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HRRS-Nummer: HRRS 2015 Nr. 1043

Bearbeiter: Christian Becker

Zitiervorschlag: BGH, AK 31/15, Beschluss v. 01.10.2015, HRRS 2015 Nr. 1043


BGH AK 31/15 - Beschluss vom 1. Oktober 2015

Dringender Tatverdacht wegen mitgliedschaftlicher Beteiligung an einer terroristischen Vereinigung im Ausland; Untersuchungshaft; Schwerkriminalität; Fluchtgefahr; Fortdauer der Untersuchungshaft über sechs Monate; Verhältnismäßigkeit; Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat.

§ 129a StGB; § 129b StGB; § 89a StGB; § 112 StPO; § 116 StPO; § 121 Abs. 1 StPO

Entscheidungstenor

Die Untersuchungshaft hat fortzudauern.

Eine etwa erforderliche weitere Haftprüfung durch den Bundesgerichtshof findet in drei Monaten statt.

Bis zu diesem Zeitpunkt wird die Haftprüfung dem Oberlandesgericht Düsseldorf übertragen.

Gründe

I.

Der Angeschuldigte, der deutscher und türkischer Staatsangehöriger ist, wurde am 4. März 2015 vorläufig festgenommen und befindet sich seit diesem Tag aufgrund des Haftbefehls des Ermittlungsrichters des Bundesgerichtshofs vom 20. Januar 2015 (2 BGs 24/15), der am 5. März 2015 ergänzt wurde (2 BGs 142/15), ununterbrochen in Untersuchungshaft. Gegenstand des Haftbefehls ist der Vorwurf, der Angeschuldigte habe sich spätestens seit 15. Oktober 2013 als Mitglied an der ausländischen terroristischen Vereinigung „Islamischer Staat im Irak und Großsyrien (ISIG)" beteiligt und tateinheitlich eine schwere staatsgefährdende Gewalttat vorbereitet (§ 89a Abs. 1, Abs. 2 Nr. 1 und 2, Abs. 3, Abs. 4 Satz 1, § 129a Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2 Nr. 2, § 129b Abs. 1 Satz 1 und 2, § 52 StGB). Der Generalbundesanwalt hat unter dem 11. Juni 2015 Anklage vor dem Oberlandesgericht Düsseldorf erhoben; mit dieser wirft er dem Angeschuldigten außerdem vor, aus niedrigen Beweggründen einen Menschen getötet zu haben.

II.

Die Voraussetzungen der Untersuchungshaft und ihrer Fortdauer über sechs Monate hinaus sind gegeben. Der Senat stützt seine Entscheidung allein auf die dem Angeschuldigten in den Haftbefehlen vorgeworfene Beteiligung an einer terroristischen Vereinigung im Ausland. Im Einzelnen:

1. Nach den bisherigen Ermittlungen ist im Sinne eines dringenden Tatverdachts im Wesentlichen von folgendem Sachverhalt auszugehen:

a) Die Vereinigung Islamischer Staat im Irak und in Großsyrien (ISIG) bzw. Islamischer Staat (IS):

aa) Beim Islamischen Staat im Irak und in Großsyrien (im Folgenden: ISIG) handelte es sich um eine Organisation mit militant-fundamentalistischer islamischer Ausrichtung, die es sich zum Ziel gesetzt hatte, einen das Gebiet des heutigen Irak und die historische Region „ash Sham“ - die heutigen Staaten Syrien, Libanon und Jordanien sowie Palästina - umfassenden und auf ihrer Ideologie gründenden „Gottesstaat“ zu errichten. Wer sich den Ansprüchen dieser Vereinigung entgegensetzte, wurde begriffen als „Feind des Islam"; die Tötung solcher „Feinde“ oder ihre Einschüchterung durch Gewaltakte hielt sie für ein legitimes Mittel des Kampfes.

Die Organisation geht zurück auf die von Abu Musab al Zarqawi Anfang 2004 als Widerstandsgruppe gegen die US-Präsenz im Irak gegründete „Jama'at at Tauhid wal Dschihad“ („Gemeinschaft der göttlichen Einheit und des Kampfes“). Im Oktober 2004 leistete al Zarqawi den Treueeid auf Osama bin Laden und dessen Al Qaida, worauf sich die Gruppierung umbenannte in „Tanzim Qa'idat al Jihad fi Bilad ar Rafidain“ („Organisation der Basis des Jihad im Zweistromland“) und bekannt wurde als „Al Qaida im Irak (AQI)". Im Dezember 2005 ernannte bin Laden al Zarqawi zu seinem Stellvertreter im Irak. Die AQI trat zunächst hervor mit Angriffen auf zivile Angehörige westlicher Staaten im Irak, die Opfer von Anschlägen, Entführungen und - auf sodann verbreiteten Videofilmen festgehaltenen - Hinrichtungen wurden. Ab Herbst 2005 verlegte sie sich auf medienwirksame Sprengstoffanschläge, vornehmlich in Bagdad und im Nordwestirak, aber am 9. November 2005 auch auf mehrere Hotels in Amman/Jordanien.

Anfang 2006 schloss sich die AQI zunächst unter der Dachorganisation „Schura Rat der Mudschaheddin im Irak“ mit weiteren Gruppierungen zusammen. Nach al Zarqawis Tod im Juni 2006 rief dessen Nachfolger Abu Ayyub al Masri im Oktober 2006 einen das Gebiet von Bagdad und mehrere Nordwestprovinzen des Irak umfassenden islamischen Staat aus und benannte den Zusammenschluss um in „ad Dawlat al Islamiya fil Iraq“ („Islamischer Staat im Irak“, ISI oder auch IStI). Ziel der hierarchisch strukturierten, über eine straffe militärische Organisation verfügenden Vereinigung war der Schutz der Sunniten im Irak, die Vernichtung der „abtrünnigen Verräter“ und das „Niedermetzeln“ der feindlichen „Kreuzfahrer“. Der ISI sah sich als selbständiger Zweig der Al Qaida und teilte deren Ziele und Zwecke, die er mit Anschlägen gegen Politiker, irakische Einrichtungen und Sicherheitskräfte, die im Irak stationierten westlichen Truppen, aber auch gegen die Zivilbevölkerung zu erreichen suchte.

bb) Nach der Tötung al Masris wurde Abu Bakr al Baghdadi sein Nachfolger. Unter dessen Führung beteiligte sich der ISI auch am syrischen Bürgerkrieg; er sah darin die Gelegenheit, seinen Einfluss nach Syrien auszudehnen, wo die Vereinigung aufgrund der vielen aus Syrien stammenden, im Irak eingesetzten Kämpfer über eine gut ausgebaute Infrastruktur verfügte. Dabei kooperierte der ISI unter anderem mit der 2011 in seinem Auftrag und mit seiner Unterstützung in Syrien gegründeten, vom Syrer Muhammad al Jawlani angeführten Jabhat al Nusra (im Folgenden: JaN), deren Aktionen sich vornehmlich gegen Einrichtungen und Angehörige der Assad Armee richteten. Nach dem Willen al Baghdadis sollte die JaN unmittelbar dem Einfluss des ISI unterstehen; der wachsende Einfluss der JaN in Syrien führte indes innerhalb dieser Vereinigung zu wachsenden Bestrebungen nach Selbständigkeit. Als al Baghdadi als Reaktion darauf im April 2013 die Vereinigung von ISI und Jabhat al Nusra zum „Islamischen Staat im Irak und in Großsyrien (ISIG)" verkündete, widersprach al Jawlani dem und leistete seinerseits den Treueeid auf al Zawahiri, worauf dieser den Zusammenschluss annullierte und beide Parteien zur Beilegung ihrer Streitigkeiten auf der Grundlage einer Gebietsabgrenzung - ISIG im Irak, Jabhat al Nusra in Syrien - aufrief. Dies führte zum Bruch al Baghdadis sowohl mit Al Qaida als auch mit der Jabhat al Nusra. Anfang des Jahres 2014 kam es zu auch militärischen Auseinandersetzungen mit anderen syrischen Oppositionsgruppen, innerhalb derer der ISIG zwischenzeitlich weitgehend isoliert ist.

cc) Gleichwohl gelang es ihm, sich in einigen Regionen Nordsyriens als Ordnungsmacht festzusetzen. Aus dem Kampf gegen das Assad Regime zog sich die Organisation in der Folge weitgehend zurück und konzentrierte sich in Syrien auf die Machterhaltung in den von ihr beherrschten Gebieten. Angehörige anderer Oppositionsgruppen sowie die Teile der Zivilbevölkerung, die den Herrschaftsanspruch des ISIG in Frage stellten, sahen sich Verhaftung, Folter und Hinrichtung ausgesetzt. In der Folge verlagerte der ISIG seine kämpferischen Aktivitäten zunehmend in den Irak, wo es ihm Anfang Juni 2014 u.a. gelang, die Stadt Mossul in seine Gewalt zu bringen.

Am 29. Juni 2014 verkündete ein Sprecher des ISIG in einer Audiobotschaft die Ernennung des „Emirs“ Abu Bakr al Baghdadi zum „Khalifen“ (Nachfolger des Propheten) und die Umbenennung des ISIG in „ad Dawlat al Islamiya/Islamischer Staat (IS)". Gleichzeitig rief er die Muslime weltweit auf, dem Khalifen Gehorsam zu leisten. Dies verdeutlicht - bei Beibehaltung der bisherigen ideologischen Ausrichtung - eine Abkehr von der regionalen Selbstbeschränkung auf ein „Großsyrien“ und die Erhebung eines Führungs- und Herrschaftsanspruchs in Bezug auf das gesamte „Haus des Islam“.

b) Die Tathandlungen des Beschuldigten:

Der Angeschuldigte, der sich seit 2010 mit islamistischem Gedankengut befasste, entschied sich spätestens Anfang 2013, sich kämpfend am Bürgerkrieg in Syrien zu beteiligen. Zu diesem Zweck reiste er am 3. März 2013 nach Syrien, wo er sich im Umgang mit Schusswaffen ausbilden ließ. Spätestens im September 2013 schloss er sich dort der terroristischen Vereinigung „Islamischer Staat im Irak und Großsyrien (ISIG)" an. Er unterwarf sich der Befehlsgewalt der Terrormiliz, legte gegenüber dem Befehlshaber seiner Kampfeinheit den Treueeid auf den Anführer des „ISIG“ ab und nahm ab Oktober 2013 mehrfach an Kampfeinsätzen teil. Außerdem leistete er als Kämpfer Wachdienste. Vom 25. Januar 2014 bis zum 1. Juli 2014 hielt er sich vorübergehend in Deutschland auf, um sich zur Wiederherstellung seiner Kampffähigkeit ärztlich behandeln zu lassen. Danach reiste er erneut nach Syrien, wo er wiederum an Kampfhandlungen des „ISIG“ bzw. „IS“ teilnahm. Am 13. Januar 2015 wurde er in der Türkei festgenommen und in der Folge nach Deutschland ausgeliefert.

2. Der dringende Tatverdacht im Sinne des § 112 Abs. 1 Satz 1 StPO bezüglich der Vereinigung „Islamischer Staat im Irak und Großsyrien (ISIG)" ergibt sich insbesondere aus einem Gutachten des Sachverständigen Dr. S. vom 7. März 2015 sowie einem Auswertebericht des Bundeskriminalamts vom 6. März 2014. Der Angeschuldigte hat sich zu den gegen ihn erhobenen Vorwürfen bisher nicht eingelassen. Der dringende Verdacht folgt insoweit unter anderem aus den aus der Telekommunikationsüberwachung und der Durchsuchung der Wohnung der Lebensgefährtin des Angeschuldigten am 31. Juli 2014 gewonnenen Erkenntnissen, insbesondere dem Inhalt der Protokolle über die Chatkommunikation des Angeschuldigten mit seiner Mutter, B., mit seiner Lebensgefährtin, J., und mit O. Er gründet zudem auf den Zeugenaussagen der J., K., G. und Ö. sowie der Auswertung zahlreicher Asservate. Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten wird auf die ausführlichen Darlegungen im Haftbefehl vom 20. Januar 2015 sowie der Anklageschrift Bezug genommen.

Danach ist eine hohe Wahrscheinlichkeit dafür gegeben, dass der Angeschuldigte sich wegen mitgliedschaftlicher Beteiligung an einer terroristischen Vereinigung im Ausland nach § 129b Abs. 1 Satz 1 und 2, § 129a Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2 Nr. 2 StGB strafbar gemacht hat.

Die gemäß § 129b Abs. 1 Satz 3 StGB erforderliche Ermächtigung zur strafrechtlichen Verfolgung von Mitgliedern oder Unterstützern der ausländischen terroristischen Vereinigung „Islamischer Staat im Irak und Großsyrien (ISIG)", die deutsche Staatsangehörige sind, sich in der Bundesrepublik Deutschland aufhalten oder hier tätig werden, hat das Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz am 6. Januar 2014 erteilt. Seit dem 11. April 2014 liegt darüber hinaus eine Ermächtigung zur strafrechtlichen Verfolgung des Angeschuldigten vor.

Angesichts des dringenden Tatverdachts in dem aufgezeigten Umfang kann im Rahmen dieser Haftprüfung offen bleiben, ob der Angeschuldigte - wie ihm im Haftbefehl vom 20. Januar 2015 vorgeworfen wird - mit hoher Wahrscheinlichkeit auch die tatbestandlichen Voraussetzungen der Vorbereitung einer staatsgefährdenden Gewalttat nach § 89a Abs. 1, Abs. 2 Nr. 1 und 2, Abs. 3, Abs. 4 Satz 1 StGB erfüllt hat und wie gegebenenfalls das Konkurrenzverhältnis zwischen diesem Straftatbestand und den §§ 129a, 129b StGB zu beurteilen wäre.

3. Es besteht aus den in den Haftbefehlen dargestellten Gründen der Haftgrund der Fluchtgefahr (§ 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO) sowie der Haftgrund der Schwerkriminalität (§ 112 Abs. 3 StPO). Die zu erwartende Strafe übt einen hohen Fluchtanreiz auf den Angeschuldigten aus. Ausreichend tragfähige soziale oder berufliche Bindungen im Inland, die geeignet sind, diesem Anreiz maßgeblich entgegen zu wirken, bestehen nicht. Es ist deshalb zu erwarten, dass der Angeschuldigte, in Freiheit belassen, sich dem Verfahren entziehen würde. Der Zweck der Untersuchungshaft kann nicht durch weniger einschneidende Maßnahmen als deren Vollzug erreicht werden (§ 116 StPO).

4. Die Voraussetzungen für die Fortdauer der Untersuchungshaft über sechs Monate hinaus (§ 121 Abs. 1 StPO) sind gegeben. Die besondere Schwierigkeit und der Umfang des Verfahrens haben ein Urteil noch nicht zugelassen.

Nach der Festnahme des Angeschuldigten am 12. Februar 2015 waren u.a. noch die durch umfangreiche Telekommunikationsüberwachungsmaßnahmen gewonnene Erkenntnisse auszuwerten. Gleichwohl hat der Generalbundesanwalt bereits am 11. Juni 2015 Anklage zum Oberlandesgericht Düsseldorf erhoben. Am 17. Juni 2015 hat der Vorsitzende des zuständigen Strafsenats deren Zustellung verfügt. Nach Ablauf der - auf Antrag des Verteidigers verlängerten - Erklärungsfrist nach § 201 Abs. 1 Satz 1 StPO soll nach Auskunft des Oberlandesgerichts zeitnah über die Eröffnung des Hauptverfahrens entschieden werden. Für den Fall der Zulassung der Anklage ist ein Beginn der Hauptverhandlung im Oktober oder November 2015 in Aussicht gestellt.

5. Der weitere Vollzug der Untersuchungshaft steht zu dem gegen den Angeschuldigten erhobenen Tatvorwurf der mitgliedschaftlichen Beteiligung an einer terroristischen Vereinigung im Ausland, der diese Entscheidung trägt, und der hierfür zu erwartenden Strafe nicht außer Verhältnis (§ 112 Abs. 1 Satz 2 StPO).

HRRS-Nummer: HRRS 2015 Nr. 1043

Bearbeiter: Christian Becker