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HRRS-Nummer: HRRS 2019 Nr. 1009

Bearbeiter: Karsten Gaede/Marc-Philipp Bittner

Zitiervorschlag: BGH, 2 StR 364/18, Beschluss v. 04.06.2019, HRRS 2019 Nr. 1009


BGH 2 StR 364/18 - Beschluss vom 4. Juni 2019 (LG Limburg)

Vorsatz (bedingter Tötungsvorsatz); Mittäterschaft (sukzessive Mittäterschaft); Versuch (Maßgeblicher Rücktrittshorizont).

§ 15 StGB; § 25 Abs. 2 StGB; 212 StGB; § 22 StGB; § 24 StGB

Leitsätze des Bearbeiters

1. Bedingten Tötungsvorsatz hat, wer den Eintritt des Todes als mögliche Folge seines Handelns erkennt (Wissenselement) und billigend in Kauf nimmt (Willenselement). Beide Elemente müssen durch tatsächliche Feststellungen belegt werden. Ihre Bejahung oder Verneinung kann nur auf der Grundlage einer Gesamtbetrachtung aller objektiven und subjektiven Tatumstände erfolgen. Dabei hat der Tatrichter auch die im Einzelfall in Betracht kommenden, den Vorsatz in Frage stellenden Umstände in seine Erwägungen mit einzubeziehen.

2. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zieht bei einem Geschehen, welches schon vollständig abgeschlossen ist, das Einverständnis des später Hinzutretenden trotz Kenntnis, Billigung und Ausnutzung der durch den anderen Mittäter geschaffenen Lage eine strafbare Verantwortung für das bereits abgeschlossene Geschehen nicht nach sich.

Entscheidungstenor

Auf die Revisionen der Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Limburg a. d. Lahn vom 26. April 2018 mit den Feststellungen aufgehoben.

Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Rechtsmittel, an eine andere als Jugendkammer zuständige Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe

Das Landgericht hat die Angeklagten jeweils wegen versuchten Totschlags in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung verurteilt. Der Angeklagte S. wurde zu einer Jugendstrafe von fünf Jahren und sechs Monaten verurteilt, der Angeklagte Sh. unter Einbeziehung eines früheren amtsgerichtlichen Urteils zu einer Einheitsjugendstrafe von fünf Jahren. Das sichergestellte Klappmesser wurde eingezogen.

Die hiergegen gerichteten, auf die allgemeine Sachrüge gestützten Revisionen der Angeklagten haben Erfolg.

I.

1. Nach den Feststellungen kam es am 13. September 2017 in der Innenstadt von L. zu einem Streit zwischen dem Angeklagten S. und dem Geschädigten H., in dessen Verlauf S. H. mit der Faust auf das Auge schlug. Als H. begann, sich mit Schlägen und Tritten zu wehren, entschloss sich der das Geschehen bis dahin beobachtende Angeklagte Sh., auf Seiten seines Freundes S. in die Auseinandersetzung einzugreifen. Er zog ein Messer und bewegte sich damit drohend auf H. zu. S. nahm dies wahr, legte seinen Rucksack ab und schloss zu dem vor ihm stehenden Sh. auf. Gemeinsam bewegten sich die Angeklagten nun auf den zurückweichenden H. zu.

Als dieser zu fliehen begann, folgten ihm die beiden Angeklagten und schlugen dabei mehrfach auf ihn ein. Im Verlauf der weiteren Auseinandersetzung fiel S. zu Boden, während Sh. vor H. stand. Unter Ausnutzung dieser Situation stand S. auf, zog ein Klappmesser und stach damit H. unterhalb des linken Schulterblattes in den Rücken, wobei die Klinge des Messers jedenfalls teilweise einklappte. Ihm war dabei „bewusst, dass ein solcher Stich geeignet war, schwerste Verletzungen mit dem tödlichen Ausgang herbeizuführen. Ihm war in diesem Moment das Leben des H. gleichgültig. Er billigte den tödlichen Verlauf des Stichs. Der Zeuge H. fasste sich, von dem Stich des Angeklagten S. getroffen, an den Rücken. Der Angeklagte Sh., der sich weiterhin vor dem Zeugen H. befand, sah und billigte all dies. Auch ihm war bewusst, dass der dem Zeugen H. von dem Angeklagten S. versetzte Stich geeignet gewesen ist, schwerste Verletzungen mit tödlichem Ausgang herbeizuführen. Dem Angeklagten Sh. war das Leben des Zeugen H. in diesem Moment aber ebenfalls gleichgültig.“

Die beiden Angeklagten führten ihren Angriff fort, indem sie H. traten, schlugen und ihm einen Kopfstoß versetzten. „Obwohl beiden Angeklagten bewusst war, dass der Stich des Angeklagten S. in den Rücken des Zeugen H. diesen in Lebensgefahr gebracht haben könnte, ergriffen sie sodann die Flucht.“ Durch den Stich erlitt der Zeuge H. eine ca. 6 cm lange, 3,5 cm breite und 1,5 cm tiefe Stichwunde am linken Schulterblatt, die nicht akut lebensgefährlich war. Infolge der von den Angeklagten beigebrachten Schläge und Tritte hatte H. multiple Prellungen und Schürfmarken im Gesicht.

2. Das Landgericht hat das Verhalten der Angeklagten jeweils als (gemeinschaftlichen) versuchten Totschlag in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung gewertet. Es hat angenommen, der Angeklagte Sh. habe sich in Form einer sukzessiven Mittäterschaft an der bereits im Ausführungsstadium befindlichen Tat des Angeklagten S. beteiligt. Zum bedingten Tötungsvorsatz hat das Landgericht ausgeführt, dass es sich bei dem Stich in den Rücken um eine lebensgefährliche Gewalthandlung handele und die Angeklagten sich dieser Gefährlichkeit bewusst gewesen seien. Der Annahme eines Tötungsvorsatzes stehe auch nicht entgegen, dass die Tat in der Öffentlichkeit und damit beobachtet durch eine Vielzahl von Passanten begangen worden sei.

II.

Die Verurteilung der Angeklagten wegen mittäterschaftlich begangenen versuchten Totschlags hält sachlichrechtlicher Prüfung nicht stand.

1. Die Beweiserwägungen, mit denen das Landgericht einen bedingten Tötungsvorsatz angenommen hat, begegnen durchgreifenden rechtlichen Bedenken.

a) Bedingten Tötungsvorsatz hat, wer den Eintritt des Todes als mögliche Folge seines Handelns erkennt (Wissenselement) und billigend in Kauf nimmt (Willenselement). Beide Elemente müssen durch tatsächliche Feststellungen belegt werden. Ihre Bejahung oder Verneinung kann nur auf der Grundlage einer Gesamtbetrachtung aller objektiven und subjektiven Tatumstände erfolgen (st. Rspr.; vgl. etwa Senat, Urteil vom 16. September 2015 - 2 StR 483/14, NStZ 2016, 25, 26). Dabei hat der Tatrichter auch die im Einzelfall in Betracht kommenden, den Vorsatz in Frage stellenden Umstände in seine Erwägungen mit einzubeziehen (Senat, Beschluss vom 27. August 2013 - 2 StR 148/13, NStZ 2014, 35).

b) Gemessen an diesen Maßstäben fehlt es an einer umfassenden Gesamtwürdigung aller für und gegen die Annahme bedingten Tötungsvorsatzes sprechenden Umstände.

aa) Zwar ist das Landgericht im Ansatz zutreffend davon ausgegangen, dass bei äußerst gefährlichen Gewalthandlungen ein bedingter Tötungsvorsatz naheliegt. Indes wird schon die Bewertung des Landgerichts, der Stich mit dem Messer in den Rücken des Zeugen H. stelle eine äußerst gefährliche Gewalthandlung dar, von den Feststellungen nicht getragen. Dabei hat das Landgericht bereits den gegenläufigen Umstand, dass der Geschädigte tatsächlich keine erheblichen Verletzungen erlitten hat, nicht hinreichend in die Bewertung eingestellt. Die Erwägungen der Strafkammer, „lediglich aufgrund des Schutzes durch das Schulterblatt wurden lebensnotwendige Organe wie die Lunge oder das Herz des Geschädigten verfehlt“ und „die Klingenlänge des von dem Angeklagten S. verwendeten Messers war ihrer Länge nach auch geeignet, bei dem gesetzten Stich bis zur Aorta oder dem Herzen vorzudringen und diese zu verletzen“, greift zu kurz. Angesichts der festgestellten Stichtiefe von lediglich 1,5 cm hätte es näherer Erörterung bedurft, ob der Angeklagte den Stich - möglicherweise - nicht mit großer Wucht und Intensität und damit dosiert ausgeführt hat (vgl. auch Senat, Urteil vom 26. November 2014 - 2 StR 54/14, juris Rn. 20).

bb) Im Rahmen der Gesamtwürdigung hätte das Landgericht auch den Umstand, dass es sich innerhalb des dynamischen Geschehens einer Auseinandersetzung um eine „spontane Handlung“ des Angeklagten S. gehandelt hat, in den Blick nehmen müssen (vgl. BGH, Urteil vom 14. August 2014 - 4 StR 163/14, NStZ 2015, 266, 267). Auch das Nachtatverhalten der beiden Angeklagten durfte das Landgericht bei der Prüfung des bedingten Tötungsvorsatzes nicht unberücksichtigt lassen (vgl. BGH, Urteil vom 9. Januar 2013 - 5 StR 395/12, NStZ-RR 2013, 169 ,170). Dass sich die Angeklagten nach dem Stich auf nicht lebensgefährdende Verletzungshandlungen in Form von Schlägen, Tritten und einem Kopfstoß beschränkten, ist ein gewichtiger, gegen die Annahme bedingten Tötungsvorsatzes sprechender Umstand, mit dem sich das Landgericht auseinanderzusetzen hatte.

2. Ein weiterer Rechtsfehler liegt darin, dass die Strafkammer dem Angeklagten Sh. den vom Angeklagten S. geführten Messerstich im Wege sukzessiver Mittäterschaft zugerechnet hat. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zieht bei einem Geschehen, welches schon vollständig abgeschlossen ist, das Einverständnis des später Hinzutretenden trotz Kenntnis, Billigung und Ausnutzung der durch den anderen Mittäter geschaffenen Lage eine strafbare Verantwortung für das bereits abgeschlossene Geschehen nicht nach sich (vgl. Senat, Beschluss vom 7. März 2016 - 2 StR 123/15, NStZ 2016, 524, 525).

Der Einsatz des Messers durch den Angeklagten S. war nach den Feststellungen beendet und abgeschlossen, als die Angeklagten sodann einvernehmlich dazu übergingen, den Geschädigten nur noch zu schlagen und zu treten.

3. Um dem neuen Tatgericht eine umfassende Neubewertung der Tatumstände zu ermöglichen, waren neben den Feststellungen zur inneren Tatseite auch die Feststellungen zum äußeren Tatgeschehen aufzuheben.

Für den Fall, dass die neu zur Entscheidung berufene Jugendkammer (erneut) zur Annahme eines bedingten Tötungsvorsatzes kommen sollte, wird sie sich damit auseinanderzusetzen haben, ob die Angeklagten strafbefreiend vom Versuch des Totschlags zurückgetreten sind.

Den bisherigen Feststellungen ist bereits das Vorstellungsbild der Angeklagten nach Abschluss der letzten vorgenommenen Ausführungshandlung (sog. Rücktrittshorizont), wonach sich u.a. auch die Abgrenzung zwischen unbeendetem und beendetem Versuch bestimmt (vgl. BGH, Urteil vom 19. März 2013 - 1 StR 647/12, NStZ-RR 2013, 273, 274; Senat, Beschluss vom 10. Oktober 2013 - 2 StR 64/13, NStZ-RR 2014, 111, jeweils mwN), nicht ausreichend konkret zu entnehmen. Im Hinblick darauf, dass der Stich - der Griff des Geschädigten an seinen Rücken ausgenommen - ohne spürbare unmittelbare Folgen blieb und die Angeklagten im Anschluss daran weiter auf den Geschädigten eintraten und -schlugen, ist weder offensichtlich noch naheliegend, dass die Angeklagten davon ausgingen, der Stich könne den Tod sicher oder möglicherweise herbeiführen. Die Feststellung des Landgerichts, wonach die Angeklagten die Flucht ergriffen, „obwohl beiden (...) bewusst war, dass der Stich des Angeklagten S. in den Rücken des Zeugen H. diesen in Lebensgefahr gebracht haben könnte“, trägt daher nicht die Annahme eines beendeten Versuchs. War aber der Versuch unbeendet, so reichte das einverständliche Unterlassen weiterer auf den Erfolg gerichteter Handlungen zum strafbefreienden Rücktritt aus (§ 24 Abs. 1 Satz 1, 1. Alt. StGB).

HRRS-Nummer: HRRS 2019 Nr. 1009

Externe Fundstellen: NStZ 2019, 725; StV 2020, 73

Bearbeiter: Karsten Gaede/Marc-Philipp Bittner