hrr-strafrecht.de - Rechtsprechungsübersicht


HRRS-Nummer: HRRS 2019 Nr. 535

Bearbeiter: Christian Becker

Zitiervorschlag: BGH, StB 1/19, Beschluss v. 07.02.2019, HRRS 2019 Nr. 535


BGH StB 1/19 - Beschluss vom 7. Februar 2019 (OLG München)

Aufhebung eines außer Vollzug gesetzten Haftbefehls (verfassungsrechtliche Vorgaben; Freiheitsanspruch des nicht rechtskräftig verurteilten Beschuldigten; Grundsatz der Verhältnismäßigkeit; Verstoß gegen Beschleunigungsprinzip; Reduzierung der Haftverschonungsauflagen; Einzelfallprüfung).

§ 112 StPO; § 116 StPO; § 120 StPO; Art. 20 Abs. 3 GG

Leitsätze des Bearbeiters

1. Die in Haftsachen zu beachtenden verfassungsrechtlichen Vorgaben, die dazu dienen, das Spannungsverhältnis zwischen den vom Standpunkt der Strafverfolgung aus erforderlichen und zweckmäßig erscheinenden Freiheitsbeschränkungen und dem Freiheitsanspruch des noch nicht rechtskräftig verurteilten Beschuldigten - unter maßgeblicher Berücksichtigung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit - aufzulösen, gelten nicht nur für den vollstreckten Haftbefehl, sondern sind auch - wie vorliegend - für einen außer Vollzug gesetzten Haftbefehl von Bedeutung.

2. Ein außer Vollzug gesetzter Haftbefehl ist aufzuheben, wenn seine Aufrechterhaltung trotz Aussetzung des Vollzugs unverhältnismäßig ist, weil auch die Haftverschonungsauflagen erhebliche Grundrechtseingriffe beinhalten können. In diesem Zusammenhang ist auch das Beschleunigungsprinzip bedeutsam, dessen Verletzung durch eine vermeidbare Verfahrensverzögerung der Strafverfolgungsbehörden allerdings nicht zur Aufhebung eines außer Vollzug gesetzten Haftbefehls zwingt, weil eine Abwägung aller bedeutsamen Gesichtspunkte erforderlich ist. Die Aufhebung des Haftbefehls kann aber erforderlich sein, wenn eine Reduzierung der Haftverschonungsauflagen nicht ausreicht, weil selbst deren Fortdauer wegen der damit immer noch verbundenen erheblichen Einschränkungen der Freizügigkeit nach einer Gesamtabwägung nicht mehr hinnehmbar wäre.

Entscheidungstenor

Der Haftbefehl des Oberlandesgerichts München vom 26. Mai 2017 (Az. OGs 59/17) wird aufgehoben.

Die aufgrund des Haftverschonungsbeschlusses des Oberlandesgerichts München vom 21. November 2017 (OGs 180/17) unter Geschäfts-Nr. HL 2017381198 bei der Geldannahmestelle des Amtsgerichts München in bar hinterlegte Kaution in Höhe von 5.000 € wird freigegeben.

Der aufgrund des Haftverschonungsbeschlusses des Oberlandesgerichts München vom 21. November 2017 (OGs 180/17) bei der Generalstaatsanwaltschaft München hinterlegte Reisepass des Beschuldigten wird freigegeben.

Die Kosten des Beschwerdeverfahrens und die insoweit entstandenen notwendigen Auslagen des Beschuldigten trägt die Staatskasse.

Gründe

I.

Der Beschuldigte wurde aufgrund des Haftbefehls vom 26. Mai 2017 am 29. Oktober 2017 am Flughafen London Heathrow festgenommen und am 16. November 2017 an die Bundesrepublik Deutschland ausgeliefert. Er befand sich bis zum 21. November 2017 in Untersuchungshaft; an diesem Tag wurde der Haftbefehl mit Beschluss vom selben Tage gegen Auflagen (u.a. Wohnsitznahme in München, wöchentlich 3-malige Meldung, Sicherheitsleistung in Höhe von 5.000 €, Hinterlegung des Reisepasses) außer Vollzug gesetzt. Mit Beschluss vom 4. Juli 2018 wurde die Meldeauflage dahin geändert, dass sich der Beschuldigte nur noch einmal in der Woche bei der Polizei melden müsse.

Gegenstand des Haftbefehls ist der Vorwurf, der Beschuldigte habe sich im Tatzeitraum durch seine Tätigkeit als Verantwortlicher für das Gebiet M. an der Organisation „Liberation Tigers of Tamil Eelam“ (im Folgenden: LTTE) und damit an einer ausländischen terroristischen Vereinigung nach den §§ 129a, 129b StGB als Mitglied beteiligt.

Nachdem auch bis zum 25. Oktober 2018 keine Anklage gegen den Beschuldigten erhoben worden war, beantragte sein Verteidiger die Aufhebung des Haftbefehls. Diesen Antrag wies die Ermittlungsrichterin des Oberlandesgerichts München mit Beschluss vom 20. November 2018 zurück; dagegen richtet sich die Beschwerde des Beschuldigten vom 19. Dezember 2018.

II.

Die Beschwerde hat Erfolg. Die Voraussetzungen für den Fortbestand des Haftbefehls sind nicht mehr gegeben, weil dieser unverhältnismäßig geworden ist. Im Einzelnen:

1. Gegen den Beschuldigten besteht zwar aus den in dem Haftbefehl niedergelegten Gründen weiterhin der dringende Tatverdacht, er habe sich im Tatzeitraum vom 23. Juli 2007 bis zum 27. November 2009 als Gebietsverantwortlicher für die LTTE betätigt und insbesondere Spenden der in seinem Gebiet ansässigen Tamilen in Höhe von insgesamt knapp 40.000 € eingesammelt und an die in Deutschland eingerichtete Unterorganisation der LTTE, das „Tamil Coordination Committee“ (im Folgenden: TCC) in O. weitergeleitet. Die Spendensammlungen hat der Beschuldigte durch Verteidigererklärung vom 15. März 2018 auch ausdrücklich eingeräumt.

Bei dieser Tat handelt es sich um ein Verbrechen nach § 129a Abs. 1 Nr. 1, § 129b Sätze 1 und 2 StGB. Selbst wenn die Würdigung der Tathandlungen ergäbe, dass dem Beschuldigten lediglich eine Unterstützung der LTTE zur Last gelegt werden könnte, würde die Tat grundsätzlich schwer wiegen.

2. Es kann offen bleiben, ob der Haftgrund der Fluchtgefahr oder derjenige der Schwerkriminalität (§ 112 Abs. 3 StPO) noch besteht, weil die Aufrechterhaltung des Haftbefehls jedenfalls wegen eines Verstoßes gegen das Beschleunigungsgebot in Haftsachen unverhältnismäßig geworden ist.

Die in Haftsachen zu beachtenden verfassungsrechtlichen Vorgaben, die dazu dienen, das Spannungsverhältnis zwischen den vom Standpunkt der Strafverfolgung aus erforderlichen und zweckmäßig erscheinenden Freiheitsbeschränkungen und dem Freiheitsanspruch des noch nicht rechtskräftig verurteilten Beschuldigten - unter maßgeblicher Berücksichtigung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit - aufzulösen, gelten nicht nur für den vollstreckten Haftbefehl, sondern sind auch - wie vorliegend - für einen außer Vollzug gesetzten Haftbefehl von Bedeutung (BVerfG, Beschluss vom 29. November 2005 - 2 BvR 1737/05, NJW 2006, 668, 669; LR/Hilger, StPO, 26. Aufl., § 116 Rn. 1 mwN). Dieser ist aufzuheben, wenn seine Aufrechterhaltung trotz Aussetzung des Vollzugs unverhältnismäßig ist, weil auch die Haftverschonungsauflagen erhebliche Grundrechtseingriffe beinhalten können. In diesem Zusammenhang ist auch das Beschleunigungsprinzip bedeutsam, dessen Verletzung durch eine vermeidbare Verfahrensverzögerung der Strafverfolgungsbehörden allerdings nicht zur Aufhebung eines außer Vollzug gesetzten Haftbefehls zwingt, weil eine Abwägung aller bedeutsamen Gesichtspunkte erforderlich ist. Die Aufhebung des Haftbefehls kann aber erforderlich sein, wenn eine Reduzierung der Haftverschonungsauflagen nicht ausreicht, weil selbst deren Fortdauer wegen der damit immer noch verbundenen erheblichen Einschränkungen der Freizügigkeit nach einer Gesamtabwägung nicht mehr hinnehmbar wäre. So verhält es sich hier:

Die dem Beschuldigten gemäß § 116 StPO erteilten Anweisungen, insbesondere die Wohnsitz- und Meldeauflage, führen seit mehr als einem Jahr und zwei Monaten - in diesem Zeitraum ist der Beschuldigte allen ihm erteilten Auflagen nachgekommen - zu einer nicht unerheblichen Einschränkung seiner Freizügigkeit, insbesondere lebt er von seiner Familie, die sich in London niedergelassen hat, getrennt.

Die Straftaten des Beschuldigten liegen - wie oben ausgeführt - lange zurück; seine Rolle in der Vereinigung war nach dem vorläufigen Ermittlungsergebnis nicht besonders hervorgehoben und von der LTTE, die mittlerweile jedenfalls in Sri Lanka nach ihrer Zerschlagung im Jahr 2009 nicht mehr aktiv ist, geht aktuell keine terroristische Gefahr aus. Aus diesen Gründen kommt dem Strafverfolgungsinteresse eine den Bestand des Haftbefehls rechtfertigende Bedeutung jedenfalls unter Berücksichtigung des Verfahrensgangs nicht mehr zu. Dieser ist davon geprägt, dass die verfahrensgegenständlichen Zahlungen bereits bei Abgabe des Verfahrens durch den Generalbundesanwalt im September 2014 weitgehend ermittelt waren. Nach Übernahme des Verfahrens durch die Generalstaatsanwaltschaft München wurde das Verfahren in Bezug auf den Beschuldigten bis zum 18. April 2017 - soweit ersichtlich - nicht gefördert. Nachdem am 26. Mai 2017 der Haftbefehl gegen den Beschuldigten ergangen war, wurde er Ende Oktober 2017 in Auslieferungshaft genommen und am 16. November 2017 an die Bundesrepublik Deutschland ausgeliefert, am Folgetag wurde ihm der Haftbefehl eröffnet, der mit Beschluss vom 21. November 2017 außer Vollzug gesetzt wurde. Mit Schreiben vom 22. Januar 2018 kündigte die Generalstaatsanwaltschaft München gegenüber dem Pflichtverteidiger des Beschuldigten an, dass die Ermittlungen vor dem Abschluss stehen würden und gab Gelegenheit zur Abgabe einer Einlassung oder einer Stellungnahme. Der Pflichtverteidiger gab für den Beschuldigten nach Fristverlängerung am 15. März 2018 eine Erklärung ab. Mit Verfügung vom 19. März 2018 erteilte die Generalstaatsanwaltschaft München dem Bayerischen Landeskriminalamt den Auftrag, Nachermittlungen durchzuführen, insbesondere zur Rolle des Beschuldigten als Gebietsverantwortlicher. Diesen Auftrag wiederholte der zuständige Oberstaatsanwalt im Wesentlichen durch Verfügung vom 28. Juni 2018, nachdem am gleichen Tag eine dienstliche Besprechung mit dem zuständigen Ermittlungsbeamten beim Landeskriminalamt stattgefunden hatte. Ermittlungsergebnisse sind hingegen weder vor dem 28. Juni 2018 noch in den sieben Monaten seitdem zur Akte gelangt. Somit bestehen keine Anhaltspunkte, dass mit einem zeitnahen Abschluss des Ermittlungsverfahrens bzw. mit einer zeitnahen Anklageerhebung zu rechnen ist.

Nach alledem sind auch die den Beschuldigten wesentlich in seiner Freizügigkeit beeinträchtigenden Maßnahmen, insbesondere die Wohnsitznahmeverpflichtung in München, die sein Zusammenleben mit seiner Familie in London verhindert, nicht mehr verhältnismäßig; der Haftbefehl war deshalb insgesamt aufzuheben.

HRRS-Nummer: HRRS 2019 Nr. 535

Externe Fundstellen: StV 2019, 564

Bearbeiter: Christian Becker