschmittelkonsum des zur Tatzeit 42-jährigen Angeklagten festgestellt, dass dieser mit 13 Jahren begann, Cannabis zu konsumieren. Ab seinem 31. Lebensjahr - ungefähr 2007 - konsumierte er zusätzlich fünf bis acht Gramm Kokain täglich. Im Jahr 2009 stellte er seinen Kokainkonsum ohne ärztliche Hilfe ein, setzte aber seinen erheblichen Marihuanakonsum von sieben bis zehn Gramm pro Tag bis zu seiner Verhaftung in dieser Sache am 5. April 2019 fort. Parallel dazu trank er im erheblichen Umfang Alkohol, nämlich acht bis 15 Flaschen Bier am Tag. In der Justizvollzugsanstalt litt er unter Entzugserscheinungen und wurde medikamentös behandelt. Seit seiner Entlassung aus der Untersuchungshaft am 2. Mai 2019 lebt er drogenfrei, was er durch negative Drogen-Screenings im Juli, August und Dezember 2019 belegte. Er strebt eine ambulante Drogenentwöhnungsbehandlung an.
Das Landgericht ist davon ausgegangen, der Angeklagte habe sich im Tatzeitraum aufgrund seines exzessiven Drogen- und Alkoholkonsums nicht ausschließbar in einem Zustand erheblich verminderter Schuldfähigkeit im Sinne des § 21 StGB befunden. Bis zu seiner Verhaftung im April 2019 habe eine langjährige Abhängigkeit von Alkohol und Cannabis und damit einhergehend ein Hang im Sinne des § 64 StGB bestanden. Ein solcher Hang sei jedoch zum Zeitpunkt der Hauptverhandlung nicht mehr festzustellen. Die drei negativen Drogenscreenings belegten die dauerhafte Abstinenz des Angeklagten. Dieser verfüge - was die Einstellung seines früheren Kokainkonsums verdeutliche - über die Fähigkeit, seine Alkohol- und Cannabisabhängigkeit auch ohne therapeutische Unterstützung zu beenden und die Abstinenz dauerhaft aufrechtzuerhalten. Vor diesem Hintergrund komme die Unterbringung des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt gemäß § 64 StGB nicht in Betracht.
Ungeachtet dessen hat die Strafkammer „bereits jetzt“ ihre Zustimmung zur Rückstellung der Strafvollstreckung zur Durchführung einer - gegebenenfalls auch ambulanten - Drogenentwöhnungsbehandlung im Sinne der §§ 35, 36 BtMG „zur Stabilisierung des Abstinenzwunsches“ des Angeklagten erklärt.
b.) Diese Begründung trägt das Absehen von einer Maßregelanordnung nach § 64 StGB nicht. Die Annahme des Landgerichts, ein bis dahin bestehender Hang des Angeklagten habe mit seiner Entlassung aus der Untersuchungshaft ein Ende gefunden, ist nicht nachvollziehbar. Die vom Angeklagten präsentierten negativen Drogenscreenings waren nicht unter Aufsicht erfolgt und damit nur von sehr begrenztem Aussagewert.
Hinzu kommt, dass der Angeklagte - was sich aus den mitgeteilten Vorstrafen ergibt - bereits in der Vergangenheit gegenüber dem Gericht unwahre Angaben zu seiner angeblichen Drogenabstinenz gemacht hat. Ungeachtet dessen stehen Intervalle der Abstinenz dem Vorliegen eines Hanges nicht entgegen (BGH, Beschlüsse vom 27. November 2018 - 3 StR 299/18, NStZ 2019, 265; vom 12. April 2012 - 5 StR 87/12, NStZ-RR 2012, 271; vom 30. März 2010 - 3 StR 88/10, NStZ-RR 2010, 216).
Soweit das Landgericht das Nicht(mehr)vorliegen eines Hanges zum Zeitpunkt der Hauptverhandlung damit begründet, dem Angeklagten sei auch im Jahre 2009 der Ausstieg aus der Kokainabhängigkeit mit anschließender Kokainabstinenz ohne therapeutische Hilfe gelungen, übersieht es die damaligen Begleitumstände. Keineswegs hat der Angeklagte seinerzeit seinen Betäubungsmittelmissbrauch vollständig eingestellt, sondern er ist vielmehr auf einen noch exzessiveren Konsum von Cannabis und Alkohol ausgewichen, den er in den folgenden Jahren durchgehend aufrechterhalten hat.
Ein durchgreifender Widerspruch liegt zudem darin, dass das Landgericht gleichzeitig seine Zustimmung zur Zurückstellung der Strafvollstreckung zur Durchführung einer Drogenentwöhnungsbehandlung im Sinne der §§ 35, 36 BtMG erklärt hat. Dies verdeutlicht, dass es von der Drogenabstinenz des Angeklagten und dem Nichtvorliegen eines Hanges gerade nicht überzeugt ist. Auf die „Stabilisierung des Abstinenzwunsches des Angeklagten“ kann es sich zur Begründung nicht stützen. Die Zurückstellung der Strafvollstreckung nach § 35 BtMG setzt eine Betäubungsmittelabhängigkeit zum Zeitpunkt der Zurückstellungsentscheidung voraus (Körner/Patzak/Volkmer, BtMG, 9. Aufl., § 35 Rn. 194). Es ist damit zu besorgen, dass die Strafkammer vorliegend einen Weg gesucht hat, der gegenüber der Unterbringung nach § 64 StGB nachrangigen Zurückstellung der Strafvollstreckung nach § 35 BtMG (vgl. BGH, Beschluss vom 15. Juni 2010 - 4 StR 229/10, NStZ-RR 2010, 319; Senat, Beschluss vom 10. März 2010 - 2 StR 34/10) den Vorrang einzuräumen.
c.) Da das Vorliegen der übrigen Unterbringungsvoraussetzungen nach den Feststellungen des Landgerichts nicht von vornherein ausscheidet, muss über die Anordnung der Unterbringung des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt neu verhandelt und entschieden werden. Dass nur der Angeklagte Revision eingelegt hat, hindert die Nachholung der Unterbringungsanordnung nicht (BGH, Urteil vom 10. April 1990 - 1 StR 9/90, BGHSt 37, 5). Der Beschwerdeführer hat die Nichtanwendung des § 64 StGB durch das Tatgericht nicht von seinem Rechtsmittelangriff ausgenommen (vgl. Senat, Urteil vom 7. Oktober 1992 - 2 StR 374/92, BGHSt 38, 362). Über die Maßregelanordnung ist daher - gegebenenfalls unter Hinzuziehung eines anderen Sachverständigen - neu zu entscheiden.
3. Der Senat kann ausschließen, dass der Tatrichter bei Anordnung der Unterbringung auf eine niedrigere Strafe erkannt hätte. Der Strafausspruch kann deshalb bestehen bleiben.
HRRS-Nummer: HRRS 2020 Nr. 1044
Externe Fundstellen: StV 2021, 361
Bearbeiter: Karsten Gaede/Marc-Philipp Bittner