HRRS-Nummer: HRRS 2015 Nr. 911
Bearbeiter: Christian Becker
Zitiervorschlag: BGH, AK 27/15, Beschluss v. 03.09.2015, HRRS 2015 Nr. 911
Die Untersuchungshaft hat fortzudauern.
Eine etwa erforderliche weitere Haftprüfung durch den Bundesgerichtshof findet in drei Monaten statt.
Bis zu diesem Zeitpunkt wird die Haftprüfung dem Oberlandesgericht Stuttgart übertragen.
Der Angeschuldigte, der türkischer Staatsangehöriger ist, wurde am 12. Februar 2015 vorläufig festgenommen und befindet sich seit diesem Tag aufgrund des Haftbefehls des Ermittlungsrichters des Oberlandesgerichts Stuttgart vom 4. August 2014 (OGs 1/14) ununterbrochen in Untersuchungshaft. Die Generalstaatsanwaltschaft Stuttgart hat unter dem 28. April 2015 Anklage gegen den Angeschuldigten vor dem Oberlandesgericht Stuttgart erhoben.
Gegenstand des Haftbefehls vom 4. August 2014 ist der Vorwurf, der Angeschuldigte habe sich mindestens seit Mitte des Jahres 2010 unter dem Decknamen „D.“ in der Funktion eines Gebietsleiters als Mitglied an der Arbeiterpartei Kurdistans („Partiya Karkeren Kurdistan“ - PKK) und damit an einer Vereinigung im Ausland beteiligt, deren Zwecke und deren Tätigkeiten darauf gerichtet seien, Mord (§ 211 StGB) oder Totschlag (§ 212 StGB) zu begehen (§ 129b Abs. 1 i.V.m. § 129a Abs. 1 Nr. 1 StGB).
Die Ermächtigung des Bundesministeriums der Justiz zur strafrechtlichen Verfolgung unter anderem der jeweiligen Verantwortlichen für die in Deutschland bestehenden Gebiete der PKK und ihrer Teilorganisation in Europa CDK (Civata Demokratik Kurdistan; „Kurdische demokratische Gesellschaft“), soweit ein Deutschlandbezug besteht, liegt seit dem 6. September 2011 vor.
Die Voraussetzungen der Untersuchungshaft und ihrer Fortdauer über sechs Monate hinaus sind gegeben.
1. Nach den bisherigen Ermittlungen ist im Sinne eines dringenden Tatverdachts im Wesentlichen von folgendem Sachverhalt auszugehen:
a) Die PKK wurde 1978 u.a. von Abdullah Öcalan in der Türkei als Kaderorganisation mit dem Ziel gegründet, einen kurdischen Nationalstaat unter ihrer Führung zu schaffen. Sie gliedert sich in verschiedene Organisationen, die mehrfach die Bezeichnung wechselten. So bestehen u.a. seit 2007 die „Vereinigte Gemeinschaft Kurdistans“ (Koma Civakên Kurdistan - KCK) als Kaderorganisation und der „Volkskongress Kurdistans“ (Kongra Gelê Kurdistan - KONGRAGEL) als quasi legislatives Organ sowie die („neue“) PKK mit der Aufgabe einer Fortentwicklung der ideologischen Ausrichtung. Ziel der KCK ist ein staatsähnlicher „konföderaler“ Verbund der kurdischen Siedlungsgebiete in der Türkei, in Syrien, im Iran und im Irak.
Die KCK ist, ebenso wie die PKK, auf die Person Abdullah Öcalans ausgerichtet. Daneben vollzieht sich die Willensbildung über die KONGRAGEL und den Exekutivrat der KCK. Die Führungskader folgen grundsätzlich dieser Willensbildung und setzen die getroffenen Entscheidungen um. Zur Überprüfung haben sie den übergeordneten Kadern regelmäßig Bericht zu erstatten.
Die PKK sieht im Rahmen der „Selbstverteidigung“ einen Guerillakrieg als legitimes Mittel an. Zu ihrem System gehören auch die „Volksverteidigungskräfte“ („Hezen Parastine Gel“ - HPG). Diese nehmen ein Recht auf „aktive Verteidigung“ und auf „Vergeltungsangriffe“ gegen türkische Sicherheitsbehörden in Anspruch. Sie verübten deshalb - auch in Zeiträumen, für die, wie zuletzt am 23. März 2013, vom Präsidium des Exekutivrats der KCK „Feuerpausen“ verkündet wurden, - Anschläge mit Sprengstoff und Waffen insbesondere gegen türkische Soldaten und Polizisten und verletzten oder töteten eine Vielzahl von ihnen. Vereinzelt waren auch Zivilisten betroffen.
Der Schwerpunkt der Strukturen und das eigentliche Aktionsfeld der PKK liegen in den von Kurden bevölkerten Gebieten in der Türkei, in Syrien, im Iran und im Irak. Zahlreiche auf die Unterstützung der politischen und militärischen Auseinandersetzung mit dem türkischen Staat ausgerichtete Aktivitäten betreibt die PKK jedoch auch in Deutschland und anderen Gebieten Westeuropas. Dazu bedient sie sich der CDK, deren Aufgabe insbesondere darin besteht, nach den Vorgaben der KCK und der KONGRAGEL die in Europa lebenden Kurden zu organisieren. Unterhalb dieser Führungsebene ist Europa in Sektoren, Gebiete, Räume und Stadtteile eingeteilt.
b) Der Angeschuldigte ist dringend verdächtig, jedenfalls seit Mitte 2010 als Gebietsleiter in die dargestellte Organisation der PKK und CDK eingebunden gewesen zu sein und diese gefördert zu haben:
Der Angeschuldigte war seit diesem Zeitpunkt als - von der PKK alimentierter - Gebietsleiter zunächst für das Gebiet „Kiel“ und später - bis zu seiner Verhaftung - nacheinander für die Gebiete „Sachsen“, „Stuttgart“ und „Bodensee“ tätig. In dieser Funktion organisierte er Spendensammlungen, verwaltete die eingenommenen Gelder und leitete sie weiter. Er nahm an Treffen mit anderen PKK-Kadern teil bzw. besuchte entsprechende Schulungen. Außerdem organisierte er die Teilnahme von Kurden, die in „seinen“ Gebieten ansässig waren, an zentralen Demonstrationen und Veranstaltungen. Höherrangigen Kadern, mit denen er auch telefonisch in Kontakt stand, erstattete er regelmäßig Bericht.
Der dringende Tatverdacht hinsichtlich dieses Sachverhalts ergibt sich aus den bei einer Durchsuchung des „Kurdistan Volkshauses“ in H. im Jahr 2010 und bei der Festnahme des Angeschuldigten im Februar 2015 sichergestellten Unterlagen, dem Ergebnis der Überwachung der Telekommunikation des Angeschuldigten und seiner Observierung sowie weiteren Ermittlungsergebnissen der Landeskriminalämter Schleswig-Holstein, Sachsen und BadenW-ürttemberg. Wegen der Einzelheiten wird auf die Darlegungen im Haftbefehl des Ermittlungsrichters des Oberlandesgerichts Stuttgart und im wesentlichen Ergebnis der Ermittlungen der Anklage der Generalstaatsanwaltschaft Bezug genommen.
Damit ist der Angeschuldigte dringend verdächtig, sich als Mitglied an einer terroristischen Vereinigung im Ausland beteiligt zu haben.
2. Es besteht aus den im Haftbefehl dargestellten Gründen jedenfalls der Haftgrund der Fluchtgefahr (§ 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO). Der Zweck der Untersuchungshaft kann durch weniger einschneidende Maßnahmen als deren Vollzug nicht erreicht werden (§ 116 Abs. 1 StPO). Die bisherige Dauer der Untersuchungshaft steht auch noch nicht außer Verhältnis zur Bedeutung der Sache und der im Falle einer Verurteilung zu erwartenden erheblichen Strafe (§ 120 Abs. 1 Satz 1 StPO).
3. Die Voraussetzungen für die Fortdauer der Untersuchungshaft über sechs Monate hinaus (§ 121 Abs. 1 StPO) sind gegeben. Die besondere Schwierigkeit und der Umfang des Verfahrens haben ein Urteil noch nicht zugelassen.
Nach der Festnahme des Angeschuldigten am 12. Februar 2015 wurde das Ermittlungsverfahren zügig abgeschlossen. Unter dem 28. April 2015 hat die Generalstaatsanwaltschaft Stuttgart Anklage zum dortigen Oberlandesgericht erhoben. Bereits am 29. April 2015 verfügte der Vorsitzende des Strafsenats die Zustellung der Anklage und - nach Anhörung des Verteidigers - am 8. Mai 2015 deren Übersetzung. Am 23. Juni 2015 wurde dem Angeschuldigten die Übersetzung der Anklageschrift übersandt. Am 16. Juli 2015 lief die - auf Antrag des Verteidigers verlängerte - Erklärungsfrist nach § 201 Abs. 1 Satz 1 StPO ab. Der Senat geht davon aus, dass das Oberlandesgericht - wie angekündigt - nunmehr zügig über die Eröffnung des Hauptverfahrens entscheiden wird.
HRRS-Nummer: HRRS 2015 Nr. 911
Bearbeiter: Christian Becker