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HRRS-Nummer: HRRS 2017 Nr. 504

Bearbeiter: Christoph Henckel/Karsten Gaede

Zitiervorschlag: BGH, 2 StR 463/16, Beschluss v. 11.01.2017, HRRS 2017 Nr. 504


BGH 2 StR 463/16 - Beschluss vom 11. Januar 2017 (LG Frankfurt a. M.)

Tatrichterliche Beweiswürdigung (erforderliche Gesamtwürdigung aller Beweise: Glaubhaftigkeit einer belastenden Aussage).

§ 261 StPO

Entscheidungstenor

1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Frankfurt am Main vom 10. Mai 2016 mit den Feststellungen aufgehoben.

2. Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Vergewaltigung in zwei Fällen, jeweils in Tateinheit mit vorsätzlicher Körperverletzung, sowie in einem Fall in Tatmehrheit mit Nötigung in Tateinheit mit vorsätzlicher Körperverletzung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von fünf Jahren und sechs Monaten verurteilt. Die auf die Verletzung materiellen Rechts gestützte Revision des Angeklagten hat Erfolg.

I.

Die Beweiswürdigung des Landgerichts, mit dem sich dieses von der Begehung der beiden Tatgeschehen am 1. März 2014 und 7. Oktober 2015 durch den Angeklagten überzeugt hat, hält einer rechtlichen Nachprüfung nicht stand.

Die Beweiswürdigung ist zwar grundsätzlich Sache des Tatgerichts; der revisionsgerichtlichen Überprüfung unterliegt aber, ob dem Tatgericht dabei Rechtsfehler unterlaufen sind. Dies ist etwa der Fall, wenn die Beweiswürdigung widersprüchlich, unklar oder lückenhaft ist, gegen Denkgesetze oder gesicherte Erfahrungssätze verstößt (st. Rspr.; vgl. BGH, Urteil vom 30. März 2004 - 1 StR 354/03, NStZ-RR 2004, 238; Urteil vom 11. Januar 2005 - 1 StR 478/04, NStZ-RR 2005, 147; Urteil vom 2. Dezember 2005 - 5 StR 119/05, NJW 2006, 925, 928) oder wenn die einzelnen Beweisergebnisse nur isoliert gewertet und nicht in eine umfassende Gesamtwürdigung eingestellt wurden (st. Rspr.; vgl. BGH, Urteil vom 10. Dezember 1986 - 3 StR 500/86, BGHR StPO § 261 Beweiswürdigung 2; Urteil vom 14. August 1996 - 3 StR 183/96, BGHR StPO § 261 Beweiswürdigung 11; Senat, Urteil vom 17. September 1986 - 2 StR 353/86, BGHR StPO § 261 Beweiswürdigung, unzureichende 1; Urteil vom 12. September 2001 - 2 StR 172/01, NStZ 2002, 48; BGH, Urteil vom 30. März 2004 - 1 StR 354/03, NStZ-RR 2004, 238; Senat, Beschluss vom 27. September 2012 - 2 StR 349/12, NStZ-RR 2013, 51). Solche Rechtsfehler liegen sowohl hinsichtlich der Tat vom 1. März 2014 wie auch vom 7. Oktober 2015 vor.

1. a) Hinsichtlich der Vergewaltigung der Zeugin W. am 1. März 2014 hat das Landgericht die Einlassung des Angeklagten als widerlegt angesehen und sich insoweit auf die Angaben der Geschädigten zum Tatgeschehen gestützt, die durch das Ergebnis der weiteren Beweisaufnahme bestätigt worden seien (UA S. 28 ff.). Dabei hat es einzelnen Abweichungen in den Angaben der Zeugin bei ihren Aussagen vor der Polizei, gegenüber der sachverständigen Zeugin Dr. P. und in der Hauptverhandlung keine Bedeutung für die Glaubhaftigkeit beigemessen. So hat das Landgericht in der erstmals in der Hauptverhandlung erfolgten Schilderung, sie habe (vor der späteren Vergewaltigung) selbst ihren Gürtel ausgezogen und auch ihre Hose, Strumpfhose und Slip zunächst ein Stück weit nach unten gezogen, bevor der Angeklagte ihre Kleidung sodann bis zu den Knien ausgezogen habe, eine „Präzisierung“ ihrer früheren Angaben gesehen, wonach der Angeklagte ihr die Kleidung ausgezogen habe. Dass die Zeugin unmittelbar nach der Tat vom 1. März 2014 angegeben hat, den Angeklagten vormittags im Nordwest-Zentrum (und nicht - wie festgestellt - im Bahnhofsviertel) getroffen zu haben, hat die Strafkammer unter Berücksichtigung, dass sie dies in der anschließenden ausführlichen Vernehmung vom 20. August 2014 klargestellt habe, mit dem Hinweis erklärt, dass es bei ihr unter dem Eindruck der Tat offensichtlich zu Erinnerungsdefiziten gekommen sei. Soweit das Tatopfer gegenüber der sachverständigen Zeugin Dr. P. bei ihrer körperlichen Untersuchung unmittelbar nach der Tat angegeben hat, der Angeklagte habe die Wohnung verschlossen, sie auf die Couch gedrückt, am Hals gewürgt und anschließend gegen ihren Willen ca. fünf Minuten den ungeschützten vaginalen Geschlechtsverkehr vollzogen, hat die Strafkammer diese abweichenden Angaben, von der sie sich in der Hauptverhandlung ausdrücklich distanziert habe, mit der „ambivalenten psychischen Verfassung der Geschädigten“ erklärt; diese habe in keiner ihrer zahlreichen nachfolgenden Vernehmungen von einem „Würgen“ seitens des Angeklagten gesprochen, es habe sich bei ihren Erstangaben um eine „Reaktion in einer äußerst emotional aufgeladenen Situation auf das Tatgeschehen“ und nicht etwa um eine bewusste Falschbelastung gehandelt. Im Ergebnis ist das Landgericht davon ausgegangen, dass die Angaben der Zeugin W. zum eigentlichen Tatgeschehen mit Ausnahme ihrer Angaben gegenüber der Zeugin Dr. P. konstant seien, obwohl sie mehrfach ausführlich im Verlauf des Verfahrens befragt worden sei, was „deutlich zu ihren Gunsten“ zu würdigen gewesen sei (UA S. 34). Zudem sei bei ihren Angaben, die indiziell durch weitere Zeugen, die die Geschädigte nach der Tat in einer erkennbar emotional belasteten Situation erlebt hätten, bestätigt worden seien, keinerlei Belastungstendenz zu erkennen.

b) Diese Würdigung der Aussage der Zeugin W. erweist sich als rechtsfehlerhaft, weil sie die gebotene Gesamtwürdigung aller für und gegen die Glaubhaftigkeit einer Zeugenaussage sprechenden Umstände nicht vorgenommen hat. Der formelhafte Hinweis der Strafkammer am Ende der Beweiswürdigung (nach der Würdigung der Angaben zum zweiten Tatgeschehen, UA S. 46), dem sich eine Erklärung der Tat(en) aus psychologischer Sicht und ein Vergleich mit dieser Tat und einem vergleichbaren (nicht angeklagten) Vorfall anschließt, räumt nicht die Besorgnis des Senats aus, das Landgericht habe tatsächlich nicht alle gegen die Zuverlässigkeit der Zeugenangaben sprechenden Umstände in den Blick genommen und gewogen.

Einige bedeutsame Umstände werden außer Betracht gelassen. So hat die Strafkammer bei ihrer Würdigung nicht ausdrücklich einbezogen, dass die Zeugin in der Hauptverhandlung angegeben hat, sie habe den Angeklagten erstmalig am 31. Dezember 2013 kennen gelernt und ihn erst am Tattag wieder gesehen, und sie diesen Angaben nicht gefolgt ist (UA S. 19 f.). Sie hat auch nicht erkennbar in den Blick genommen, dass die Zeugin W. (offenbar) auch noch in der Hauptverhandlung berichtete, sie habe von dem Angeklagten am 31. Dezember 2013 Bargeld in Höhe von 300,- € zum Drogenerwerb erhalten und sei dazu von der Wohnung des Angeklagten in der Nordweststadt ins Bahnhofsviertel und zurückgefahren, und sie diese Angaben den Feststellungen nicht zugrunde gelegt hat. Solche gegen die Annahme von Aussagekonstanz durften bei einer Würdigung der Glaubhaftigkeit der Zeugenangaben nicht unberücksichtigt bleiben.

Soweit die Strafkammer sich im Rahmen ihrer Würdigung mit den einzelnen gegen die Glaubhaftigkeit sprechenden Umständen auseinander gesetzt hat, geschieht dies jeweils nur isoliert, ohne sich gesamtwürdigend mit der Frage zu befassen, ob die Hypothese einer Falschbelastung mit Blick auf Abweichungen in verschiedenen Aussagen und widersprüchliche Angaben der Zeugin in der Hauptverhandlung tatsächlich widerlegt werden kann. Die Erklärungsversuche der Strafkammer für einzelne abweichende oder zum Teil widerlegte Angaben der Zeugin sind spekulativ, wenn das Landgericht anführt, es habe nicht (vollständig) ausschließen können, dass es unter dem Einfluss der Tat zu Angaben der Zeugin gekommen sei, die auf einer unbewussten Verwechslung, fehlerhaften Erinnerung oder Erinnerungsdefiziten infolge des Schocks über das Erlebte basierten, oder dass es bei der Vernehmung zu sprachlichen Missverständnissen gekommen sei. Sie versperren auch den Blick auf eine umfängliche Würdigung der auf das gesamte Tatgeschehen (einschließlich der Vorgeschichte) bezogenen Aussage, ihrer Entstehung und Entwicklung sowie der ihr zugrunde liegenden Motivlage und lassen eine unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs angezeigte differenzierte Glaubwürdigkeitsbeurteilung der Zeugenangaben vermissen.

Auf diesem Mangel beruht die Verurteilung hinsichtlich der Tat vom 1. März 2014. Der Senat kann trotz der für eine Tatbegehung sprechenden Umstände nicht ausschließen, dass das Tatgericht bei einer umfassenden Gesamtwürdigung zu einer anderen Beurteilung der Angaben der Zeugin W. gelangt wäre und den Angeklagten insoweit freigesprochen hätte.

2. a) Ihre Überzeugung von der Tat vom 7. Oktober 2015 hat die Strafkammer auf die Angaben der Geschädigten M. gestützt. Sie hat sich dabei auf die zum Tatgeschehen konstanten Aussagen der Zeugin bezogen und festgestellte Divergenzen (Anlass der Auseinandersetzung mit dem Angeklagten, Details der körperlichen Auseinandersetzung) als unbeachtlich angesehen (UA S. 39). Das Landgericht hat zudem in den Blick genommen, dass ihre Angaben zu ihrer Bekanntschaft mit dem Angeklagten, die sie - trotz von der Kammer festgestellter Intimkontakte - vollständig verleugnete, mit Blick auf Aussagen neutraler Zeugen unzutreffend gewesen seien (UA S. 43). Es hat aus diesem Grund eine besonders kritische Würdigung der Aussage vorgenommen und ist aufgrund einer „Gesamtwürdigung sämtlicher Indizien“ zu der Überzeugung gelangt, dass die Angaben der Zeugin zum Ablauf der Tat den Urteilsfeststellungen zugrunde gelegt werden konnten. Dabei hat sie als indizielle Bestätigung der Angaben die Aussage der Zeugin I., die Hilferufe der Geschädigten vernommen hatte, in Augenschein genommene Lichtbilder von den Verletzungen der Geschädigten sowie DNA- und Spermaspuren des Angeklagten an Abstrichproben der Zeugin herangezogen und zudem berücksichtigt, dass die Geschädigte bei ihrer an die Zeugin gerichteten Bitte, die Polizei zu verständigen, zunächst nur von der Entwendung ihres Mobiltelefons, nicht aber von der Vergewaltigung gesprochen hatte. Schließlich hat sie im Rahmen ihrer Gesamtwürdigung als wesentlichen Aspekt den Umstand herangezogen, dass beide Taten wie auch der festgestellte, nicht verfahrensgegenständliche Geschehensablauf vom 17. Februar 2014 zum Nachteil der Zeugin Pa. gewisse Ähnlichkeiten aufweisen würden, die mit bloßem Zufall nur unzulänglich zu erklären seien.

b) Auch diese Ausführungen lassen besorgen, dass die Strafkammer die gebotene Gesamtwürdigung der Angaben der Zeugin M. nicht vorgenommen hat. Jedenfalls lässt sich den Urteilsgründen, die lediglich am Rande erwähnen, es seien keine objektiven Anhaltspunkte für eine vorsätzliche Falschbelastung ersichtlich, nicht entnehmen, dass das Landgericht bei seiner Gesamtwürdigung alle hierfür maßgeblichen Gesichtspunkte, insbesondere ihre Leugnung, den Angeklagten zu kennen, ihre unterschiedlichen Angaben auch zum Tathergang und ihre Alkoholisierung tatsächlich in den Blick genommen und eine umfassende Beurteilung der Glaubwürdigkeit der Zeugin vorgenommen hätte.

Die Beweiswürdigung erweist sich zudem als rechtsbedenklich, weil sie sich wesentlich auf die Vergleichbarkeit mit der Tat vom 1. März 2014 und mit dem Vorfall zum Nachteil der Zeugin Pa. gestützt hat. Beiden Geschehen kommt - wenn überhaupt - ein allenfalls geringer Beweiswert zu. Dies folgt hinsichtlich der Tat vom 1. März 2014 daraus, dass auch - wie oben ausgeführt - diese Beweiswürdigung rechtlichen Bedenken ausgesetzt ist. Für den weiteren Vorfall zum Nachteil der Zeugin Pa., bei dem es sich auch um den Vorwurf einer Vergewaltigung handelte, ergibt sich dies daraus, dass sich dieser Vorwurf auch aus Sicht der Strafkammer, die hinsichtlich dieses Geschehens - obwohl ein entsprechendes, allerdings lediglich wegen des Verdachts der gefährlichen Körperverletzung und der Freiheitsberaubung geführtes Strafverfahren bereits mit Beschluss vom 14. Juli 2014 nach § 153a StPO eingestellt worden war - eine eigene Beweisaufnahme durchgeführt hat, nicht bestätigen ließ (UA S. 18). Inwieweit sich daraus noch ein den Angeklagten belastender Umstand ergeben soll, erläutert das Landgericht nicht.

Diese Rechtsfehler führen hinsichtlich der Tat vom 7. Oktober 2015, also auch in Bezug auf die tatmehrheitlich zu der angenommenen Vergewaltigung hinzutretende Verurteilung von tateinheitlich mit Körperverletzung zusammentreffender Nötigung, die auch auf den Angaben der Zeugin M. beruht, zur Aufhebung der Verurteilung.

II.

Die Sache bedarf insgesamt neuer Verhandlung und Entscheidung. Für die neue Hauptverhandlung weist der Senat vorsorglich darauf hin, dass auf der Grundlage der bisher getroffenen Feststellungen auch die Annahme voll erhalten gebliebener Schuldfähigkeit hinsichtlich des Tatgeschehens vom 7. Oktober 2015 rechtlich nicht unbedenklich erscheint. Warum die konkrete Intoxikation bei dieser Tat „vor dem Gesamtbild der drei Tatgeschehen“ zu würdigen sein soll, erschließt sich nicht ohne Weiteres. Dass die Strafkammer den festgestellten Ausfallerscheinungen keine für die Annahme einer erheblich verminderten Schuldfähigkeit des Angeklagten hinreichende Bedeutung beigemessen hat, weil es sich bei dem Drogen- und Alkoholproblem nicht um den (alleinigen) Auslöser der Tat gehandelt habe, verfehlt den Maßstab bei der Prüfung der Voraussetzungen des § 21 StGB, bei der es allein um die Frage geht, ob zur Zeit der Tatbegehung aufgrund des Konsums von Drogen und Alkohol eine erhebliche Einschränkung des Hemmungsvermögens gegeben ist. Angesichts dessen wird sich der neue Tatrichter, zweckmäßigerweise unter Einschaltung eines anderen Sachverständigen, eingehender als bisher mit der Frage auseinander zu setzen haben, ob trotz einer hohen Blutalkoholkonzentration bei gleichzeitigem Konsum von Crack und trotz der durch die Angaben von Polizeibeamten belegten (teilweisen) Einschränkungen des Leistungsverhaltens des Angeklagten die Ablehnung des Vorliegens erheblich verminderter Schuldfähigkeit gerechtfertigt ist.

HRRS-Nummer: HRRS 2017 Nr. 504

Externe Fundstellen: StV 2018, 197

Bearbeiter: Christoph Henckel/Karsten Gaede