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HRRS-Nummer: HRRS 2020 Nr. 964

Bearbeiter: Karsten Gaede/Marc-Philipp Bittner

Zitiervorschlag: BGH, 2 StR 386/19, Beschluss v. 29.04.2020, HRRS 2020 Nr. 964


BGH 2 StR 386/19 - Beschluss vom 29. April 2020 (LG Köln)

Aufhebung des Urteils und der Feststellungen (rechtsfehlerhafte Beweiswürdigung).

§ 353 StPO

Entscheidungstenor

Auf die Revision der Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Köln vom 12. Februar 2019, soweit es sie betrifft, mit den Feststellungen aufgehoben.

Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere als Schwurgericht zuständige Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe

Das Landgericht hat die Angeklagte wegen Totschlags und Misshandlung von Schutzbefohlenen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von sieben Jahren und sechs Monaten verurteilt. Den Mitangeklagten H. hat es vom Vorwurf des Totschlags und der Misshandlung von Schutzbefohlenen, jeweils durch Unterlassen, freigesprochen. Die auf die Rüge der Verletzung materiellen Rechts gestützte Revision der Angeklagten hat Erfolg.

I.

Nach den Feststellungen fügte die Angeklagte zwischen dem 13. Februar 2018 und etwa einer Woche vor dem 5. März 2018 ihrem sieben Monate alten Sohn I. aus einem Überforderungszustand heraus mindestens drei schmerzhafte Bissverletzungen am Gesäß und an den Beinen zu. Im Zeitraum zwischen dem 3. März und dem 4. März 2018 wirkte sie, wiederum überfordert und erschöpft, heftig auf den Säugling ein, so dass dieser mit der rechten Seite des Kopfes gegen einen eckigen Gegenstand in der Wohnung stieß oder aufschlug. Dadurch erlitt das Kind eine schwerwiegende Schädelfraktur und ein massives Hirnödem, das - wie die Angeklagte erkannte und billigend in Kauf nahm - zum Tod führte. Dass die Kopfverletzung durch ein Unfallgeschehen verursacht worden sein könnte, hat das Landgericht ausgeschlossen.

Das Landgericht hat seine Überzeugung von der Täterschaft der Angeklagten sowohl hinsichtlich der Misshandlung als auch der zum Tod führenden Schädelverletzung maßgebend darauf gestützt, dass grundsätzlich außer ihr lediglich ihr Ehemann, der Mitangeklagte H., oder ihr zur Tatzeit ein Jahr und zehn Monate alter Sohn M. als Verursacher der Verletzungen in Betracht kommen, diese aber als Täter ausscheiden. Da bei der Angeklagten keinerlei Anhaltspunkte für aggressive Persönlichkeitsaspekte vorlägen und sie ihre Kinder liebe, seien die Taten nur durch eine akute Überforderungssituation zu erklären.

II.

Die der Feststellung der Täterschaft der Angeklagten zugrunde liegende Beweiswürdigung hält auch unter Berücksichtigung des eingeschränkten revisionsrechtlichen Prüfungsmaßstabs rechtlicher Nachprüfung nicht stand. Zwar hat sich die Strafkammer rechtsfehlerfrei davon überzeugt, dass der ältere Bruder des getöteten I. als Täter der Bissverletzungen und todesursächlichen Kopfverletzungen ausscheide. Die Überzeugungsbildung, wonach auch der Mitangeklagte H. nicht als Täter in Frage komme und die Angeklagte die Taten aus einer Überforderung heraus begangen habe, weist jedoch durchgreifende Rechtsfehler auf; die ihr zugrundeliegende Beweiswürdigung ist insgesamt widersprüchlich und lückenhaft.

1. Die Strafkammer hat ihrer Überzeugungsbildung erkennbar die Annahme zu Grunde gelegt, die Taten könnten von dem Mitangeklagten H. nur in Abwesenheit der Angeklagten begangen worden sein, ohne jedoch näher darzulegen, worauf diese Annahme beruht.

Zwar hat sie festgestellt, dass sich nahezu ausschließlich die Angeklagte um die Pflege und Betreuung der Kinder kümmerte, während der Mitangeklagte H. sich tagsüber meist in dem von innen abgeschlossenen Wohnzimmer aufhielt und nachts häufig die Wohnung verließ. Da das Beibringen der festgestellten Verletzungen jedoch jeweils nur wenige Sekunden in Anspruch genommen haben dürfte, hätte das Landgericht näher dartun müssen, weshalb es nach seiner Auffassung dennoch ausgeschlossen ist, dass der Mitangeklagte dem Kind die Verletzungen zugefügt haben könnte, während sich auch die Angeklagte in der Wohnung aufhielt. Dies war auch nicht etwa deshalb entbehrlich, weil die Angeklagte selbst sich nicht dahingehend eingelassen und keine entsprechende Beobachtung geschildert hat. Denn es ist nicht fernliegend, dass sie - sollte sie die Verletzungshandlungen beobachtet haben - ihren Ehemann etwa aus Sorge vor den Konsequenzen nicht mit einer derartigen Aussage belasten wollte. Für den anderen denkbaren Fall, dass der Mitangeklagte dem Kind die Verletzungen in einem unbeobachteten Moment zugefügt haben könnte, ergibt sich aus den Urteilsausführungen jedenfalls nicht widerspruchsfrei, dass die Angeklagte dies überhaupt hätte bemerken müssen; die schwerwiegende Kopfverletzung war nämlich nach den Feststellungen für denjenigen, der das Tatgeschehen nicht gesehen hat, nicht erkennbar. Zwar führt die Strafkammer aus, die Verletzung habe dem Kind - jedenfalls zunächst - erhebliche Schmerzen bereitet und zu Schreien und Unruhe geführt, die auch nicht mit üblichen Tröstungen hätten beruhigt werden können. Im Widerspruch dazu geht sie aber im Zusammenhang mit der Frage, ob umgekehrt der Mitangeklagte H. eine Verletzung des Kindes durch die Angeklagte hätte bemerken können, im Anschluss an die medizinische Sachverständige davon aus, dass die Schreie von I. wegen des durch die Verabreichung von Paracetamol gesenkten Schmerzempfindens nicht zwangsläufig lange angedauert haben müssten.

2. Hinsichtlich der Bissverletzungen ist das Landgericht, gestützt auf die Ausführungen der Sachverständigen, davon ausgegangen, dass diese dem Kind nach dem 13. Februar 2018 und etwa eine Woche vor seinem Tod (am 5. März 2018) beigebracht worden sind. Nach den Feststellungen befand sich I. am 24. oder 25. Februar 2018 in der Zeit zwischen 14.00 Uhr und 19.00 Uhr in der alleinigen Obhut des Mitangeklagten H., während die Angeklagte mit dem älteren Sohn M. in der Nachbarschaft eine Geburtstagsfeier besuchte. Die Angeklagte hat sich dahin eingelassen, bei ihrer Rückkehr in die Wohnung habe „pures Chaos“ geherrscht. Ihr Mann habe sie angeschrien und geschlagen, weil sie so spät nach Hause gekommen sei. Obwohl sie ein Fläschchen für I. vorbereitet gehabt habe, sei er während ihrer Abwesenheit von dem Mitangeklagten nicht gefüttert worden und habe bei ihrer Rückkehr geweint. Am nächsten Morgen habe sie beim Baden von I. gesehen, dass dieser zwei leicht blutende rötliche Wunden am unteren Rücken und eine am Unterschenkel sowie Kratzer am Hals gehabt habe. Aus Angst, das „Problem dadurch noch zu vergrößern“ und der Sorge, dass es bei Einschaltung der Behörden „viel Stress“ geben würde, habe sie jedoch nichts unternommen. Diese Einlassung hat die Strafkammer als unwahre Schutzbehauptung angesehen und den Mitangeklagten H. als Verursacher der Bissverletzungen ausgeschlossen.

a) Gegen diese Würdigung der Einlassung der Angeklagten bestehen jedoch durchgreifende rechtliche Bedenken. Das Landgericht hat sich von der Richtigkeit der Angaben der Angeklagten insbesondere deshalb nicht zu überzeugen vermocht, weil es davon ausgegangen ist, der Mitangeklagte habe das Kind für das Beibringen der Bissverletzungen vollständig entkleiden müssen. Dies sei jedoch deshalb ausgeschlossen, weil der Mitangeklagte sich bei Abwesenheit der Angeklagten kaum um die Pflege des Jungen gekümmert und ihn selbst bei einer früheren mehrtägigen Abwesenheit der Angeklagten im Krankenhaus nicht umgezogen hatte.

Damit übersieht die Strafkammer, dass Bisswunden nicht nur am unbekleideten Körper, sondern auch durch zumindest leichte Kleidung hindurch zugefügt werden können. Die Bisse am Unterschenkel und am unteren Rücken hätten dem Kind aber insbesondere auch bei nur entblößtem Unterkörper - etwa beim Wickeln - zugefügt werden können. Das Landgericht hat insofern lediglich festgestellt, dass der Mitangeklagte I. während der Abwesenheit der Angeklagten am 24. oder 25. Februar 2018 nicht gefüttert hat; Feststellungen dazu, ob er ihn in dem Zeitraum von etwa fünf Stunden gewickelt hat, enthält das Urteil nicht. Dass er in der Lage war, das Kind zu wickeln, hat die Strafkammer ausdrücklich festgestellt. Danach zog der Mitangeklagte seinen Sohn I. während des Krankenhausaufenthalts der Angeklagten über mehrere Tage zwar dieselbe Kleidung an, wickelte ihn aber mit Unterstützung der Angeklagten durch Anweisungen per WhatsApp.

b) Die Beweiswürdigung ist auch insofern widersprüchlich und lückenhaft, als das Landgericht die Einlassung der Angeklagten als nicht glaubhaft bewertet hat, weil sich die von ihr geäußerten Sorgen und Ängste nach Bemerken der Bisswunden und Hämatome an I.‘s Körper nicht in den kurz vor dem Tod verschickten WhatsApp-Sprachnachrichten an Familie und Freunde in Marokko widerspiegelten. Der vom Landgericht aus den Sprachnachrichten gezogene Schluss, die Angeklagte sei fröhlich und unbesorgt gewesen, ist schon nicht mit der Feststellung in Einklang zu bringen, dass sie über ihre Lebenssituation frustriert und verzweifelt war. Die Strafkammer hätte daher die ebenfalls nahe liegende Möglichkeit erörtern müssen, dass die Angeklagte ihren Chatpartnerinnen gegenüber eine positive und fröhliche Stimmung nur vorgetäuscht haben könnte, weil sie weder ihre allgemein belastende Lebenssituation noch ihre Sorge wegen der festgestellten Verletzungen des Kindes offenbaren wollte. Nach ihrer Einlassung war diese Sorge vornehmlich darin begründet, dass sie im Falle einer Aufdeckung der Tat eine Eskalation befürchtete. Darüber hinaus hatte ihr nach den Feststellungen der sie massiv unterdrückende und ihr gegenüber immer wieder handgreiflich gewordene Mitangeklagte H. nachdrücklich verboten, mit jemandem über ihre Beziehung zu sprechen. Insofern hätte auch der festgestellte Umstand, dass I. - anders als sein Bruder M. - in der gesamten Kommunikation mit keinem Wort erwähnt wurde, im Hinblick auf eine mögliche „bewusste Ausblendung“ näherer Erörterung bedurft.

c) Hinsichtlich der Verursachung der Bissverletzungen setzt sich die Strafkammer auch nicht ausreichend damit auseinander, dass der Mitangeklagte bei der Rückkehr der Angeklagten von der Geburtstagsfeier am 24. oder 25. Februar 2018 wütend und aggressiv war, im Flur eine Vase zu Boden warf und das weinende Kind etwa fünf Stunden nicht gefüttert hatte. Soweit das Landgericht auch hierin keinen Anlass für die Tat durch den Mitangeklagten gesehen hat, hat es lediglich ausgeführt, die Verletzungshandlungen seien nicht geeignet gewesen, das Kind ruhig zu stellen, falls es den Mitangeklagten etwa durch langanhaltendes Schreien gestört habe. Damit aber bleibt die ebenfalls naheliegende Möglichkeit unberücksichtigt, dass es sich bei dem Beißen (wie auch bei dem später todesursächlichen Schlagen oder Stoßen) um eine unkontrollierte Affekthandlung des von dem schreienden Kind genervten und zusätzlich vor Wut über die Abwesenheit seiner Frau aufgebrachten Mitangeklagten gehandelt haben könnte.

Insoweit ist auch die differenzierende Bewertung der Strafkammer nicht nachvollziehbar, mit der sie einerseits eine Verletzung durch den Mitangeklagten wegen der mit dem Weinen des Kindes verbundenen Störung für nicht plausibel gehalten hat, andererseits aber davon ausgegangen ist, die Angeklagte habe I. die Bissverletzungen und die tödliche Schädelverletzung ohne konkreten Anlass jeweils aus einem Überforderungszustand heraus zugefügt. Dies hätte jedenfalls näherer Begründung bedurft, zumal die Angeklagte nach den Feststellungen stets fürsorglich um das Wohl ihrer Kinder bemüht war und auf ihre schwierige häusliche Situation mit „stillem Rückzug“ statt mit fremdaggressiven Verhaltensweisen reagierte, während der sein Wohlbefinden stets in den Vordergrund stellende Mitangeklagte auf Weinen und Schreien der Kinder wütend und aggressiv reagierte und seiner Ehefrau gegenüber handgreiflich wurde.

3. Der Schluss der Strafkammer, die Angeklagte habe die Taten aus einer Überforderung heraus begangen, beruht auch im Übrigen auf einer lückenhaften Beweiswürdigung.

Die eine Überforderung bestreitende letzte Einlassung der Angeklagten, hat das Landgericht als widerlegt angesehen und das Vorliegen einer Überforderungssituation mit den objektiven Lebensumständen der Angeklagten begründet. Anzeichen für eine Überforderung lassen sich indes den Feststellungen, nach denen die Angeklagte in der Zeit vor und zwischen den Taten den Haushalt und die Pflege der beiden kleinen Kinder trotz der großen Belastung stets ohne Einschränkungen bewältigt hat, nicht entnehmen.

4. Schließlich ist die Beweiswürdigung auch deshalb lückenhaft, weil die Strafkammer sich nicht mit dem zumindest indiziell auf eine Kenntnis des Mitangeklagten von den Verletzungen hindeutenden Umstand auseinandergesetzt hat, dass dieser nach den Feststellungen noch am Vormittag des 5. März 2018 - also unmittelbar nach dem Tod von I. - zum behandelnden Kinderarzt ging, um eine ärztliche Bescheinigung bat, aus der hervorgehen sollte, dass I. immer gesund und beim Kinderarzt gewesen sei, und zur Begründung angab, er wolle damit eine Obduktion des Kindes verhindern.

5. Das Urteil beruht auf der rechtsfehlerhaften Beweiswürdigung. Es ist nicht auszuschließen, dass das Landgericht bei rechtsfehlerfreier Würdigung der erhobenen Beweise im Hinblick auf die Täterschaft der Angeklagten zu einem anderen Beweisergebnis gelangt wäre.

HRRS-Nummer: HRRS 2020 Nr. 964

Bearbeiter: Karsten Gaede/Marc-Philipp Bittner