HRRS-Nummer: HRRS 2016 Nr. 962
Bearbeiter: Christoph Henckel/Karsten Gaede
Zitiervorschlag: BGH, 2 StR 486/15, Beschluss v. 13.07.2016, HRRS 2016 Nr. 962
1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Erfurt vom 28. Mai 2015 mit den Feststellungen aufgehoben.
2. Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen versuchten Mordes in Tateinheit mit Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte, gefährlicher Körperverletzung, Urkundenfälschung, Fahren ohne Fahrerlaubnis und einem Verstoß gegen das Pflichtversicherungsgesetz zu einer Freiheitsstrafe von sieben Jahren und sechs Monaten verurteilt, die Unterbringung in der Sicherungsverwahrung angeordnet und eine Entscheidung nach § 69a StGB getroffen. Die auf die Verletzung förmlichen und sachlichen Rechts gestützte Revision des Angeklagten hat mit der Sachrüge Erfolg.
1. Nach den Feststellungen des Landgerichts flüchtete der Angeklagte, der ohne gültige Fahrerlaubnis mit einem mit gestohlenen Kennzeichen versehenen, nicht zugelassenen Kraftfahrzeug unterwegs war, am 17. August 2014 mit weit überhöhter Geschwindigkeit vor einem ihn verfolgenden Streifenwagen der Polizei durch E. Er bog schließlich in eine private Hofzufahrt ein, die nach 40-50 Metern in einem Innenhof endete und sich - da dieser nur über dieselbe Zufahrt wieder verlassen werden konnte - als Sackgasse erwies. Im vorderen Bereich verjüngte sich die Zufahrt, die auf der einen Seite durch eine Mauer und auf der anderen Seite durch eine Mülltonnenbox begrenzt war. Der Angeklagte fuhr durch die Zufahrt in Richtung des Innenhofs, bis er erkannte, dass es von dort kein Wegkommen gab. Das Polizeifahrzeug mit den Beamten R. und B. hatte zwischenzeitlich ebenfalls die Einfahrt erreicht und ihren Pkw im verjüngten Bereich der Zufahrt so abgestellt, dass zwischen dessen Fahrerseite und der Mauer lediglich ein 1,80 Meter breiter Bereich verblieb und der Abstand zwischen Beifahrerseite und Mülltonnenbox knapp einen Meter betrug. Der Zeuge R. als Fahrer ging dabei davon aus, dass der Angeklagte mit seinem Fahrzeug nicht an ihrem Fahrzeug würde vorbeifahren können.
Daraufhin fuhr der Angeklagte sein Fahrzeug schräg zurück und hielt etwa fünf bis zehn Meter vom Funkstreifenwagen entfernt an. Es bestand kurzzeitig Blickkontakt mit dem Zeugen R. Dieser und der Zeuge B. gingen davon aus, dass der Angeklagte nun aussteigen und sich ergeben oder zu Fuß weiterflüchten würde. Daher stiegen beide Beamte aus dem Fahrzeug aus, wobei sich der Zeuge R. von der Fahrerseite aus - dicht an der Mauer entlanggehend - zum Pkw des Angeklagten hin bewegte. Als er nach wenigen Schritten etwa auf der Höhe der vorderen Stoßstange des Polizeifahrzeugs war, fuhr der Angeklagte unvermittelt mit Vollgas rückwärts gezielt auf die Lücke zu, die zwischen der Mauer und der Fahrerseite des Polizeifahrzeugs bestand. Zuvor hatte er - ebenso wie die in seinem Fahrzeug sitzende Zeugin Bo. - seinen Kopf zur Fahrzeugmitte hin umgedreht und den Zeugen R. gesehen. Er sah, dass dieser sich genau vor dieser Lücke befand und keine Möglichkeit hatte, dem herannahenden Fahrzeug auszuweichen. Gleichwohl setzte er seine Fahrt unvermindert mit Vollgas fort, um der Polizeikontrolle zu entkommen. Er nahm dabei billigend in Kauf, dass der Zeuge durch die Kollision mit dem Fahrzeug getötet werden würde. Unmittelbar bevor der Zeuge R. von dem Fahrzeug des Angeklagten, einem VW Golf IV, erfasst werden konnte, machte er geistesgegenwärtig einen großen Sprung in die Höhe, so dass lediglich seine Beine von dem Golf getroffen wurden. Er wurde - während der Angeklagte unbeirrt weiterfuhr - auf den Pkw des Angeklagten über das Fahrzeugdach nach vorne auf die Motorhaube geschleudert. Er kam schließlich vor der Motorhaube auf dem Boden zu liegen, während es dem Angeklagten gelang, das Fahrzeug mit den rechten Rädern auf dem Boden und den linken Rädern an der Wand in Schrägstellung fahrend durch die Lücke zu fahren. Er fuhr anschließend weiter und flüchtete in die Richtung, aus der er gekommen war. Zwei Tage später wurde er festgenommen.
2. Das Landgericht hat den Angeklagten unter anderem wegen versuchten Mordes verurteilt. Es ist dabei davon ausgegangen, dieser habe den Zeugen R. gesehen, als er rückwärts fuhr, und habe insoweit mit bedingtem Tötungsvorsatz gehandelt. Dies hält rechtlicher Nachprüfung nicht stand. Die Beweiswürdigung der Strafkammer, mit der sie sich davon überzeugt hat, dass der Angeklagte den Zeugen R. bei seinem Fahrmanöver gesehen hat, begegnet durchgreifenden rechtlichen Bedenken. Sie ist lückenhaft, weil sie sich mit Umständen, die gegen diese Annahme sprechen könnten, nicht hinreichend auseinandergesetzt hat.
a) Das Landgericht hat sich bei seiner Überzeugungsbildung zum einen auf die Angaben der Zeugin Bo. gestützt, die angegeben hat, sie sei sicher, dass auch der Angeklagte beide Beamten gesehen habe, da er sich ebenso wie sie umgedreht und auch in den Außenspiegel geschaut habe. Soweit das Landgericht der Zeugin insoweit im Hinblick auf deren eigene Wahrnehmung gefolgt ist (UA S. 43), lässt es unberücksichtigt, dass die auf der Beifahrerseite sitzende Zeugin einen andern Blickwinkel als der Angeklagte hatte. Wenn auch dadurch nicht ausgeschlossen ist, dass die Zeugin Wahrnehmungen zur Sicht des Angeklagten machen kann, hätte doch das Landgericht zu erkennen geben müssen, ob dies auch unter Berücksichtigung unterschiedler Sichtwinkel angenommen werden kann. Zudem bleibt offen, auf welchen Zeitpunkt sich die Aussage der Zeugin bezieht. Dass der Angeklagte zurückschaute, als er feststellte, dass es nach vorne kein Entweichen mehr gab, liegt auf der Hand. Dass es dabei zu einem kurzen Blickkontakt mit dem Zeugen R. kam, hat dieser bestätigt. Dies war allerdings zu einem Zeitpunkt, als beide Beamten noch im Auto saßen. Ob der Angeklagte im weiteren Fortgang bemerkte, dass der Zeuge R. ausgestiegen war und vor der Lücke stand, auf die er zufuhr, ist den im Urteil mitgeteilten Angaben der Zeugin nicht zu entnehmen.
b) Die Strafkammer hat sich zum anderen auch auf die Angaben des Sachverständigen Re. berufen, der - nachdem die Stellung der Fahrzeuge und der Positionen der Polizeibeamten vor Ort rekonstruiert worden waren - angegeben hat, es sei feststellbar gewesen dass sowohl im Innen- als auch im rechten Außenspiegel im Bereich zwischen der Mauer und dem Polizeifahrzeug stehende Personen sichtbar gewesen seien. Dies gelte auch bei einer Umschau, je nachdem wie weit der Fahrer seinen Kopf nach hinten gedreht habe. Soweit der Sachverständige darüber hinaus die Möglichkeit in den Raum gestellt habe, die Sicht auf den Zeugen R. habe durch die C-Säule in einem bestimmten Winkel verdeckt sein können, hat das Landgericht mit Blick auf die Angaben der Zeugin Bo. und den Umstand, dass der Zeuge in Bewegung gewesen sei, dies nicht angenommen. Auch diese Würdigung erweist sich als lückenhaft. Dies gilt zunächst ohne Weiteres, soweit sich die Strafkammer auch an dieser Stelle auf die Angaben der Zeugin Bo. gestützt hat (s. oben 2. a). Es gilt aber auch mit Blick auf die festgestellte Bewegung des Zeugen R., der nur wenige Schritte von der Fahrertür bis zur Höhe der vorderen Stoßstange gegangen war. Dass hierdurch der Blick des Angeklagten auf den Zeugen „frei“ geworden ist, erschließt sich ohne nähere Erläuterung nicht. Dass der Angeklagte in den Seitenspiegel geschaut hat, ist nicht festgestellt. Soweit aber nach den Angaben der Zeugen Bo. und R. feststeht, dass er sich nach hinten über die Schulter umgeschaut hat, ist weder festgestellt, wie weit der Angeklagte den Kopf nach hinten umgedreht hatte, noch, dass sich durch die Vorwärtsbewegung des dicht an der Mauer gehenden Zeugen und das gleichzeitige Rückwärtsfahren die Sicht für den Angeklagten auf den Zeugen verbessert hätte. Dies gilt insbesondere, wenn man von der jedenfalls nicht fernliegenden Möglichkeit ausgeht, dass die Sicht des zurückfahrenden Angeklagten auf den inzwischen ausgestiegenen Zeugen - nachdem er mit ihm zuvor noch Blickkontakt gehabt hatte - zunächst verdeckt war. Vielmehr hätte gerade die Annäherung dafür gesorgt, dass die C-Säule des Golfs den Blick auf den Zeugen R. (weiter) versperrt hätte. Dass der Angeklagte ihn schon zuvor, etwa beim Aussteigen aus dem Polizeifahrzeug, gesehen hätte, hat das Landgericht nicht dargetan.
c) Ein weiterer Umstand für die Annahme, der Angeklagte habe den Zeugen gesehen, als er zurückfuhr, ist aus Sicht des Landgerichts die Reaktion auf die Kollision mit dem Nebenkläger. Hätte der Angeklagte den Zeugen versehentlich erfasst, hätte es nahe gelegen, dass er nach dem Aufprall darauf überrascht oder erschrocken reagiert hätte. Dies sie jedoch nicht der Fall gewesen; vielmehr habe der Zeuge R. bekundet, er habe, während er über den Golf „gerutscht“ sei, in dessen Innenraum gesehen und dabei auch den Gesichtsausdruck des Fahrers bemerkt, der ruhig gewesen sei und keinen gehetzten oder getriebenen Eindruck gemacht habe. Auch diese Würdigung greift zu kurz, weil sie sich mit insoweit bedeutsamen Umständen nicht auseinandersetzt. Zum einen ist das Landgericht davon ausgegangen, dass eine alkohol-und drogenbedingte Enthemmung des Angeklagten nicht auszuschließen sei. Dies ist ein Umstand, der sich nicht nur bei der Tatbegehung, sondern auch bei der Reaktion auf ein plötzliches Geschehen auswirken kann. Das Landgericht hätte deshalb erörtern müssen, ob angesichts dessen dem Gesichtsausdruck irgendeine Bedeutung für einen möglichen Rückschluss auf das Wissen eines bevorstehenden Zusammenpralls zukommt. Zum anderen wäre auch zu bedenken gewesen, dass bei dem Angeklagten eine dissoziale Persönlichkeitsstörung vorliegt, bei der „Abweichungen im Wahrnehmen, Denken, Fühlen und in Beziehungen zu anderen“ bestehen und die gekennzeichnet sein soll durch ein „Unbeteiligtsein gegenüber den Gefühlen anderer, eine Verantwortungslosigkeit und deutliche Missachtung sozialer Normen“. Es hätte jedenfalls auch näherer Erörterung bedurft, ob und inwieweit den Erinnerungen des Zeugen R. an Beobachtungen während eines in Sekundenbruchteilen stattfindenden Flugs über das Fahrzeug überhaupt Beweiswert zukommen kann.
d) Die Zeugin N. hatte den Angeklagten nach seiner Flucht auf dessen Bitte hin aus E. abgeholt und ihn wieder nach Hause gebracht. Ihr gegenüber erklärte er, dass „Scheiße“ passiert sei. Er sei mit dem Auto gefahren und angehalten worden. Er habe „jemanden übersehen“, er könne nicht erzählen, was passiert sei. Mit dieser Äußerung des Angeklagten gegenüber der Zeugin N. setzt sich das Landgericht bei seiner Annahme, der Angeklagte habe den Zeugen gesehen, nicht auseinander. Dies aber wäre erforderlich gewesen; dabei hätte die Strafkammer in den Blick nehmen müssen, dass der Angeklagte insoweit von sich aus eine Einschätzung der Tat abgegeben hat, die mit ihrer Annahme, er habe den Polizeibeamten, den er angefahren habe, gesehen, nicht in Übereinstimmung zu bringen ist. Dabei wäre, etwa unter näherer Darlegung, wie es im Einzelnen zu dieser Angabe des Angeklagten gekommen ist und auf welchen Zeitpunkt sie sich bezog, zu erörtern gewesen, ob und gegebenenfalls in welcher Weise sich dies auf die Beweiswürdigung der Kammer auswirkt.
e) Das Urteil beruht auf diesen Würdigungsfehlern. Der Senat kann nicht ausschließen, dass sich die Strafkammer bei einer rechtsfehlerfreien umfassenden Gesamtwürdigung aller relevanten Umstände nicht die Überzeugung verschafft hätte, der Angeklagte habe den Zeugen gesehen, und insoweit von einer Verurteilung wegen versuchten Mordes abgesehen hätte.
3. a) Für die neue Hauptverhandlung weist der Senat darauf hin, dass auf der Grundlage der bisher getroffenen Feststellungen auch die Frage weiterer Vertiefung bedarf, ob die Kollision für den Zeugen R. unausweichlich gewesen ist. Geht man von den Angaben des Sachverständigen aus, sind zwischen Anfahrbeginn durch den Angeklagten und der Kollision im für den Angeklagten günstigsten Fall 2,8 Sekunden vergangen. Warum bei einer Reaktionszeit von ein bis zwei Sekunden keine Ausweichmöglichkeit bestanden haben soll, auf die der Angeklagte gegebenenfalls hätte vertrauen können, erschließt sich aus den Urteilsgründen bisher nicht.
b) Hinsichtlich eines möglichen Rücktritts des Angeklagten nach § 24 StGB verweist der Senat auf BGHSt 39, 221, 230 ff.. Im Übrigen erscheint es zweifelhaft, ob mit einem möglichen erneuten Zufahren des Angeklagten auf den Zeugen R. tatsächlich eine neue Handlungs- und Kausalkette in Gang gesetzt worden wäre.
c) Soweit der neue Tatrichter wiederum die Anordnung von Sicherungsverwahrung in Betracht ziehen sollte, ist im Hinblick auf die formellen Voraussetzungen nach § 66 Abs. 1 Nr. 2 StGB zu bedenken, dass die Verhängung einer Einheitsjugendstrafe von zwei Jahren und zwei Monaten für eine weitere Tat unter Einbeziehung einer Jugendstrafe von einem Jahr und zwei Monaten nicht ohne Weiteres die Annahme rechtfertigt, für diese Tat sei - wie erforderlich - eine Freiheitsstrafe von einem Jahr verhängt worden. Maßgeblich ist, ob der Täter wegen der zugrunde liegenden Tat eine Einzelstrafe von mindestens einem Jahr wegen der vorsätzlichen Straftat verwirkt hätte, sofern sie als Einzeltat gesondert abgeurteilt worden wäre. Daran bestehen - zumal ausdrückliche Feststellungen des ursprünglichen Tatrichters fehlen - Zweifel, zumal sich die Jugendstrafe nicht am Tatunrecht, sondern am Erziehungsbedarf ausrichtet.
HRRS-Nummer: HRRS 2016 Nr. 962
Bearbeiter: Christoph Henckel/Karsten Gaede