HRRS-Nummer: HRRS 2017 Nr. 224
Bearbeiter: Christian Becker
Zitiervorschlag: BGH, StB 40/16, Beschluss v. 11.01.2017, HRRS 2017 Nr. 224
Die Beschwerde des Beschuldigten gegen den Haftbefehl des Ermittlungsrichters des Bundesgerichtshofs vom 17. November 2016 wird verworfen.
Der Beschwerdeführer hat die Kosten seines Rechtsmittels zu tragen.
Der Beschuldigte wurde am 17. November 2016 aufgrund des Haftbefehls des Ermittlungsrichters des Bundesgerichtshofs vom selben Tage (5 BGs 409/16) festgenommen und befindet sich seitdem in Untersuchungshaft.
Gegenstand des Haftbefehls ist der Vorwurf, der jugendliche Beschuldigte habe sich in den Jahren 2013 bis 2015 in Afghanistan und an anderen Orten im Ausland als Mitglied der „Taliban“ und damit an einer außereuropäischen terroristischen Vereinigung beteiligt, deren Zwecke oder Tätigkeiten darauf gerichtet seien, Mord (§ 211 StGB) oder Totschlag (§ 212 StGB) zu begehen, strafbar gemäß § 129a Abs. 1 Nr. 1, § 129b Abs. 1 Sätze 1 und 2 StGB, §§ 1, 3 JGG.
Mit Schriftsatz seines Verteidigers vom 5. Dezember 2016 hat der Beschuldigte Beschwerde gegen den Haftbefehl eingelegt. Der Ermittlungsrichter des Bundesgerichtshofs hat der Beschwerde mit Beschluss vom 7. Dezember 2016 (5 BGs 454/16) nicht abgeholfen. Der Generalbundesanwalt hat beantragt, den Haftbefehl aufrechtzuerhalten.
Die Beschwerde ist unbegründet.
1. Der Beschuldigte ist der ihm zur Last gelegten Tat dringend verdächtig.
a) Nach dem gegenwärtigen Ermittlungsstand ist im Sinne eines dringenden Tatverdachts von folgendem Sachverhalt auszugehen:
aa) Die in Afghanistan operierenden Taliban haben sich - von radikalreligiösen Anschauungen geleitet - zum Ziel gesetzt, alle ausländischen Streitkräfte vom Gebiet Afghanistans zu vertreiben und auf dem gesamten Staatsgebiet einen islamischen Staat unter Geltung der Scharia als einziger Rechtsgrundlage zu errichten; dabei nehmen sie auch zivile Opfer in Kauf.
Die Vereinigung ist streng hierarchisch organisiert. An ihrer Spitze steht der uneingeschränkte politisch-religiöse Führer, der gleichzeitig auch militärischer Befehlshaber ist. Dabei handelte es sich zunächst um Mullah Mohammad Omar Mudjahed, der nach den bislang vorliegenden Erkenntnissen entweder im Jahr 2013 oder 2015 starb. Sein Nachfolger Maulawi Akhtar Muhammad Mansur kam am 21. Mai 2016 bei einem amerikanischen Drohnenangriff im Grenzgebiet zwischen Afghanistan und Pakistan ums Leben. Aktueller Anführer der Organisation ist Maulwai Haibatallah Akhundzada, der von Sirajuddin Haqqani und Maulawai Muhammad Ya´qub (Sohn des ersten Führers Mullah Omar) vertreten wird.
In die Entschlussfassungen der Führung maßgeblich eingebunden ist ein Schura Rat. Er besteht aus den - gegenwärtig etwa 22 - höchsten militärischen Kommandeuren und nichtmilitärischen Vertretern, von denen einzelne für verschiedene Aufgabenbereiche wie „Politik“, „Militär“, „Finanzen“, „Angelegenheiten der Gefangenen“ oder „Öffentlichkeitsarbeit“ verantwortlich sind. Dem Schura Rat sind zudem zehn Kommissionen angegliedert, in denen über spezielle Themen beraten wird.
Die Taliban verfügen über eine Vielzahl von Kämpfern auf der untersten Hierarchieebene, die teilweise von lokalen Paschtunen-Stämmen organisiert sind und als Kampfverbände handeln. Für die Planung und Durchführung der militärischen Operationen, die Rekrutierung von Mudschahedin in Afghanistan und die Ausbildung der Kämpfer in Trainingslagern ist die Kommission für militärische Angelegenheiten zuständig, der die Militärführer aller afghanischen Provinzen angehören.
Zur Umsetzung ihrer Ziele begehen die Taliban - räumlich auf das Staatsgebiet von Afghanistan beschränkt - Selbstmordattentate, Minen- und Bombenanschläge, Entführungen, Geiselnahmen und gezielte Tötungen. Angriffsziele sind sowohl die ausländischen „Invasoren“, insbesondere die früheren ISAF-Kräfte, als auch die politischen und religiösen Führer des afghanischen Staates, die afghanische Armee sowie die Polizei. Bei den Aktionen der Taliban, die über moderne Waffen und Kommunikationsmittel verfügen, kommt es häufig auch zu zahlreichen Opfern unter der Zivilbevölkerung, die von den Taliban zu Propagandazwecken genutzt werden.
Die Taliban finanzieren sich auf lokaler Ebene sowohl durch Spenden und Sachmittel der örtlichen Stammesstrukturen und religiösen Gemeinschaften als auch durch kriminelle Aktivitäten wie Schmuggel, Schutzgelderpressungen und Entführungen. Auf überregionaler Ebene bildet neben Spenden aus dem In- und Ausland der Drogenhandel die Haupteinnahmequelle der Organisation.
bb) Der Beschuldigte schloss sich im Jahr 2013 den Taliban an. Es ist bislang unklar, ob er zu diesem Zeitpunkt noch strafunmündig war; jedenfalls war er nach seinem 14. Geburtstag am 22. Mai 2013 noch mindestens eineinhalb Jahre lang Mitglied der Vereinigung. Er wurde zunächst in einem Trainingscamp in Afghanistan ausgebildet und erlernte Kampftechniken sowie den Umgang mit Waffen. Im Anschluss daran erhielt er von seinem Kommandanten ein vollautomatisches Sturmgewehr des Typs AK 47 (Kalaschnikow). Anfang 2014 wurde er nach Pakistan verlegt und bekam dort sechs Monate lang Islamunterricht. Danach kehrte er nach Afghanistan zurück und wurde in der Stadt Baghlan stationiert. Dort nahm er, mit seinem Sturmgewehr bewaffnet, an zumindest drei Kampfeinsätzen gegen die afghanische Polizei und Armee teil.
b) Der dringende Tatverdacht beruht im Hinblick auf die terroristische Vereinigung der Taliban auf den diesbezüglichen Auswerteberichten des Bundeskriminalamtes. Hinsichtlich der mitgliedschaftlichen Beteiligungshandlungen des Beschuldigten, namentlich seiner Teilnahme an den Kampfeinsätzen, ergibt sich der dringende Tatverdacht aus dessen geständigen Angaben bei seiner polizeilichen Vernehmung vom 17. November 2016. Diese sind glaubhaft; sie stehen insbesondere in Einklang mit Lichtbildern, auf denen der Beschuldigte mit einer Kalaschnikow bewaffnet und mit umgehängtem Patronengurt zu sehen ist.
c) Danach hat sich der Beschuldigte mit hoher Wahrscheinlichkeit als Mitglied an einer terroristischen Vereinigung im Ausland beteiligt, strafbar gemäß § 129a Abs. 1 Nr. 1, § 129b Abs. 1 Sätze 1 und 2 StGB, §§ 1, 3 JGG.
Er war seit seinem 14. Geburtstag am 22. Mai 2013 strafrechtlich verantwortlich im Sinne der §§ 1, 3 JGG. Es ist davon auszugehen, dass er nach seiner sittlichen und geistigen Entwicklung reif genug war, das Unrecht seines Handelns einzusehen und nach dieser Einsicht zu handeln, zumindest seitdem er im Anschluss an seinen Aufenthalt in Pakistan im Jahr 2014 nach Afghanistan zurückgekehrt war und sich dort an Kampfeinsätzen beteiligte, bei denen er selbst gezielt auf Menschen schoss.
Demgegenüber kommt es entgegen der von dem Verteidiger vertretenen Ansicht aus Rechtsgründen nicht in Betracht, dem Beschuldigten im Hinblick auf die politischen Verhältnisse in Afghanistan sowie darauf, dass er möglicherweise erst 13 Jahre alt war, als er sich den Taliban anschloss, „im Rahmen einer Gesamtabwägung“ die Schuldfähigkeit abzusprechen. Im Gegensatz zu der von dem Verteidiger vertretenen Auffassung ist es in diesem Zusammenhang auch ohne Bedeutung, dass gemäß Art. 38 Abs. 3 Satz 1 der UN-Kinderrechtskonvention die Vertragsstaaten „davon Abstand nehmen“, Personen, die das fünfzehnte Lebensjahr noch nicht vollendet haben, zu ihren Streitkräften einzuziehen. Das lässt die Verantwortlichkeit des Beschuldigten ebenso unberührt wie der Umstand, dass derjenige, der im Zusammenhang mit internationalen oder nichtinternationalen bewaffneten Konflikten sog. Kindersoldaten rekrutiert bzw. zur aktiven Teilnahme an Feindseligkeiten verwendet, ein Kriegsverbrechen im Sinne von Art. 8 Abs. 2 Buchst. b xxvi bzw. Art 8 Abs. 2 Buchst. e vii IStGHStatut und § 8 Abs. 1 Nr. 5 VStGB begeht.
Der dringende Tatverdacht der Mitgliedschaft in einer außereuropäischen terroristischen Vereinigung trägt die Fortdauer der Untersuchungshaft. Ob und inwieweit sich aus der Teilnahme des Beschuldigten an Kampfeinsätzen ein konkretisierbarer (vgl. dazu BGH, Beschluss vom 17. Dezember 2015 - StB 15/15, NStZ 2016, 745, 746) Tatverdacht wegen zumindest versuchter Tötungsdelikte im Sinne der §§ 211, 212 StGB ergibt, die bislang nicht Gegenstand des Haftbefehls sind, kann deshalb dahinstehen.
d) Die nach § 129b Abs. 1 Sätze 2 und 3 StGB erforderliche Ermächtigung zur strafrechtlichen Verfolgung von Straftaten des Beschuldigten im Zusammenhang mit der Vereinigung der Taliban liegt vor.
2. Es besteht jedenfalls der Haftgrund der Schwerkriminalität (§ 112 Abs. 3 StPO i.V.m. § 2 Abs. 2, § 72 JGG).
Der Beschuldigte hat im Falle seiner Verurteilung mit nicht unerheblichem Freiheitsentzug zu rechnen, und zwar auch in Anbetracht seines geringen Alters sowie der strafmildernd zu bewertenden konkreten Umstände, unter denen er sich den Taliban anschloss. Dem davon ausgehenden Fluchtanreiz stehen keine hinreichenden fluchthindernden Umstände entgegen. Insbesondere hat der Beschuldigte in Deutschland keine persönlichen oder gefestigten sozialen Bindungen. Deshalb ist zu erwarten, dass er sich, sollte er in Freiheit gelangen, dem Strafverfahren entziehen wird. Zumindest begründen die genannten Umstände die Gefahr, dass die Ahndung der Tat ohne die weitere Inhaftierung des Beschuldigten vereitelt werden könnte, so dass die Fortdauer der Untersuchungshaft auch bei der gebotenen restriktiven Auslegung der Vorschrift (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 59. Aufl., § 112 Rn. 37 mwN) auf den Haftgrund der Schwerkriminalität gemäß § 112 Abs. 3 StPO zu stützen ist.
Eine vorläufige Anordnung über die Erziehung oder andere Maßnahmen (§ 72 Abs. 1 Sätze 1 und 3, § 71 JGG) sind nicht geeignet, den Zweck der Untersuchungshaft in gleicher Weise zu erfüllen (§ 72 Abs. 4 JGG). Der Erlass eines Unterbringungsbefehls gemäß § 71 Abs. 2 JGG oder eine mit Auflagen nach § 116 StPO, § 2 Abs. 2 JGG verbundene Haftverschonung kommen nicht in Betracht. Nach einer Mitteilung des Stadtjugendamtes S. ist eine Unterbringung des Beschuldigten in einem Heim der Jugendhilfe nicht möglich. Im Übrigen erfordern diese Maßnahmen die Gewissheit, dass der Betroffene für sie zugänglich ist; davon kann im Hinblick auf den Beschuldigten jedenfalls zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht sicher ausgegangen werden. Heime der Jugendhilfe sind zudem nicht in gleicher Weise fluchtsicher wie Jugendhaftanstalten.
3. Schließlich steht der weitere Vollzug der Untersuchungshaft auch unter Berücksichtigung der besonderen Belastungen, die dieser für den Beschuldigten zur Folge hat, zurzeit noch nicht außer Verhältnis zu der Bedeutung der Sache und der im Falle der Verurteilung zu erwartenden Strafe (§ 120 Abs. 1 Satz 1 StPO, § 72 Abs. 1 Satz 2 JGG).
4. Bei dieser Sachlage bestand für die von dem Beschuldigten beantragte mündliche Verhandlung (§ 118 Abs. 2 StPO) keine Veranlassung.
HRRS-Nummer: HRRS 2017 Nr. 224
Bearbeiter: Christian Becker