HRRS-Nummer: HRRS 2016 Nr. 1055
Bearbeiter: Christoph Henckel/Karsten Gaede
Zitiervorschlag: BGH, 2 StR 101/16, Urteil v. 07.09.2016, HRRS 2016 Nr. 1055
Auf die Revisionen der Staatsanwaltschaft und der Nebenklägerin wird das Urteil des Landgerichts Aachen vom 30. November 2015 mit den Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Rechtsmittel, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen gefährlicher Körperverletzung, Diebstahls und Freiheitsberaubung zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren verurteilt und deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt. Dagegen wenden sich die auf die Sachrüge gestützten, vom Generalbundesanwalt vertretene Revision der Staatsanwaltschaft und die Revision der Nebenklägerin. Die Rechtsmittel haben Erfolg.
1. Nach den Feststellungen des Landgerichts begann der zur Tatzeit 25-jährige Angeklagte im Alter von 17 bis 18 Jahren mit dem Konsum von Marihuana und Alkohol, im Alter von etwa 20 Jahren mit dem Konsum von Kokain, auf das Wochenende verteilt in einer Größenordnung von 5-10 Gramm. In Belgien ist er bereits mehrfach strafrechtlich in Erscheinung getreten.
In der Nacht vom 10. auf den 11. Mai 2015 zwischen 1.00 Uhr und 2.00 Uhr suchte der Angeklagte die ihm bis dahin nicht bekannte, als Prostituierte tätige Nebenklägerin H. auf. Da er neun Stunden mit dieser auf dem Zimmer verbleiben wollte, zahlte er im Voraus 1.100 Euro, was in etwa seinem Monatsgehalt entsprach. Beide verbrachten die Nacht miteinander, wobei sie wach blieben und sich auf Englisch angeregt miteinander unterhielten. Während dessen konsumierte der Angeklagte, der einen ruhigen Eindruck machte, größere Mengen Wodka und Kokain. Im Verlaufe der Nacht kam es zu einem vaginalen Geschlechtsverkehr, den der Angeklagte jedoch wegen Erektionsproblemen vorzeitig abbrach. Nachdem er der Nebenklägerin weitere 200 Euro übergeben hatte, kündigte er zwischen 9.00 Uhr und 10.00 Uhr morgens an, zur Bank gehen zu wollen und weiteres Geld zu holen, um seinen Aufenthalt bei ihr bis etwa 15.00 Uhr verlängern zu können. Bis dahin hatte er sich ruhig verhalten und keinen betrunkenen Eindruck hinterlassen. Lediglich seine Pupillen waren erweitert und seine Augen gerötet.
Völlig unvermittelt schlug der Angeklagte, der die Nebenklägerin dabei anlachte, dieser die noch teilweise gefüllte Wodkaflasche ins Gesicht. Als die Geschädigte bewusstlos am Boden lag, entschloss er sich, die Situation auszunutzen. Er nahm deren Portemonnaie mit 2.000 Euro Bargeld sowie zwei wertvolle Mobiltelefone an sich. Beim Verlassen des Zimmers schloss er die Tür von außen ab und nahm den Schlüssel mit. Gegen 12.00 Uhr wachte die Geschädigte blutüberströmt auf und es gelang ihr, durch das geöffnete Fenster Hilfe herbeizurufen. Durch den Schlag hat sie eine rechtsseitige Fraktur des zentralen Mittelgesichts, eine Alveolarfortsatzfraktur des rechten Oberkiefers sowie eine beidseitige Le Fort I Fraktur erlitten und einen Zahn verloren.
Noch vor Anklageerhebung während der Untersuchungshaft haben Angeklagter und Nebenklägerin über ihre Anwälte einen schriftlichen Täter-Opfer-Ausgleich vereinbart. Infolge dessen hat der Angeklagte 7.500 Euro an die Geschädigte gezahlt und sich in der Hauptverhandlung bei dieser entschuldigt.
2. Von einer Verurteilung wegen eines Raubdelikts hat die Strafkammer abgesehen. Der Angeklagte habe den Schlag mit der Wodkaflasche nicht widerlegbar plausibel damit erklärt, dass er in Angst und Panik verfallen sei, weil ihm in diesem Moment bewusst geworden sei, entgegen in Belgien bestehender Bewährungsauflagen Alkohol und Kokain konsumiert zu haben. Erst danach habe er sich entschlossen, das Geld und die Mobiltelefone an sich zu nehmen. Deshalb sei er - weil es an einem finalen Zusammenhang zwischen Gewalt und Wegnahme fehle - nur wegen einer gefährlichen Körperverletzung gemäß § 224 Abs. 1 Nr. 2 StGB in Tateinheit mit Diebstahl gemäß § 243 Abs. 1 Satz 2 Ziffer 6 StGB sowie - wegen des Einsperrens der bewusstlosen Geschädigten - in weiterer Tateinheit mit Freiheitsberaubung zu verurteilen.
Sachverständig beraten ist das Landgericht davon ausgegangen, dass der Angeklagte aufgrund des konsumierten Alkohols und Kokains bei Tatbegehung in seiner Steuerungsfähigkeit erheblich eingeschränkt war. Aufgrund seiner eigenen Trinkmengenangaben errechnet sich eine maximale Blutalkoholkonzentration von 4,32 Promille, hinzu kommt eine verstärkende Wirkung durch das gleichzeitig konsumierte Kokain. Eine völlige Aufhebung der Schuldfähigkeit sei jedoch trotz des rechnerisch hohen Blutalkoholwerts ausgeschlossen. Bei dem Angeklagten wurden keine Ausfallerscheinungen festgestellt und sein Vorgehen war geordnet und zielgerichtet (Suche nach Wertgegenständen, Sicherung seiner Flucht durch Verschließen des Zimmers) und im Nachhinein waren bei ihm keine wesentlichen Erinnerungslücken zu verzeichnen.
1. Der Schuldspruch hält rechtlicher Nachprüfung nicht stand.
a) Die Strafkammer stützt ihre rechtliche Bewertung auf die „nicht widerlegbare“ Einlassung des Angeklagten, den Wegnahmevorsatz erst dann gefasst zu haben, als die Geschädigte bewusstlos am Boden gelegen habe. Dabei verkennt sie bereits, dass Einlassungen, für deren Richtigkeit oder Unrichtigkeit es keine objektiven Anhaltspunkte gibt, nicht ohne Weiteres als unwiderlegbar hinzunehmen und den Feststellungen zugrunde zu legen sind. Das Tatgericht hat vielmehr auf der Grundlage des gesamten Beweisergebnisses darüber zu entscheiden, ob derartige Angaben geeignet sind, seine Überzeugungsbildung zu beeinflussen.
Eine solche Gesamtwürdigung - insbesondere mit Blick auf das Tatvorgeschehen und das Nachtatverhalten - ist den Urteilsgründen nicht zu entnehmen. Die vorangegangene Nacht war harmonisch und konfliktfrei verlaufen und der Angeklagte gab vor, seinen Aufenthalt bei der Nebenklägerin sogar verlängern zu wollen. Wieso er gerade in diesem Moment in Angst und Panik verfallen sein will, weil ihm bewusst geworden sei, durch den Konsum von Alkohol und Kokain gegen in Belgien bestehende Bewährungsauflagen verstoßen zu haben, ist nicht plausibel. Insbesondere ist nicht nachvollziehbar, wieso und auf welche Weise die Behörden und Gerichte in Belgien von seinem „Bewährungsversagen“ hätten Kenntnis erlangen sollen. Gegen eine unüberlegte, impulsive, von Panik getragene Kurzschlusshandlung und für ein eher heimtückisches Handeln spricht im Übrigen, dass der Angeklagte die Geschädigte freundlich anlachte, um dann im nächsten Moment völlig überraschend zuzuschlagen. Auch sein geordnetes und zielgerichtetes Handeln nach dem Angriff auf die Geschädigte (sofortige Suche nach Wertsachen, Mitnahme von Handys und Abschließen des Zimmers, um eine Flucht zu hindern) spricht gegen ein impulsives unüberlegtes Verhalten.
b) Darüber hinaus hat das Landgericht nicht erwogen, ob es sich bei dem überraschenden Angriff auf die Nebenklägerin um einen hinterlistigen Überfall gemäß § 224 Abs. 1 Nr. 3 StGB bzw. in Anbetracht der erheblichen Verletzungsfolgen um eine das Leben gefährdende Behandlung gemäß § 224 Abs. 1 Nr. 5 StGB gehandelt hat.
2. Schließlich wird der neu entscheidende Tatrichter aus den Gründen der Zuschrift des Generalbundesanwalts auch zu erwägen haben, ob eine Unterbringung des langjährig drogenabhängigen Angeklagten, der bei Tatbegehung erheblich unter Alkohol- und Drogeneinfluss stand, in einer Entziehungsanstalt gemäß § 64 StGB veranlasst ist.
HRRS-Nummer: HRRS 2016 Nr. 1055
Bearbeiter: Christoph Henckel/Karsten Gaede