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HRRS-Nummer: HRRS 2020 Nr. 291

Bearbeiter: Karsten Gaede/Marc-Philipp Bittner

Zitiervorschlag: BGH, 2 StR 467/19, Beschluss v. 20.11.2019, HRRS 2020 Nr. 291


BGH 2 StR 467/19 - Beschluss vom 20. November 2019 (LG Schwerin)

Grundsatz der freien richterlichen Beweiswürdigung (Berücksichtigung nonverbalen Verhaltens des Angeklagten in der Hauptverhandlung; Verwertung eines Sachverständigengutachtens); nachträgliche Bildung der Gesamtstrafe (Maßstab).

§ 261 StPO; § 55 StGB

Leitsätze des Bearbeiters

1. Es kann dahinstehen, inwieweit auch nonverbales Verhalten eines ansonsten zu den Tatvorwürfen im Wesentlichen schweigenden Angeklagten verwertet werden darf. Voraussetzung ist jedenfalls, dass es in seiner Äußerungsform eindeutig und erheblich ist und dass durch die Bewertung einer spontanen, unreflektierten und in seiner Bedeutung unklaren Körpersprache das Schweigerecht des Angeklagten nicht unterlaufen wird.

2. Die Beurteilung der Glaubhaftigkeit von Zeugenaussagen ist grundsätzlich Aufgabe des Tatgerichts. Will das Tatgericht dem Gutachten eines Sachverständigen folgen, hat es zunächst die wesentlichen Anknüpfungstatsachen und methodischen Darlegungen, die zum Verständnis des Gutachtens erforderlich sind, darzulegen. Dabei ist aber schon eine ins einzelne gehende Darstellung von Konzeption, Durchführung und Ergebnissen der erfolgten Begutachtung regelmäßig nicht erforderlich, vielmehr ist es ausreichend, dass die diesbezüglichen Ausführungen die wesentlichen Anknüpfungstatsachen und methodischen Darlegungen in einer Weise enthalten, die zum Verständnis des Gutachtens und zur Beurteilung seiner Schlüssigkeit und sonstigen Rechtsfehlerfreiheit erforderlich sind. Das Urteil muss sodann erkennen lassen, dass sich das Tatgericht dem Gutachten aus eigener Überzeugung anschließt und warum es ihm folgt; erforderlich ist eine eigenverantwortliche Prüfung der Ausführungen des Sachverständigen, andernfalls besteht die Besorgnis, das Gericht habe eine Frage, zu deren Beantwortung es eines besonderen Sachverständigenwissens bedurfte, ohne diese Sachkunde entschieden oder es habe das Gutachten nicht richtig verstanden.

3. Es ist nicht Aufgabe des Sachverständigen, darüber zu befinden, ob die zu begutachtende Aussage wahr ist oder nicht; das Gutachten soll vielmehr dem Gericht die Sachkunde vermitteln, mit deren Hilfe es die Tatsachen feststellen kann, die für die Beurteilung der Glaubwürdigkeit wesentlich sind.

4. Der Tatrichter, dem sich die Frage nachträglicher Gesamtstrafenbildung stellt, muss sich jeweils in die Lage des Richters versetzen, dessen Entscheidung für eine nachträgliche Einbeziehung in Betracht kommt und alle Strafen für die vor jenem Urteil begangenen Taten unter Beachtung des Zweifelsgrundsatzes auf eine Gesamtstrafe zurückführen. Hat der Täter sich nach dem früheren Urteil erneut strafbar gemacht, so sind insoweit eine Einzelstrafe oder eine oder mehrere weitere Gesamtstrafen festzusetzen. § 55 StGB lässt keinen Raum für weitergehende Überlegungen, was für den Angeklagten am günstigsten sei.

Entscheidungstenor

1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Schwerin vom 8. April 2019 mit den Feststellungen aufgehoben,

a) soweit der Angeklagte in den Fällen 4 bis 9 der Urteilsgründe verurteilt ist,

b) in den Strafaussprüchen zu den Fällen 1 bis 3 der Urteilsgründe,

c) in den Gesamtstrafenaussprüchen.

Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Jugendschutzkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

2. Die weiter gehende Revision des Angeklagten wird als unbegründet verworfen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten in den Fällen 4 bis 9 der Urteilsgründe des schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern in vier Fällen, davon in einem Fall in Tateinheit mit Vergewaltigung, des schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern in zwei rechtlich zusammentreffenden Fällen, davon in einem Fall in Tateinheit mit Vergewaltigung und des sexuellen Missbrauchs von Kindern in Tateinheit mit Nötigung schuldig gesprochen. Es hat ihn deswegen unter Auflösung eines Beschlusses zur nachträglichen Bildung einer Gesamtstrafe und Einbeziehung von Einzelstrafen aus zwei Strafbefehlen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von fünf Jahren und zehn Monaten verurteilt. Darüber hinaus hat es den Angeklagten wegen exhibitionistischer Handlungen in drei Fällen (Fälle 1 bis 3 der Urteilsgründe) zu einer weiteren Gesamtfreiheitsstrafe von acht Monaten verurteilt.

Die auf die allgemeine Sachrüge gestützte Revision des Angeklagten hat den aus der Beschlussformel ersichtlichen Erfolg; im Übrigen ist das Rechtsmittel unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.

1. Die Verurteilung des Angeklagten wegen der Taten zum Nachteil der seinerzeit zwischen fünf und neun Jahre alten Geschädigten P. und H. in den Fällen 4 bis 9 der Urteilsgründe kann keinen Bestand haben. Die Strafkammer stützt ihre Überzeugung von der Täterschaft darauf, der Angeklagte habe die Vorwürfe „bestätigt“, was durch die Angaben der Geschädigten H. „gestützt und ergänzt“ werde. Die dem zugrundeliegende Beweiswürdigung hält sachrechtlicher Nachprüfung nicht stand.

a) Mit der Formulierung, der Angeklagte habe in den Fällen 4 bis 9 der Urteilsgründe „die Vorwürfe bestätigt“, soll offenbar zum Ausdruck gebracht werden, der Angeklagte habe die Begehung der ihm zur Last liegenden Taten gestanden. Die dem zugrundeliegende Würdigung des Prozessverhaltens des Angeklagten begegnet durchgreifenden Bedenken.

aa) Ausweislich der Urteilsgründe hat der Angeklagte die Vorwürfe zum Nachteil der Geschädigten P. und H. ausdrücklich in Abrede gestellt und sich sinngemäß dahingehend eingelassen, das mache er nicht, das sei verboten. Allerdings habe der Angeklagte, so die Urteilsgründe, „hierzu im Widerspruch“ während des Berichts der aussagepsychologischen Sachverständigen über die Angaben der Geschädigten H. ihr gegenüber „versonnen lächelnd, offensichtlich in Erinnerungen schwelgend, jeweils zustimmend genickt und dies teilweise durch ein geäußertes ‚ja‘ bestätigt“.

bb) Es kann dahinstehen, inwieweit auch nonverbales Verhalten eines ansonsten zu den Tatvorwürfen im Wesentlichen schweigenden Angeklagten, wovon hier nach den Urteilsgründen auszugehen ist, verwertet werden darf. Voraussetzung ist jedenfalls, dass es in seiner Äußerungsform eindeutig und erheblich ist und dass durch die Bewertung einer spontanen, unreflektierten und in seiner Bedeutung unklaren Körpersprache das Schweigerecht des Angeklagten nicht unterlaufen wird (vgl. Miebach NStZ 2000, 234 mwN). Dies zugrunde gelegt, erweist sich die von der Strafkammer gegebene Begründung, warum im Verhalten des Angeklagten ein Geständnis sexueller Übergriffe auf die Geschädigten zu sehen sei, als nicht tragfähig.

Die nur sehr knapp dargestellte Verfahrenssituation (Bericht über Zeugenaussagen) lässt für sich genommen einen eindeutigen Schluss auf den Aussagegehalt der Mimik des Angeklagten nicht zu. Die Strafkammer teilt nicht mit, worauf konkret sie ihre Annahme gründet, der Angeklagte habe „offensichtlich in Erinnerungen schwelgend“ genickt. Die Möglichkeit, dass der an einer geistigen Behinderung im Sinne einer leichten Intelligenzminderung leidende Angeklagte, der seine sexuellen Bedürfnisse nach den Feststellungen durch täglich mehrfache Selbstbefriedigung und den Besuch von Bordellen befriedigt, allein durch die Tatschilderung zu einer „versonnen lächelnden“, „schwelgenden“ Mimik veranlasst worden sein könnte, hat das Landgericht nicht erkennbar in den Blick genommen und erörtert. Die von der Strafkammer für ihre Annahme einer „Bestätigung“ herangezogenen weiteren Spontanreaktionen des Angeklagten erweisen sich ebenfalls als nicht hinreichend tragfähig. Bei „spontanen Reaktionen“ des Angeklagten während der Vernehmungen der Geschädigten zu Fall 1 der Urteilsgründe und der Zeugin P. zu einem von dieser geschilderten weiteren Vorfall nimmt die Strafkammer nicht erkennbar in den Blick, dass der Angeklagte die Tat zu Fall 1 - anders als in den mit Fall 1 in keinem Zusammenhang stehenden Fällen 4 bis 9 - zumindest zu Beginn eingeräumt hat und dass der weitere Vorfall weder Gegenstand der Anklage war noch als zutreffend festgestellt wurde. Soweit der Angeklagte „ungefragt“ den Standort seines Fernsehers mitgeteilt hat, ist ein hinreichend klarer Tatbezug nicht erkennbar. Damit bleibt die Würdigung der Strafkammer, der Angeklagte habe entgegen seinem ausdrücklichen Bestreiten die Begehung der ihm zur Last liegenden Taten gestanden, ohne revisionsgerichtlich nachvollziehbaren Beleg.

b) Soweit sich die Strafkammer auf die Angaben der Geschädigten H. stützt, fehlt es an einer hinreichenden Würdigung des eingeholten aussagepsychologischen Gutachtens.

aa) Zur Beurteilung der Glaubwürdigkeit der nach den Feststellungen des Landgerichts „geistig behinderten, neunjährigen Zeugin“ H., auf deren Angaben die Verurteilung des Angeklagten fußt, hat die Strafkammer ein aussagepsychologisches Gutachten eingeholt. Sie hat dessen Inhalt augenscheinlich vollständig auf den Seiten 41 bis 66 der Urteilsgründe wiedergegeben und den Satz angefügt, dass sich die Strafkammer „den Ausführungen der Sachverständigen nach eigener kritischer Würdigung“ anschließe. Dies wird den Anforderungen an eine eigene tatrichterliche Beurteilung nicht gerecht.

bb) Die Beurteilung der Glaubhaftigkeit von Zeugenaussagen ist grundsätzlich Aufgabe des Tatgerichts. Will das Tatgericht dem Gutachten eines Sachverständigen folgen, hat es zunächst die wesentlichen Anknüpfungstatsachen und methodischen Darlegungen, die zum Verständnis des Gutachtens erforderlich sind, darzulegen (vgl. hierzu BGH, Urteil vom 30. Juli 1999 - 1 StR 618/98, BGHSt 45, 164, 182). Dabei ist aber schon eine ins einzelne gehende Darstellung von Konzeption, Durchführung und Ergebnissen der erfolgten Begutachtung regelmäßig nicht erforderlich, vielmehr ist es ausreichend, dass die diesbezüglichen Ausführungen die wesentlichen Anknüpfungstatsachen und methodischen Darlegungen in einer Weise enthalten, die zum Verständnis des Gutachtens und zur Beurteilung seiner Schlüssigkeit und sonstigen Rechtsfehlerfreiheit erforderlich sind (vgl. BGH, Urteil vom 23. Oktober 2002 ? 1 StR 274/02, NStZ 2003, 165, 166). Das Urteil muss sodann erkennen lassen, dass sich das Tatgericht dem Gutachten aus eigener Überzeugung anschließt und warum es ihm folgt; erforderlich ist eine eigenverantwortliche Prüfung der Ausführungen des Sachverständigen, andernfalls besteht die Besorgnis, das Gericht habe eine Frage, zu deren Beantwortung es eines besonderen Sachverständigenwissens bedurfte, ohne diese Sachkunde entschieden oder es habe das Gutachten nicht richtig verstanden (KK-StPO/Ott, 8. Aufl., § 261 Rn. 141 mwN).

cc) Diesem Maßstab werden die Urteilsgründe nicht gerecht. Weder durch die lediglich floskelhafte Behauptung eigener kritischer Prüfung noch durch eine erkennbar von Sachkunde getragene Zusammenfassung der wesentlichen Anknüpfungspunkte und methodischen Darlegungen der Sachverständigen bringen die Urteilsgründe zum Ausdruck, dass die Strafkammer dem Gutachten nur aufgrund eigenverantwortlicher Prüfung folgt. Die Urteilsgründe lassen vielmehr besorgen, dass die Strafkammer nicht hinreichend beachtet hat, dass es nicht Aufgabe des Sachverständigen ist, darüber zu befinden, ob die zu begutachtende Aussage wahr ist oder nicht; das Gutachten soll vielmehr dem Gericht die Sachkunde vermitteln, mit deren Hilfe es die Tatsachen feststellen kann, die für die Beurteilung der Glaubwürdigkeit wesentlich sind (Senat, Urteil vom 12. November 2003 - 2 StR 354/03 Rn. 8, NStZ-RR 2004, 87 f.).

2. Soweit der Angeklagte wegen dreier exhibitionistischer Handlungen verurteilt ist, hat die Nachprüfung des Urteils auf Grund der Revisionsrechtfertigung zum Schuldspruch keinen Rechtsfehler zu seinem Nachteil ergeben. Die Strafzumessung hingegen ist durchgreifend rechtsfehlerhaft, was zur Aufhebung der Strafaussprüche in den Fällen 1 bis 3 der Urteilsgründe führen muss.

Die Strafkammer hat das Vorliegen der Voraussetzungen des § 21 StGB verneint und sich insoweit den Ausführungen des Sachverständigen angeschlossen. Hierzu hat sie dessen Gutachten wiederum augenscheinlich (nahezu) vollständig auf den Seiten 70 bis 77 der Urteilsgründe wiedergegeben und wiederum floskelhaft angefügt, dass sie sich den Ausführungen des Sachverständigen „nach eigener kritischer Würdigung anschließe“. Dies kann aus den oben unter 1. b) bb) dargelegten Gründen den Anforderungen an eine eigenverantwortliche tatrichterliche Prüfung nicht genügen. Allerdings kann der Senat nach dem Gesamtzusammenhang der Urteilsgründe ausschließen, dass der Angeklagte bei Begehung der exhibitionistischen Handlungen unfähig im Sinne des § 20 StGB war, das Unrecht seiner Taten einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln.

3. Der Wegfall der Einzelstrafen zieht die Aufhebung der Gesamtstrafenaussprüche nach sich. Für die neue Gesamtstrafenbildung sind, was das Landgericht zutreffend gesehen hat, die Grundsätze aus dem Beschluss des 1. Strafsenats vom 27. April 1993 (1 StR 131/93) zu beachten. Der Tatrichter, dem sich die Frage nachträglicher Gesamtstrafenbildung stellt, muss sich jeweils in die Lage des Richters versetzen, dessen Entscheidung für eine nachträgliche Einbeziehung in Betracht kommt und alle Strafen für die vor jenem Urteil begangenen Taten unter Beachtung des Zweifelsgrundsatzes (Senat, Beschluss vom 13. April 2011 - 2 StR 664/10; LK-StGB/Rissing-van Saan/Scholze, 13. Aufl., § 55 Rn. 11; SSW-StGB/Eschelbach, 4. Aufl., § 55 Rn. 11) auf eine Gesamtstrafe zurückführen. Hat der Täter sich nach dem früheren Urteil erneut strafbar gemacht, so sind insoweit eine Einzelstrafe oder eine oder mehrere weitere Gesamtstrafen festzusetzen. § 55 StGB lässt keinen Raum für weitergehende Überlegungen, was für den Angeklagten am günstigsten sei (BGH, Beschluss vom 27. April 1993 - 1 StR 131/93).

HRRS-Nummer: HRRS 2020 Nr. 291

Externe Fundstellen: NStZ 2021, 318; StV 2020, 446

Bearbeiter: Karsten Gaede/Marc-Philipp Bittner