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HRRS-Nummer: HRRS 2018 Nr. 1016

Bearbeiter: Karsten Gaede/Marc-Philipp Bittner

Zitiervorschlag: BGH, 2 StR 428/17, Urteil v. 15.08.2018, HRRS 2018 Nr. 1016


BGH 2 StR 428/17 - Urteil vom 15. August 2018 (LG Frankfurt am Main)

Aufhebung des Straf- und Maßregelausspruchs.

§ 349 Abs. 5 StPO

Entscheidungstenor

1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Frankfurt am Main vom 29. März 2017 im Straf- und Maßregelausspruch mit den jeweils zugehörigen Feststellungen aufgehoben.

2. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

3. Die weitergehende Revision wird verworfen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen gefährlicher Körperverletzung in Tateinheit mit unerlaubtem Führen einer Schusswaffe und unerlaubtem Besitz von Munition zu einer Freiheitsstrafe von acht Jahren verurteilt, die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt bei Vorwegvollzug von zwei Jahren und sechs Monaten Freiheitsstrafe angeordnet und eine Einziehungsentscheidung getroffen. Die auf die Rüge der Verletzung formellen und materiellen Rechts gestützte Revision des Angeklagten hat den aus dem Tenor ersichtlichen Erfolg; im Übrigen ist sie unbegründet.

I.

Nach den Feststellungen des Landgerichts begab sich der Angeklagte am 29. Februar 2016 in das türkische Café „A.“ in F., um dort die als Bedienung tätige Zeugin F., mit der er kurz zuvor eine Beziehung begonnen hatte, zu besuchen. Er beabsichtigte, ihr dort bis zum Schließen des Lokals Gesellschaft zu leisten, um anschließend mit ihr in seiner Wohnung zu übernachten. Im Café hielt sich seit dem Nachmittag auch das spätere Tatopfer, der Zeuge Ö., auf. Bis gegen Mitternacht, als die meisten Gäste das Café verlassen hatten, konsumierte der Angeklagte Kokain und trank in erheblichem Umfang Bier und Schnaps. Er setzte sich schließlich zu Ö. an dessen Tisch, an dem auch die Zeugen Y. und Öz. saßen und ein Gespräch über die gegenwärtigen politischen Gegebenheiten in der Türkei führten. Auch nach dem Hinzukommen des Angeklagten setzten diese ihre Unterhaltung fort. Es kam in der Folge zu einer kontroversen politischen Diskussion, die vor allem zwischen dem Angeklagten und Ö. leidenschaftlich und lautstark geführt wurde. Ö. beklagte ein Demokratiedefizit in der Türkei sowie die Unterdrückung und Entrechtung der Kurden. Dabei äußerte er ein gewisses Verständnis für die (verbotene) kurdische Arbeiterpartei PKK, ohne allerdings die von ihr veranlassten gewalttätigen Anschläge auf türkische Einrichtungen zu rechtfertigen.

Dabei blieb die Atmosphäre während der mehrstündigen Diskussion zwar „freundschaftlich“, allerdings kam beim Angeklagten, der sich als Anhänger Atatürks bezeichnete, im Laufe der Zeit eine sich stetig steigernde Wut auf Ö. auf, dem er mangelnden Patriotismus vorwarf. Dessen ständige Kritik an der türkischen Regierung empfand er als Beleidigung des türkischen Staates, durch die er sich in seiner persönlichen Ehre als Türke verletzt fühlte. Deshalb verspürte er schließlich das dringende Bedürfnis, ihn für die „Beleidigung seines Heimatlandes“ abzustrafen.

Gegen 4.00 Uhr morgens, als das Café geschlossen werden sollte, bemerkte Ö., dass ihm die Zigaretten ausgegangen waren. Da anderweitig keine zu besorgen waren, bot der Angeklagte ihm an, er könne mit ihm kurz nach Hause kommen, dort könne er aus seinem Vorrat einige bekommen. Tatsächlich beabsichtigte er, ihn mit einer Schusswaffe anzugreifen und zu verletzen. Ö. ging, ohne etwas zu ahnen, auf den Vorschlag ein und folgte dem Angeklagten und der Zeugin F., die schon ein Stück voraus gelaufen waren. Nach wenigen Minuten erreichten sie den Innenhof vor dem Gebäude, in dem der Angeklagte zusammen mit seinen Eltern eine Wohnung teilte. Der Angeklagte bat Ö. und die Zeugin F. zu warten, bis er die Zigaretten geholt habe. Nach ca. fünf Minuten kehrte er ohne sie, aber mit einem Revolver, den er unauffällig in seiner rechten Hand hielt, zurück. Diesen hatte er aus einem Versteck vom Dachboden des Hauses geholt.

Unmittelbar nachdem der Angeklagte die beiden Zurückgebliebenen erreicht hatte, zog er die Zeugin F. schnell zur Seite und gab aus einer Entfernung von ca. 3 Metern kurz hintereinander zwei gezielte Schüsse auf die unteren Gliedmaßen des durch den Angriff überraschten Ö. ab. Dabei beabsichtigte er, ihn im Bereich der Beine zu verletzen. Seinen Tod nahm er nicht billigend in Kauf. Während des Schusses rief er „Ich ficke Dich, Du Kurde“ bzw. „Du verfickter Kurde“. Ö. brach nach dem zweiten Schuss, der ihn im linken Oberschenkel getroffen und zu einem Trümmerbruch geführt hatte, zusammen. Der Angeklagte kümmerte sich nicht um ihn und verließ zunächst mit der Zeugin F. den Innenhof. Sie kamen jedoch alsbald zurück und sahen das Tatopfer noch immer regungslos auf dem Boden liegen. Der Angeklagte brachte die Tatwaffe zurück auf den Dachboden und ging anschließend mit der Zeugin F. in seine Wohnung. Dort forderte er sie auf, einen Rettungswagen herbeizurufen, da er befürchtete, den Geschädigten schwer verletzt zu haben. Dies tat sie um 4.25 Uhr, unter einem falschen Namen und ohne auf die Schussverletzung des Geschädigten hinzuweisen. Zu diesem Zeitpunkt war die Polizei, die um 4.26 Uhr einen Streifenwagen mit Sondersignal zum Tatort entsandt hatte, allerdings bereits von dem Geschädigten Ö. angerufen worden. Bei der anschließenden Durchsuchung der Wohnung des Angeklagten wurde in einem Kleiderschrank die ihm gehörende erlaubnispflichtige Munition aufgefunden.

Der Angeklagte wies zur Tatzeit eine nach Entnahme einer Blutprobe errechnete Maximalblutalkoholkonzentration von 3,10 Promille auf; gleichwohl ist das Landgericht nicht von einer erheblich verminderten Steuerungsfähigkeit des Angeklagten ausgegangen.

Der Geschädigte hielt sich in der Folge zu mehreren Operationen des zertrümmerten Oberschenkels stationär im Krankenhaus auf; er kann sich nur noch mühsam mit Krücken und unter Schmerzen fortbewegen. Es ist nicht abzusehen, dass er körperlich wieder vollständig hergestellt werden kann. Er befindet sich zudem in psychologischer Behandlung. Seine Lebensverhältnisse haben sich grundlegend verändert. Er konnte seine Tätigkeit als Sozialarbeiter nicht fortsetzen.

II.

Die wirksam auf den Rechtsfolgenausspruch beschränkte Revision des Angeklagten hat weitgehend Erfolg. Sie führt mit der Verfahrensrüge der Verletzung von § 261 StPO zur Aufhebung des Straf- und Maßregelausspruchs, die Einziehungsentscheidung ist von dem Rechtsfehler nicht betroffen und hat Bestand. Die weiteren Verfahrensrügen sowie die Sachrüge bedürfen keiner näheren Erörterung, da sie sich nicht gegen die Einziehungsentscheidung richten.

1. Die Revision beanstandet zu Recht, dass sich das Landgericht im Zusammenhang mit der Schuldfähigkeitsbeurteilung des Angeklagten nicht mit dem in der Hauptverhandlung im Wege der Verlesung eingeführten ärztlichen Untersuchungsberichts des Arztes Dr. N. vom 29. Februar 2016 auseinander gesetzt hat.

a) Die Rüge ist zulässig erhoben. Der Angeklagte war nicht gehalten vorzutragen, ob und gegebenenfalls in welcher Weise sich der zur Frage der Schuldfähigkeit des Angeklagten in der Hauptverhandlung gehörte Sachverständige in seinem Gutachten mit dem ärztlichen Untersuchungsbericht von Dr. N. befasst hat. § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO verpflichtet insoweit nicht zu einem Vorbringen von Umständen, das auf ein Verfahrensgeschehen abzielte, dessen mögliche Aufklärung dem Verbot der Rekonstruktion der Hauptverhandlung unterliegen würde.

b) Die Rüge ist auch begründet.

Der im Rahmen der Beweisaufnahme verlesene Untersuchungsbericht des die Blutabnahme um 8.43 Uhr durchführenden Arztes enthält Hinweise auf relevante Einschränkungen der Leistungsfähigkeit des Angeklagten. Es wird dort bescheinigt, er habe wegen Unsicherheit nicht geradeaus gehen können, die Finger-Finger-Probe sei unsicher, die Sprache verwaschen, das Bewusstsein des Angeklagten benommen, der Denkablauf unklar, sein Verhalten abweisend und seine Stimmung gereizt gewesen. Diese Beschreibungen des Angeklagten werden in den landgerichtlichen Urteilsgründen nicht aufgegriffen, obwohl sich dies angesichts der Begründung der Strafkammer zum Ausschluss einer erheblichen Einschränkung der Steuerungsfähigkeit des Angeklagten aufgedrängt hätte.

Das Landgericht hat - ausgehend von einer maximalen Blutalkoholkonzentration von 3,1 Promille, bei der jedenfalls die Annahme der Voraussetzungen des § 21 StGB nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs nahe liegt (vgl. dazu Fischer, StGB, 65. Aufl., § 20 Rn. 20), - eine erhebliche Einschränkung der Steuerungsfähigkeit des Angeklagten verneint. Dabei hat es sich - sachverständig beraten - auf fehlende äußerlich sichtbare typische alkoholbedingte Ausfallerscheinungen, auf eine nachgewiesene und lange Alkoholgewöhnung des Angeklagten und sein sehr gutes Leistungsvermögen zur Tatzeit bezogen. Die Überzeugung vom Fehlen von Ausfallerscheinungen hat es gewonnen, weil keiner der befragten Caféhausbesucher am Tatabend solche beobachtet hatte und auch zwei am Tatort anwesende Polizeibeamte nicht den Eindruck gewonnen hätten, der Angeklagte habe unter Alkohol und/oder Drogen gestanden.

Bei dieser besonderen Sachlage hätte sich die Strafkammer mit den im Untersuchungsbericht enthaltenen Angaben des sachverständigen Zeugen, dessen Aufgabe im Zeitpunkt der Blutentnahme gerade auch darin bestand, über die Entnahme hinaus (weitergehende) Feststellungen zur bestehenden Alkoholisierung zu treffen, auseinander setzen müssen. Denn diese sprechen jedenfalls dafür, dass die um 7.43 Uhr im Blut festgestellte Blutalkoholkonzentration zu diesem Zeitpunkt zu massiven Ausfallerscheinungen geführt hat. Wie dies mit der Einschätzung der Strafkammer, zum Tatzeitpunkt, bei dem ein höherer BAK-Wert von 3,1 Promille anzunehmen war, habe es keine Ausfallerscheinungen gegeben, in Einklang zu bringen ist, hätte insoweit näherer Erörterung bedurft. Dies war auch nicht deshalb entbehrlich, weil das Landgericht mit Blick auf den Kokainkonsum des Angeklagten vor der Tat darauf hingewiesen hat, der Konsum von Kokain steigere das Leistungsvermögen und führe dazu, dass typische alkoholbedingte Ausfallerscheinungen antagonisiert würden. Selbst wenn man davon ausginge, dass das Landgericht damit nicht nur das Fehlen eines sog. „Potenzierungseffekts“ bei gleichzeitigem Konsum von Alkohol und Kokain begründen, sondern darüber hinaus den Wegfall von Ausfallerscheinungen zur Tatzeit erklären wollte, bleiben die landgerichtlichen Ausführungen defizitär. Denn ob und wie sich das mögliche kokainbedingte Fehlen von durch Alkoholkonsum üblicherweise hervorgerufenen Ausfallerscheinungen im Tatzeitpunkt auf das Hemmungsvermögen, für das 3 ½ Stunden nach der Tat nicht nur eine hohe Blutalkoholkonzentration, sondern auch Ausfallerscheinungen streiten, auswirkt, lässt sich den Erläuterungen der Strafkammer nicht entnehmen.

2. Dieser Rechtsfehler führt zur Aufhebung des Strafausspruchs. Der Senat schließt aus, dass das Landgericht bei ordnungsgemäßer Berücksichtigung des ärztlichen Untersuchungsberichts zur Annahme von Schuldunfähigkeit des alkoholgewöhnten Angeklagten gelangt wäre.

Die Aufhebung des Strafausspruchs entzieht der Bestimmung über den Vorwegvollzug der Freiheitsstrafe vor der angeordneten Maßregel nach § 64 StGB die Grundlage. Der Senat hebt auch die an sich ohne Rechtsfehler angeordnete Unterbringung in der Entziehungsanstalt mit den zugehörigen Feststellungen auf, um dem Tatrichter, nahe liegender Weise unter Heranziehung eines anderen Sachverständigen, auf einer widerspruchsfreien Tatsachengrundlage eine in sich stimmige Rechtsfolgenentscheidung zu ermöglichen.

HRRS-Nummer: HRRS 2018 Nr. 1016

Externe Fundstellen: StV 2019, 228

Bearbeiter: Karsten Gaede/Marc-Philipp Bittner