HRRS-Nummer: HRRS 2015 Nr. 603
Bearbeiter: Christian Becker
Zitiervorschlag: BGH, AK 9/15, Beschluss v. 30.04.2015, HRRS 2015 Nr. 603
Die Untersuchungshaft hat fortzudauern.
Eine etwa weiter erforderliche Haftprüfung durch den Bundesgerichtshof findet in drei Monaten statt.
Bis zu diesem Zeitpunkt wird die Haftprüfung dem Oberlandesgericht Frankfurt am Main übertragen.
Der Angeschuldigte, ein deutscher und marokkanischer Staatsangehöriger, wurde aufgrund des Haftbefehls des Ermittlungsrichters des Bundesgerichtshofs vom 14. Oktober 2014 (2 BGs 432/14) am 15. Oktober 2014 festgenommen und befindet sich seitdem ununterbrochen in Untersuchungshaft.
Gegenstand des Haftbefehls ist der Vorwurf, der Angeschuldigte sei im Juli 2013 aus der Bundesrepublik Deutschland nach Syrien ausgereist und habe sich der dort bestehenden Organisation "Jabhat al nusra liahli ash sham (Hilfsfront für das Volk Großsyriens; JaN)" angeschlossen, deren Zwecke und deren Tätigkeiten darauf gerichtet seien, Mord (§ 211 StGB) oder Totschlag (§ 212 StGB) zu begehen. Nach einer Waffenausbildung habe er ab September 2013 bis zu seiner Rückkehr nach Deutschland im Juni 2014 in der syrischen Region Idlib die Ziele dieser Organisation dadurch gefördert, dass er in deren dort eingerichteten Kontrollposten Wachdienste verrichtet und an den Lagebesprechungen der örtlichen Kräfte teilgenommen habe (Mitgliedschaftliche Beteiligung an einer terroristischen Organisation im Ausland außerhalb der Europäischen Union, strafbar nach § 129a Abs. 1 Nr. 1, § 129b Abs. 1 Satz 1 und 2 StGB).
Wegen dieses Sachverhalts hat der Generalbundesanwalt gegen den Angeschuldigten unter dem 30. März 2015 Anklage beim Staatsschutzsenat des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main erhoben.
Die Voraussetzungen für die Fortdauer der Untersuchungshaft über sechs Monate hinaus liegen vor.
1. Der Angeschuldigte ist des ihm vorgeworfenen Tatgeschehens dringend verdächtig.
a) Nach gegenwärtigem Erkenntnisstand ist im Sinne eines dringenden Tatverdachts von folgendem Sachverhalt auszugehen:
aa) Die Vereinigung "Jabhat al nusra liahli ash sham" (im Weiteren JaN) wurde Ende 2011 von Abu Muhammad al Jawlani und anderen syrischen Mitgliedern der seinerzeitigen Organisation "Islamischer Staat im lrak" (ISI) im Auftrag des ISI-Anführers Abu Bakr al Baghdadi in Syrien gegründet und sollte als Ableger der irakischen Organisation im Nachbarland operieren. Die Gründung wurde im Januar 2012 in einem im Internet veröffentlichten Video bekannt gegeben. Zwischen den beiden Gruppierungen kam es im April 2013 zum Bruch, als al Baghdadi die Vereinigung der Teilorganisationen ISI und JaN im neu ausgerufenen "Islamischen Staat im Irak und Syrien" (ISIS) ausrief. Muhammad al Jawlani wies dies als Anführer der JaN zurück, betonte die Eigenständigkeit seiner Gruppierung und legte den Treueid auf den Emir der Kern-al Qaida, Ayman al Zawahiri, ab. Seitdem fungiert die JaN als Regionalorganisation von al Qaida in Syrien.
Ziel der JaN ist der Sturz des Assad-Regimes in Syrien, das sie durch einen islamischen Staat auf der Grundlage ihrer eigenen Interpretation der Sharia ersetzen will. Darüber hinaus erstrebt sie die "Befreiung" des historischen Großsyrien, das heißt Syriens einschließlich von Teilen der südlichen Türkei, des Libanon, Jordaniens, Israels und der palästinensischen Gebiete. Diese Ziele verfolgt die JaN mittels militärischer Operationen, aber auch durch Sprengstoffanschläge, Selbstmordattentate, Entführungen sowie gezielte Tötungen von Angehörigen des syrischen Militär- und Sicherheitsapparates. Insgesamt werden der Gruppierung bis Ende 2014 mehr als 1.500 Anschläge zugerechnet, bei denen mindestens 8.700 Menschen getötet wurden. So hat sich die JaN auch zu mehreren Selbstmordanschlägen auf Angehörige der syrischen Armee am 14. April 2014 und am 25. Mai 2014 mittels mit Sprengstoff beladener Fahrzeuge bekannt.
Die JaN ist militärisch-hierarchisch organisiert. Ihr Anführer ist weiterhin Abu Muhammad al Jawlani, dem ein aus fünf bis sechs Personen gebildeter Shura-Rat zugeordnet ist. Unterhalb dieser Führungsebene stehen die Kommandeure der kämpfenden Einheiten, die ihrerseits untergliedert sind in die vor Ort agierenden Kampfgruppen. Die Zahl der Kämpfer der JaN wird derzeit auf 4.000 bis 6.000 geschätzt. Ihre militärische Ausbildung erhalten diese in einem verzweigten Netz von Trainingslagern. Daneben gibt es Hinweise auf sogenannte "Scharia-Komitees" in den von der JaN kontrollierten Gebieten, die religiöse Angelegenheiten regeln und den Aufbau eines eigenen Justiz- und Verwaltungssystems vorantreiben. Für ihre Öffentlichkeitsarbeit bedient sich die JaN der eigenen Medienstelle "almanara albaida" ("Der weiße Leuchtturm"), über die sie im Internet Verlautbarungen, Operationsberichte und Anschlagsvideos verbreitet. Darüber hinaus unterhält sie ein Netzwerk von "Korrespondenten" in Syrien, die ihre Berichte über Twitter-Kanäle veröffentlichen.
bb) Spätestens im Juni 2013 fasste der Angeschuldigte - nach dem Namen seines Sohnes genannt "A." bzw. "Ab." - den Entschluss, nach Syrien auszureisen, um an der Seite einer der dort operierenden islamistisch geprägten Organisationen am bewaffneten Kampf gegen das Assad-Regime teilzunehmen. Am 1. Juli 2013 verließ er zusammen mit der gesondert verfolgten M., seiner Ehefrau nach islamischem Ritus, und den vier im gemeinsamen Haushalt lebenden Kindern die Bundesrepublik Deutschland und fuhr mit ihnen im Pkw über die Türkei nach Syrien. Noch im Juli 2013 wurde der Angeschuldigte dort als Mitglied in die JaN aufgenommen und erhielt von dieser zunächst eine etwa zweiwöchige Ausbildung an der Waffe, für die er sich weisungsgemäß selbst ein Gewehr Kalashnikov AK 47, ein Maschinengewehr und Handgranaten besorgte. In der Folge leistete der Angeklagte Wachdienste an den von der JaN im Raum Idlib eingerichteten Kontrollposten und beteiligte sich an den täglichen Lagebesprechungen der dortigen örtlichen Mitglieder. Anfang Januar 2014 reiste die gesondert verfolgte B. mit ihren zwei Kindern dem Angeschuldigten aus Deutschland nach Syrien nach und schloss mit diesem die Ehe als Zweitfrau nach islamischem Ritus. Von der JaN erhielt der Angeschuldigte eine Alimentation von 100 Dollar monatlich je Familie nebst Wohnung und Übernahme der Krankenversorgung.
Am 26. Juni 2014 kehrte der Angeschuldigte auf dem Luftweg über Istanbul nach Deutschland zurück. Die gesondert Verfolgten M. und B. waren bereits am 12. Juni bzw. 23. Mai 2014 zurückgereist.
b) Zum dringenden Tatverdacht nimmt der Senat Bezug auf das in der Anklageschrift des Generalbundesanwalts vom 30. März 2015 umfassend dargelegte Ergebnis der bisherigen Ermittlungen und auf die dort im Einzelnen bezeichneten Beweismittel.
c) Da der Vorwurf der mitgliedschaftlichen Beteiligung an einer ausländischen terroristischen Organisation (§ 129a Abs. 1 Nr. 1, § 129b Abs. 1 Satz 1 und 2 StGB) die Fortdauer der Untersuchungshaft trägt, lässt der Senat offen, ob dem Angeschuldigten auch, wie in der Anklageschrift angenommen, zur Last fällt, eine schwere staatsgefährdende Gewalttat vorbereitet zu haben (§ 89a Abs. 1, Abs. 2 Nr. 1 und 2 StGB).
d) Die nach § 129b Abs. 1 Satz 3 StGB erforderliche Ermächtigung zur strafrechtlichen Verfolgung von Mitgliedern oder Unterstützern der JaN, u.a. soweit sie deutsche Staatsangehörige sind, hat das Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz am 15. Juli 2013 erteilt (4030 E (985) - 21 701/2013).
2. Es besteht jedenfalls der Haftgrund der Schwerkriminalität (§ 112 Abs. 3 StPO). Nach den Umständen kann nicht ausgeschlossen werden, dass ohne den Vollzug der Untersuchungshaft die alsbaldige Ahndung und Aufklärung der Tat gefährdet wäre.
Der Angeschuldigte hat wegen des ihm vorgeworfenen Tatgeschehens mit nicht unerheblichem Freiheitsentzug zu rechnen. Seine bestehenden sozialen Bindungen an die Bundesrepublik Deutschland erscheinen nicht tragfähig genug, um den hiervon ausgehenden Fluchtanreizen verlässlich entgegenwirken zu können. Beschäftigungsverhältnisse werden nicht ersichtlich. Zwar unterhielt der Angeschuldigte zum Zeitpunkt seiner Festnahme einen gemeinsamen Wohnsitz mit der gesondert verfolgten M. und den Kindern in R. Bereits die Umstände seiner Ausreise im Juli 2013 belegen jedoch, dass dies den Angeschuldigten nicht daran hindern könnte, die Bundesrepublik Deutschland erneut zu verlassen, er dabei vielmehr mit der Unterstützung und mit der Begleitung durch seine Familie rechnen könnte. Weiter sind keine Hinweise auf eine zwischenzeitliche nachhaltige Loslösung des Angeschuldigten von der JaN erkennbar. So erklärte der Zeuge E. - der sich zur selben Zeit wie der Angeschuldigte in Syrien aufgehalten hatte - dem die Rückkehr des gemeinsamen Bekannten "A." nach Deutschland kritisierenden Zeugen Be. telefonisch: "Ich wusste schon, dass er nach hier kommen würde. Das war abgesprochen und da ist auch etwas neues, großes in Plan. Deswegen muss ich irgendwie an ihn rankommen." (Sachakte VI Bl. 97 ff.). Es ist deshalb zu besorgen, dass der Angeschuldigte weiterhin in ein Netzwerk Gleichgesinnter eingebunden ist, das ihm die Umsetzung des Entschlusses, unterzutauchen und sich weiterer Strafverfolgung zu entziehen, wesentlich erleichtern könnte.
Vor diesem Hintergrund kann der Zweck der Untersuchungshaft auch nicht durch weniger einschneidende Maßnahmen als deren Vollzug erreicht werden (§ 116 Abs. 1 StPO).
3. Die besonderen Voraussetzungen für die Fortdauer der Untersuchungshaft über sechs Monate hinaus (§ 121 Abs. 1 StPO) liegen vor. Die besondere Schwierigkeit und der Umfang des Verfahrens haben ein Urteil bislang noch nicht zugelassen.
Das sachbearbeitende Hessische Landeskriminalamt hat seine Ermittlungen am 6. Februar 2015 abgeschlossen und den Abschlussbericht vorgelegt. Daneben erforderliche Gutachten zur Vereinigung "Jabhat al nusra liahli ash sham" und zu sichergestellten Bild- und Videodateien lagen bis 16. März 2015 vollständig vor. Die unter dem 30. März 2015 gefertigte Anklageschrift des Generalbundesanwalts ging am 9. April 2015 beim zuständigen Staatsschutzsenat des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main ein. Der Vorsitzende des Staatsschutzsenats hat am 10. April 2015 deren Zustellung verfügt und eine Erklärungsfrist bis 11. Mai 2015 bestimmt.
Das Verfahren ist danach mit der in Haftsachen gebotenen Beschleunigung geführt worden.
4. Der weitere Vollzug der Untersuchungshaft steht auch nicht außer Verhältnis zur Bedeutung der Sache und der im Falle einer Verurteilung zu erwartenden Strafe.
HRRS-Nummer: HRRS 2015 Nr. 603
Bearbeiter: Christian Becker