HRRS-Nummer: HRRS 2016 Nr. 782
Bearbeiter: Christian Becker
Zitiervorschlag: BGH, StB 21/16, Beschluss v. 14.07.2016, HRRS 2016 Nr. 782
Die Beschwerde des Angeklagten gegen den Haftbefehl des Oberlandesgerichts Stuttgart vom 8. Juli 2015 (6 - 2 StE 8/15) in Gestalt des Haftfortdauerbeschlusses vom 17. Mai 2016 (3 - 2 StE 8/15) wird verworfen.
Der Beschwerdeführer hat die Kosten seines Rechtsmittels zu tragen.
Der Angeklagte wurde am 18. Oktober 2014 festgenommen und befindet sich seitdem im vorliegenden Strafverfahren ununterbrochen in Untersuchungshaft, zunächst auf Grund des Haftbefehls des Ermittlungsrichters des Bundesgerichtshofs vom 19. Oktober 2014 (2 BGs 474/14) und seit dem 8. Juli 2015 auf Grund des Beschlusses des Oberlandesgerichts Stuttgart, mit dem dieses den Haftbefehl des Ermittlungsrichters des Bundesgerichtshofs aufgehoben und durch den angefochtenen Haftbefehl ersetzt hat. Zuvor hatte der Senat bereits mit Beschlüssen vom 19. Mai 2015 (AK 10/15, NStZ-RR 2015, 242) und vom 19. September 2015 (AK 28/15) die Fortdauer der Untersuchungshaft angeordnet.
Gegenstand des Haftbefehls ist der Vorwurf, der Beschuldigte habe in zwei Fällen eine Vereinigung im außereuropäischen Ausland unterstützt, deren Zwecke und deren Tätigkeit darauf gerichtet sind, Mord (§ 211 StGB) oder Totschlag (§ 212 StGB) zu begehen (strafbar gemäß § 129a Abs. 5 Satz 1, § 129b Abs. 1 Satz 1 und 2 StGB), indem er bei einer Reise nach Syrien im April/Mai 2013 fünf gebrauchte Krankenwagen an die „Ahrar al Sham“ überbracht und ab Dezember 2013 von Deutschland aus die Lieferung von Stiefeln, Militärparkas und Militärhemden im Gesamtwert von 133.000 € über die Türkei nach Syrien an die „Ahrar al Sham“ organisiert habe.
Am 16. Juni 2015 hat der Generalbundesanwalt - unter anderem - wegen der im Haftbefehl genannten Vorwürfe gegen den Angeklagten und drei Mitangeklagte Anklage vor dem Oberlandesgericht Stuttgart erhoben. Der 3. Strafsenat dieses Gerichts hat mit Beschluss vom 25. September 2015 die Anklage zugelassen und das Hauptverfahren eröffnet. Die Hauptverhandlung hat am 8. Dezember 2015 begonnen und ist - an in der Regel zwei wöchentlichen Hauptverhandlungstagen - bisher an 27 Tagen durchgeführt worden. Weitere Termine sind bestimmt. Derzeit kann indes wegen der Erkrankung des Vorsitzenden des 3. Strafsenats des Oberlandesgerichts nicht verhandelt werden; dieser Senat hat deshalb mit Beschluss vom 23. Juni 2016 gemäß § 229 Abs. 3 Satz 2 StPO festgestellt, dass der Lauf der Unterbrechungsfrist seit dem 20. Juni 2016 gehemmt ist.
Mit Schriftsatz seiner Verteidiger vom 6. Juni 2016 hat der Angeklagte Beschwerde gegen den Haftbefehl eingelegt und beantragt, diesen in Gestalt der Haftfortdauerentscheidung des Senats vom 17. Mai 2016 aufzuheben.
Der Generalbundesanwalt hat beantragt, die Beschwerde als unbegründet zu verwerfen.
Das Rechtsmittel hat keinen Erfolg.
1. Gegen den Angeklagten besteht weiterhin der in dem angefochtenen Haftbefehl angenommene dringende Tatverdacht der Unterstützung einer terroristischen Vereinigung in zwei Fällen. Sein Beschwerdevorbringen ist nicht geeignet, ein anderes Ergebnis zu rechtfertigen. Insofern gilt:
a) Nach der ständigen Rechtsprechung des Senats unterliegt die Beurteilung des dringenden Tatverdachts, die das erkennende Gericht während laufender Hauptverhandlung vornimmt, im Haftbeschwerdeverfahren nur in eingeschränktem Umfang der Nachprüfung durch das Beschwerdegericht (vgl. Beschlüsse vom 5. Februar 2015 - StB 1/15, BGHR StPO § 304 Abs. 4 Haftbefehl 3; vom 22. Oktober 2012 - StB 12/12, NJW 2013, 247, 248; jeweils mwN). Allein das Gericht, vor dem die Beweisaufnahme stattfindet, ist in der Lage, deren Ergebnisse aus eigener Anschauung festzustellen und zu würdigen sowie auf dieser Grundlage zu bewerten, ob der dringende Tatverdacht nach dem erreichten Verfahrensstand noch fortbesteht oder ob dies nicht der Fall ist. Demgegenüber verfügt das Beschwerdegericht über keine eigenen, unmittelbaren Erkenntnisse über den Verlauf der Beweisaufnahme. Es muss allerdings in die Lage versetzt werden, seine Entscheidung über das Rechtsmittel des Angeklagten auf einer hinreichend tragfähigen tatsächlichen Grundlage zu treffen, um den erhöhten Anforderungen, die nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts an die Begründungstiefe von Haftfortdauerentscheidungen zu stellen sind, ausreichend Rechnung tragen zu können. Daraus kann indes nicht gefolgert werden, das Tatgericht müsse alle bislang erhobenen Beweise in der von ihm zu treffenden Entscheidung einer umfassenden Darstellung und Würdigung unterziehen. Seine abschließende Bewertung der Beweise und ihre entsprechende Darlegung bleibt den Urteilsgründen vorbehalten. Das Haftbeschwerdeverfahren führt insoweit nicht zu einem über die Nachprüfung des dringenden Tatverdachts hinausgehenden Zwischenverfahren, in dem sich das Oberlandesgericht zu Inhalt und Ergebnis aller Beweiserhebungen erklären müsste (vgl. zuletzt BGH, Beschluss vom 21. April 2016 - StB 5/16, NStZ-RR 2016, 217 mwN).
b) Gemessen an diesen Maßstäben ist die durch den Haftfortdauerbeschluss vom 17. Mai 2016 und durch den Nichtabhilfebeschluss vom 10. Juni 2016 näher begründete Bewertung des Oberlandesgerichts, dass der dringende Tatverdacht der Unterstützung einer ausländischen terroristischen Vereinigung in zwei Fällen gegen den Angeklagten weiterhin besteht, nicht zu beanstanden. Auf die Ausführungen in den Gründen dieser Entscheidungen wird Bezug genommen. Wie sich daraus im Einzelnen ergibt, stellen die Ergebnisse der bisherigen Beweisaufnahme das Vorliegen eines dringenden Tatverdachts nach vorläufiger Bewertung nicht in Frage, haben es vielmehr bestätigt. Auch unter Berücksichtigung des Beschwerdevorbringens, das sich ohnehin nur mit einem der Fälle befasst und insoweit auf der Grundlage einer eigenen Würdigung der Beweismittel zu einer anderen Bewertung des vorläufigen Beweisergebnisses gelangt, ergeben sich für den erkennenden Senat keine greifbaren Anhaltspunkte, die es rechtfertigen könnten, von der - keine Unplausibilitäten enthaltenden - Bewertung des bisher erzielten Kenntnisstandes sowie der noch nicht erhobenen Beweise durch das Oberlandesgericht abzuweichen und in eigener Einschätzung der Beweislage den dringenden Tatverdacht zu verneinen.
2. Zutreffend ist auch die Bewertung des Oberlandesgerichts, gegen den Angeklagten bestehe - neben dem Haftgrund der Schwerkriminalität gemäß § 112 Abs. 3 StPO - weiterhin der Haftgrund der Fluchtgefahr gemäß § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO. Der auch unter Berücksichtigung der Anrechnung der vollzogenen Untersuchungshaft auf die eventuelle Strafe (§ 51 Abs. 1 Satz 1 StGB) gegebene erhebliche Fluchtanreiz wird nicht durch fluchthindernde Gründe von Gewicht kompensiert: Der Angeklagte hat als libanesischer Staatsangehöriger verwandtschaftliche Beziehungen in sein Heimatland, in dem seine Eltern und mehrere Geschwister wohnen, und unterhält vielfache Kontakte ins Ausland, unter anderem zu Personen, die seine radikalislamistischen Ansichten teilen und im Umfeld jihadistischer Gruppierungen in Syrien agieren. Im Fall einer Flucht aus Deutschland könnte der Angeklagte mit der Unterstützung dieser Personen rechnen.
Die genannten Gründe wiegen so schwer, dass weniger einschneidende Maßnahmen nach § 116 Abs. 1 StPO die Erwartung nicht zu begründen vermögen, der Zweck der Untersuchungshaft könne auch ohne ihren Vollzug erreicht werden. Eine Aussetzung des Vollzugs des Haftbefehls kommt deshalb nicht in Betracht.
3. Die Untersuchungshaft hat mit Blick auf das Spannungsverhältnis zwischen dem Freiheitsanspruch des Angeklagten und dem Interesse der Allgemeinheit an einer effektiven Strafverfolgung bei Berücksichtigung und Abwägung der gegebenen Besonderheiten des vorliegenden Verfahrens - auch angesichts der bereits ein Jahr und neun Monate währenden Untersuchungshaft und der zu erwartenden Gesamtdauer des Verfahrens - fortzudauern. Ihr weiterer Vollzug steht auch nicht außer Verhältnis zu der Bedeutung der Sache und der zu erwartenden Strafe (§ 120 Abs. 1 Satz 1 StPO).
a) Hierbei ist das Recht des Einzelnen auf persönliche Freiheit, das in Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG gewährleistet wird, in besonderer Weise zu beachten. Wegen der Unschuldsvermutung, die ihre Wurzel im Rechtsstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 3 GG hat und auch in Art. 6 Abs. 2 EMRK ausdrücklich hervorgehoben ist, kann der Entzug der Freiheit eines der Straftat lediglich Verdächtigen nur ausnahmsweise zulässig sein. Der Freiheitsanspruch des noch nicht rechtskräftig verurteilten Beschuldigten muss den vom Standpunkt der Strafverfolgung aus erforderlich und zweckmäßig erscheinenden Freiheitsbeschränkungen als Korrektiv gegenübergestellt werden; dabei kommt dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit eine maßgebliche Bedeutung zu.
Dieser ist nicht nur für die Anordnung, sondern auch für die Dauer der Untersuchungshaft von Bedeutung und verlangt, dass diese nicht außer Verhältnis zu der zu erwartenden Strafe steht; er setzt ihr auch unabhängig von der Straferwartung Grenzen. Gegenüber dem Interesse an einer wirksamen Strafverfolgung vergrößert sich das Gewicht des Freiheitsanspruchs regelmäßig mit zunehmender Länge der Untersuchungshaft. Daraus folgt, dass die Anforderungen an die Zügigkeit der Arbeit in einer Haftsache mit der Dauer der Untersuchungshaft steigen. Zudem nehmen auch die Anforderungen an den die Haftfortdauer rechtfertigenden Grund zu.
Das verfassungsrechtlich verankerte Beschleunigungsgebot in Haftsachen verlangt, dass die Strafverfolgungsbehörden und Strafgerichte alle möglichen und zumutbaren Maßnahmen ergreifen, um die notwendigen Ermittlungen mit der gebotenen Schnelligkeit abzuschließen sowie eine gerichtliche Entscheidung über die einem Beschuldigten vorgeworfenen Taten herbeizuführen. Zur Durchführung eines geordneten Strafverfahrens und einer Sicherstellung der etwaigen späteren Strafvollstreckung kann die Untersuchungshaft deshalb nicht mehr als notwendig anerkannt werden, wenn ihre Fortdauer durch vermeidbare Verfahrensverzögerungen verursacht ist. Bei absehbar umfangreicheren Verfahren ist daher stets eine vorausschauende, auch größere Zeiträume umgreifende Planung und Durchführung der Hauptverhandlung mit im Grundsatz durchschnittlich mehr als einem Hauptverhandlungstag pro Woche notwendig. Von dem Beschuldigten nicht zu vertretende, sachlich nicht gerechtfertigte und vermeidbare erhebliche Verfahrensverzögerungen stehen regelmäßig einer weiteren Aufrechterhaltung der Untersuchungshaft entgegen. Bei der Abwägung zwischen dem Freiheitsanspruch und dem Strafverfolgungsinteresse kommt es in erster Linie auf die durch objektive Kriterien bestimmte Angemessenheit der Verfahrensdauer an, die etwa von der Komplexität der Rechtssache, der Vielzahl der beteiligten Personen oder dem Verhalten der Verteidigung abhängig sein kann. Dies macht eine auf den Einzelfall bezogene Prüfung des Verfahrensablaufs erforderlich. Zu würdigen sind auch die voraussichtliche Gesamtdauer des Verfahrens und die für den Fall einer Verurteilung konkret im Raum stehende Straferwartung (st. Rspr.; vgl. etwa BVerfG, Beschluss vom 17. Januar 2013 - 2 BvR 2098/12, juris Rn. 39 ff. mwN; BGH, Beschluss vom 21. April 2016 - StB 5/16, NStZ-RR 2016, 217).
b) Daran gemessen ist der Haftbefehl gegen den Angeklagten aufrechtzuerhalten und die Untersuchungshaft weiter zu vollziehen. Der Generalbundesanwalt hat nach der Festnahme des Angeklagten am 18. Oktober 2014 die Ermittlungen mit der in Haftsachen gebotenen Beschleunigung abgeschlossen. Er hat unter dem 10. Juni 2015 Anklage gegen den Angeklagten und drei Mitangeklagte vor dem Oberlandesgericht Stuttgart erhoben. Die Durchführung des Zwischenverfahrens und der bisherige Verlauf der Hauptverhandlung lassen erhebliche vermeidbare Verzögerungen (vgl. hierzu BVerfG, Beschluss vom 13. Mai 2009 - 2 BvR 388/09, BVerfGK 15, 474, 480 f.) ebenfalls nicht erkennen. Aus dem Haftfortdauerbeschluss vom 17. Mai 2016 und der Nichtabhilfeentscheidung vom 10. Juni 2016 ist insbesondere hinreichend ersichtlich, dass das Oberlandesgericht seine Hauptverhandlung in der in Haftsachen gebotenen zügigen Verfahrensweise durchgeführt, insbesondere eine Vielzahl von Beweisen - teils auch im Wege der Durchführung von Selbstleseverfahren - erhoben und damit das von ihm als erforderlich angesehene Beweisprogramm abgeschlossen hat. Auf die Ausführungen des Oberlandesgerichts hierzu wird Bezug genommen. Anhaltspunkte dafür, dass diese den Verlauf der Hauptverhandlung nicht zutreffend wiedergeben, bestehen nicht. Bedeutsame Verzögerungen oder Versäumnisse, die die Fortdauer der Untersuchungshaft mit Blick auf den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit hindern würden, sind damit nicht ersichtlich.
HRRS-Nummer: HRRS 2016 Nr. 782
Bearbeiter: Christian Becker