HRRS-Nummer: HRRS 2018 Nr. 1006
Bearbeiter: Karsten Gaede/Marc-Philipp Bittner
Zitiervorschlag: BGH, 2 StR 454/17, Urteil v. 05.09.2018, HRRS 2018 Nr. 1006
1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Marburg vom 23. Mai 2017
a) im Schuldspruch zu den Fällen II.1. und II.2. der Urteilsgründe dahin geändert, dass der Angeklagte jeweils der Vergewaltigung in Tateinheit mit schwerem sexuellen Missbrauch eines Kindes schuldig ist,
b) mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben, aa) soweit er wegen 37 Taten aus den Fällen II.3. bis II.42. der Urteilsgründe verurteilt wurde; davon ausgenommen sind die Fälle einer Vergewaltigung in dem Abstellraum, einer Vergewaltigung während des Urlaubs im Sommer 1998 und einer Vergewaltigung nach der Gartenarbeit im Sommer 1999, bb) im gesamten Strafausspruch.
2. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Jugendkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
3. Die weiter gehende Revision wird verworfen.
Von Rechts wegen
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Vergewaltigung in 42 Fällen (Fälle II.1. bis II.42. der Urteilsgründe) und wegen sexuellen Missbrauchs eines Kindes (Fall II.43. der Urteilsgründe) zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zehn Jahren verurteilt. Hiergegen richtet sich die auf Verfahrensrügen und die Sachbeschwerde gestützte Revision des Angeklagten. Das Rechtsmittel hat in dem aus der Urteilsformel ersichtlichen Umfang Erfolg; im Übrigen ist es unbegründet.
1. Nach den Feststellungen des Landgerichts lernte der Angeklagte im Jahr 1993 die heroinabhängige M. H. kennen, die Mutter der am 6. April 1983 geborenen Nebenklägerin. Die Nebenklägerin sah den Angeklagten als Verbündeten bei dem Bestreben an, ihre Mutter vom Drogenkonsum abzuhalten. Dieser nutzte die Beziehung zu sexuellen Übergriffen aus.
Am 3. November 1996 zog der Angeklagte die damals 13jährige Nebenklägerin am Arm in einen Abstellraum im Keller. Dort zog er dem Kind Hose und Unterhose aus und drückte es auf einen Stuhl. Er spreizte die Beine des Kindes gegen dessen Widerstand. Dann vollzog er den Geschlechtsverkehr (Fall II.1. der Urteilsgründe).
Etwa zwei Wochen später ging der Angeklagte morgens in das Zimmer der Nebenklägerin, die in ihrem Bett schlief, entkleidete ihren Unterkörper und legte sich auf sie. Er drückte die Beine des Kindes auseinander und vollzog den Geschlechtsverkehr (Fall II.2. der Urteilsgründe).
Bis zu einem Wohnungsumzug Ende Oktober 1997 vollzog der Angeklagte mindestens einmal pro Monat den Geschlechtsverkehr mit dem Kind gegen dessen Willen (Fälle II.3. bis II.13. der Urteilsgründe). Dies geschah im Zimmer der Nebenklägerin oder im Abstellraum im Keller. Der Angeklagte hinderte die Nebenklägerin dabei an einer Flucht entweder dadurch, dass er sich auf sie legte oder dadurch, dass er sie festhielt. In einem dieser Fälle warteten Freunde der Nebenklägerin vor dem Haus auf sie, weshalb sie sich besonders sträubte. Der Angeklagte zerrte sie jedoch in den Abstellraum, drückte sie auf den Boden, legte sich auf sie, drückte ihre Beine auseinander und vollzog den Geschlechtsverkehr.
Im Zeitraum von November 1997 bis März 2000 vollzog der Angeklagte mindestens einmal pro Monat in weiteren 29 Fällen den Geschlechtsverkehr mit der Nebenklägerin gegen deren Willen (Fälle II.14. bis II.42. der Urteilsgründe). Näher konkretisiert wurden zwei dieser Fälle: In einem Fall drückte der Angeklagte die Nebenklägerin während des Sommerurlaubs im Jahr 1998 gegen die Wand der Ferienwohnung, drängte ihre Beine auseinander, hob das Mädchen hoch und vollzog den Geschlechtsverkehr. In einem anderen Fall war die Familie im Sommer 1999 mit Gartenarbeiten beschäftigt. Der Angeklagte folgte der Nebenklägerin ins Haus. Er „zog“ sie ins Schlafzimmer, befahl ihr, sich auszuziehen und erotische Posen einzunehmen, um sie zu fotografieren. Dann entkleidete er sich, legte sich auf das Bett und befahl dem Mädchen, sich auf ihn zu setzen, was es aus Angst vor früherer Gewaltanwendung tat. Dann vollzog der Angeklagte den Geschlechtsverkehr.
Das Landgericht hat zu den 37 nicht näher konkretisierten Verbrechen zwar nicht für jeden Einzelfall die Anwendung von Gewalt oder eine Drohung mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben als qualifiziertes Nötigungsmittel festgestellt. Jedoch habe der Angeklagte ein „Klima der Gewalt“ ausgenutzt. Demnach habe er entweder Gewalt angewendet oder ausgenutzt, dass die Nebenklägerin Angst davor hatte, er werde sie im Fall eines Widerstands in schmerzhafter Weise anfassen. Außerhalb der sexuellen Übergriffe kam es hingegen nicht zu Gewalttätigkeiten des Angeklagten.
2. Zu einem nicht näher feststellbaren Zeitpunkt im Jahr 2012 veranlasste der Angeklagte die am 28. April 1999 geborene Tochter seiner damaligen Lebensgefährtin, sich auf seinen Schoß zu setzen. Dann griff er dem Kind unter der Kleidung an Brust und Scheide (Fall II.43. der Urteilsgründe).
1. Die Verfahrensrügen des Angeklagten bleiben aus den vom Generalbundesanwalt in seiner Antragsschrift genannten Gründen ohne Erfolg. Dies gilt auch für die Rüge einer Verletzung des Grundsatzes der Öffentlichkeit der Hauptverhandlung.
a) Dieser Rüge liegt Folgendes zugrunde:
Die Nebenklägerin erklärte vor der Hauptverhandlung schriftsätzlich, es „werde beantragt“ werden, die Öffentlichkeit für die Dauer ihrer Vernehmung gemäß § 171b GVG auszuschließen, weil Umstände aus dem persönlichen Lebensbereich zur Sprache kommen würden, deren öffentliche Erörterung ihre schutzwürdigen Interessen verletzen würde. Das Landgericht fasste in der Hauptverhandlung einen entsprechenden Beschluss.
Die Revision meint, dies sei verfahrensfehlerhaft, weil kein Antrag auf Ausschluss der Öffentlichkeit vorgelegen habe. Außerdem sei bei der Vernehmung der Nebenklägerin als Zeugin ihr Tagebuch in die Hauptverhandlung eingeführt worden; dies sei nicht von der Entscheidung über den Ausschluss der Öffentlichkeit gedeckt gewesen. Schließlich sei die Erörterung über die Vereidigung und die Entlassung der Zeugen zu Unrecht unter Ausschluss der Öffentlichkeit erfolgt.
b) Die Rüge ist unbegründet.
aa) Die Nebenklägerin hat den Ausschluss der Öffentlichkeit im Sinne von § 171b Abs. 3 Satz 1 GVG beantragt. Eine solche Antragstellung kann außerhalb der Hauptverhandlung erfolgen (vgl. BGH, Beschluss vom 22. Oktober 2013 - 4 StR 389/13, BGHR GVG § 171b Abs. 3 Antragstellung 1; MüKo-StPO/Kulhanek, 2018, GVG § 171b Rn. 12). Dies ist hier geschehen.
Die im Schriftsatz der Nebenklägerin gewählte Formulierung, es „werde beantragt“ werden, die Öffentlichkeit auszuschließen, war zwar für sich genommen nicht völlig eindeutig. Die Begründung des Antrags lässt jedoch den unbedingt erklärten Willen erkennen, diesen zu stellen.
bb) Auch der Umfang der Ausschließung der Öffentlichkeit ist rechtlich nicht zu beanstanden.
Beschränkt sich der Ausschluss der Öffentlichkeit auf einen bestimmten Verfahrensabschnitt, wie die Dauer der Vernehmung einer Beweisperson, so umfasst er alle Verfahrensvorgänge, die mit diesem in enger Verbindung stehen oder sich aus ihm entwickeln und die daher zu diesem Verfahrensabschnitt gehören (vgl. BGH, Urteil vom 9. November 1994 - 3 StR 420/94; MüKo-StPO/ Kulhanek, GVG, § 171b Rn. 5). Der Vorhalt des Tagebuchs an die Zeugin als Vernehmungsbehelf und die Erörterungen über die Vereidigung und Entlassung der Zeugin waren in diesem Sinn Teil der Vernehmung und von dem Beschluss über die Ausschließung der Öffentlichkeit gedeckt (Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 61. Aufl., § 171b GVG Rn. 3a mwN).
2. Die Sachrüge hat teilweise Erfolg.
a) Soweit das Landgericht den Angeklagten wegen 37 nicht näher konkretisierter Verbrechen aus den Fällen II.3. bis II.42. verurteilt hat, hat es jeweils eine Vergewaltigung angenommen, weil zwar nicht für jeden Einzelfall die Anwendung von Gewalt oder eine Drohung mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben als qualifiziertes Nötigungsmittel festgestellt werden könne, jedoch der Angeklagte ein „Klima der Gewalt“ ausgenutzt habe. Diese Überlegung trägt nicht.
aa) Zutreffend ist allerdings der rechtliche Ausgangspunkt. Frühere Gewaltanwendungen können im Einzelfall als konkludente Drohung gegenüber dem Opfer einer Vergewaltigung im Sinne von § 177 Abs. 1 Nr. 2 StGB a.F. zu beurteilen sein, den körperlich wirkenden Zwang erneut anzuwenden, falls das weitere Vorgehen des Täters auf Widerstand stoßen sollte. So kann vorausgegangene Gewalt fortwirken, wenn das Opfer angesichts einer früheren Gewaltanwendung und der gegebenen Kräfteverhältnisse aus Furcht vor weiteren Gewalttätigkeiten von Gegenwehr absieht, sofern der Täter erkennt und billigt, dass das Opfer sein Verhalten als Drohung mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben empfindet (vgl. BGH, Beschluss vom 20. März 2012 - 4 StR 561/11, NStZ 2013, 466, 467). Die Ausnutzung eines vom Täter durch vorangehende Tätlichkeiten oder Drohungen geschaffenen „Klimas der Gewalt“ kann dann dazu genügen, das Tatbestandsmerkmal der Drohung mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben anzunehmen. Zumindest von § 177 Abs. 1 Nr. 3 StGB a.F. erfasst werden schließlich Fälle, in denen zwar nicht konkludent mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben des Opfers gedroht wird, dieses aber aus Furcht vor Einwirkungen des Täters auf Widerstand verzichtet, weil es sich in einer hilflosen Lage befindet und ihm Widerstand gegen den überlegenen Täter aussichtslos erscheint (vgl. Senat, Beschluss vom 7. Januar 2015 - 2 StR 463/14, NStZ 2015, 211, 212 mit Anm. Piel).
bb) Die Tatbestandsmerkmale einer Vergewaltigung mit Gewalt, durch Drohung mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben oder durch Ausnutzung einer schutzlosen Lage des Opfers müssen bei Tatserien grundsätzlich für jede einzelne Tat konkret festgestellt werden (vgl. Senat, Beschluss vom 10. Januar 2007 - 2 StR 496/06, NStZ-RR 2007, 173 f.). Andernfalls werden das Tatbild und der Schuldumfang unzureichend dargelegt (vgl. BGH, Beschluss vom 27. März 1996 - 3 StR 518/95, BGHSt 42, 107, 111). Geringere Anforderungen an die Sachdarstellung sind nur hinzunehmen, wenn sich der Tatrichter die Überzeugung eines vom Täter erzeugten und bewusst eingesetzten „Klimas ständiger Gewalt“ verschafft (vgl. BGH, Beschluss vom 20. März 2012 - 4 StR 561/11, NStZ 2013, 466, 467). Hieran fehlt es. Die Feststellungen belegen nicht, dass im Tatzeitraum von Dezember 1996 bis März 2000 ein „Klima der Gewalt“ herrschte. Der Angeklagte ist nach diesen außerhalb der sexuellen Übergriffe nie gewalttätig geworden. Auch hat er bei den fünf näher konkretisierten Fällen nur durch Ziehen der Nebenklägerin an den Tatort, Festhalten, Auseinanderdrücken der Beine oder sein Körpergewicht physischen Zwang ausgeübt. Bei dieser Sachlage kann nicht von einem in dem mehrere Jahre umfassenden Tatzeitraum anhaltenden „Klima der Gewalt“ gesprochen werden.
b) Der Rechtsfehler wirkt sich nicht auf die fünf konkretisierten Fälle der Vergewaltigung aus. Dort ist jeweils eine physische Kraftentfaltung des Angeklagten festgestellt, die von der Nebenklägerin als Zwang empfunden und vom Angeklagten als Nötigungsmittel zur Ermöglichung des Geschlechtsverkehrs mit der Nebenklägerin eingesetzt wurde. Dies betrifft im Fall II.1. der Urteilsgründe das Ziehen der Nebenklägerin in den Abstellraum, das Niederdrücken auf den Stuhl und Auseinanderdrücken ihrer Beine. Im Fall II.2. der Urteilsgründe bestand die Gewaltanwendung durch den Angeklagten darin, dass er sich auf die Nebenklägerin legte und ihre Beine auseinanderdrückte. Bei der Vergewaltigung im Abstellraum zerrte er die Nebenklägerin dorthin, presste sie auf den Boden und drückte ihre Beine auseinander. Die Tat in der Ferienwohnung beging der Angeklagte, indem er die Beine der Nebenklägerin auseinanderdrängte und sie hochhob. Bei der Tat nach der Gartenarbeit schließlich „zog“ er sie in das Schlafzimmer; auch darin ist eine noch ausreichende Feststellung von physischer Kraftentfaltung mit Zwangswirkung auf das Opfer zu sehen.
Dem Gesamtzusammenhang der Urteilsgründe ist zu entnehmen, dass die Gewaltanwendung jeweils zur Überwindung möglichen Widerstands geschah, um den Geschlechtsverkehr gegen den Willen der Nebenklägerin zu ermöglichen.
c) In Fällen II.1. und II.2. der Urteilsgründe hat der Angeklagte neben dem Tatbestand der Vergewaltigung im Sinne von § 177 Abs. 1 Nr. 1 und Abs. 2 StGB a.F. tateinheitlich den Tatbestand des schweren sexuellen Missbrauchs eines Kindes erfüllt (§ 176a Abs. 2 Nr. 1 StGB). Zur Zeit der Begehung dieser Taten im November 1996 war die am 6. April 1983 geborene Nebenklägerin noch nicht 14 Jahre alt.
Der Senat ändert den Schuldspruch dementsprechend. § 265 Abs. 1 StPO steht nicht entgegen, weil der Angeklagte sich insoweit nicht anders als geschehen hätte verteidigen können.
3. Der Schuldspruch im Fall II.43. der Urteilsgründe ist rechtlich nicht zu beanstanden.
4. a) Die Aufhebung der Verurteilung wegen Vergewaltigung in den 37 nicht konkretisierten Fällen zwingt zur Aufhebung der Gesamtfreiheitsstrafe.
b) Der Senat hebt nach Wegfall der Mehrzahl aller Einzelstrafen auch die Einzelstrafen in den verbliebenen Fällen auf, um dem neuen Tatrichter eine insgesamt stimmige Entscheidung über die Einzelstrafen und die Gesamtstrafe zu ermöglichen.
Dies gilt auch für die Einzelstrafe im Fall II.43., bei deren Bemessung das Landgericht bemerkt hat, es sei zu berücksichtigen, „dass diese Tat nicht losgelöst von den Jahre dauernden Taten gegen die Zeugin G. gesehen werden“ könne.
c) Für die neue Verhandlung und Entscheidung weist der Senat darauf hin, dass die psychischen Schäden der Geschädigten G. dem Angeklagten nur einmal, nämlich bei der Bildung der Gesamtstrafe, angelastet werden, wenn sie nur die Folge aller Taten sind. Nur wenn sie unmittelbare Folge einzelner Taten sind, können sie auch bei der Bemessung der jeweiligen Einzelstrafe in Ansatz gebracht werden (vgl. Senat, Urteil vom 9. Juli 2014 - 2 StR 574/13, NStZ 2014, 701 mwN).
HRRS-Nummer: HRRS 2018 Nr. 1006
Externe Fundstellen: NStZ-RR 2018, 343; StV 2019, 540
Bearbeiter: Karsten Gaede/Marc-Philipp Bittner