HRRS-Nummer: HRRS 2016 Nr. 159
Bearbeiter: Christoph Henckel/Karsten Gaede
Zitiervorschlag: BGH, 2 StR 373/15, Beschluss v. 05.11.2015, HRRS 2016 Nr. 159
1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Gießen vom 26. Mai 2015 mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben, soweit das Landgericht von der Unterbringung des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt abgesehen hat.
2. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere allgemeine Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
3. Die weiter gehende Revision wird verworfen.
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in elf Fällen, davon in acht Fällen in Tateinheit mit Besitz von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge unter Freisprechung im Übrigen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren und neun Monaten verurteilt. Die auf die Sachrüge gestützte Revision des Angeklagten hat den aus der Beschlussformel ersichtlichen Teilerfolg; im Übrigen ist sie unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.
1. Die Nachprüfung des Urteils zum Schuld- und Strafausspruch hat keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten ergeben. Die Nichtanordnung der Unterbringung des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt begegnet hingegen durchgreifenden sachlich-rechtlichen Bedenken.
a) Nach den Feststellungen konsumierte der mehrfach vorbestrafte, heute 41 Jahre alte Angeklagte seit jungen Jahren Kokain und Speed sowie ab dem 15. Lebensjahr auch Heroin. Nach Antritt einer Jugendstrafe im Jahr 1993 nahm er kein Heroin mehr zu sich, jedoch konsumierte er weiterhin Kokain, Marihuana und Amphetamine. Der Angeklagte war in seinem Leben überwiegend ohne Beschäftigung. Zur Finanzierung seines Betäubungsmittelkonsums beging er auch Straftaten.
Im Jahr 2011 begann der Angeklagte erneut, Heroin zu konsumieren. Ab 2012 nahm er zusätzlich Methadon zu sich. Zur Finanzierung seines Konsums beging er Diebstähle und Einbruchsdiebstähle. Ab Mai 2012 begann er zudem, Heroin gewinnbringend weiter zu verkaufen und verübte die verfahrensgegenständlichen Taten. Ab Juni 2013 ließ sich der Angeklagte durch den Drogenersatzstoff Subutex subsituieren, um von seinem Heroinkonsum loszukommen. Zur Finanzierung seines Beikonsums von Kokain und anderen Betäubungsmitteln setzte er den verfahrensgegenständlichen Betäubungsmittelhandel jedoch noch bis März 2014 fort.
Nach seiner Festnahme im März 2014 wurde der Angeklagte von der Haft verschont, erhielt jedoch die Weisung, eine elektronische Fußfessel zu tragen. Im Rahmen dessen standen ihm zunächst dreieinhalb Stunden zur täglichen freien Verfügung, später sechs Stunden. Bis zur Hauptverhandlung war es zu keinem Rückfall hinsichtlich des Konsums oder Handels von Betäubungsmitteln gekommen.
b) Die Strafkammer hat von der Unterbringung des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt abgesehen. Aufgrund der Substitution bestehe bei ihm kein Hang mehr, Heroin zu sich zu nehmen. Soweit ein gegebenenfalls auf andere Betäubungsmittel bezogener Hang bestehe, fehle es an der erhöhten Wahrscheinlichkeit, dass der Angeklagte infolge dieses Hangs weitere Straftaten begehen werde, da er seit über einem Jahr nicht rückfällig geworden sei.
c) Die Ablehnung der Anordnung der Maßregel nach § 64 StGB hat keinen Bestand. Die vom Landgericht getroffene Gefährlichkeitsprognose lässt die gebotene Würdigung aller für und gegen eine Rückfallgefahr maßgeblichen Umstände vermissen.
Zwar hat das Landgericht für die Prognose, ob die Gefahr, dass der Angeklagte infolge eines Hanges erhebliche rechtswidrige Taten begehen wird, zu Recht auf den Zeitpunkt der tatrichterlichen Hauptverhandlung abgestellt. Auch kann es gegen eine Gefährlichkeit sprechen, wenn ein Täter bis zu diesem Zeitpunkt über einen langen Zeitraum hinweg keine hangbedingte Straftat mehr begangen hat. Bestehen aber Anhaltspunkte in der Persönlichkeit des Täters, seinem bisherigen Rauschmittelkonsum (Zeiträume, Mengen, Stoffe), dem Vorleben, Vorstrafen, der Anlasstat oder seinem Nachtatverhalten, die demgegenüber für eine Rückfallgefahr sprechen, müssen diese in die anzustellende Gefahrenprognose eingestellt werden.
Dies hat das Landgericht vorliegend versäumt. Es hat schon den für eine Rückfallgefahr sprechenden Umstand nicht berücksichtigt, dass es sich bei dem Angeklagten um einen langjährigen Konsumenten verschiedener Betäubungsmittel handelte, der zur Finanzierung seines Konsums auch schon zahlreiche Straftaten begangen hat. Auch hat das Gericht nicht bedacht, dass der Angeklagte seit seiner Haftverschonung im März 2014 mit der Weisung belegt war, eine elektronische Fußfessel zu tragen, und er im Rahmen dessen seine Wohnung nur stundenweise verlassen konnte, weshalb dem Umstand, dass er in dieser Zeit - neben Subutex - weder Betäubungsmittel konsumiert noch mit ihnen gehandelt hat, möglicherweise nur eingeschränkte Aussagekraft zukommen kann.
Im Übrigen hätte sich das Landgericht zunächst damit auseinander setzen müssen, im Hinblick auf welche „berauschenden Mittel“ ein Hang des Angeklagten besteht und welches Ausmaß diesem Hang zukommt, da beide Umstände in die Gefahrenprognose einzustellen gewesen wären. Daher durfte es das Landgericht nicht offen lassen, ob bei dem Angeklagten überhaupt ein Hang vorliegt. Insofern hat das Gericht bereits verkannt, dass nicht nur das vom Angeklagten zunächst konsumierte Heroin, sondern auch das später konsumierte Subutex ein berauschendes Mittel im Sinne des § 64 StGB ist (vgl. zu Methadon, Senat, Beschluss vom 27. Juni 2001 - 2 StR 204/01, Beschluss vom 5. Juli 2000 - 2 StR 87/00, NStZ-RR 2001, 12; BGH, Beschluss vom 18. Februar 1998 - 1 StR 17/98, NStZ 1998, 414).
2. Die Frage der Maßregelanordnung bedarf daher - unter Hinzuziehung eines Sachverständigen (§ 246a StPO) - neuer Verhandlung und Entscheidung. Aus den bisherigen Feststellungen ergibt sich nicht, dass eine stationäre Therapie keine hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet (§ 64 S. 2 StGB).
Der Strafausspruch kann bestehen bleiben, da auszuschließen ist, dass der Tatrichter bei Anordnung der Unterbringung auf niedrigere Einzelstrafen oder eine geringere Gesamtstrafe erkannt hätte.
Dass nur der Angeklagte Revision eingelegt hat, hindert die Nachholung der Unterbringungsanordnung gemäß § 358 Abs. 2 StPO nicht. Der Beschwerdeführer hat die Nichtanwendung des § 64 StGB durch das Tatgericht nicht von seinem Rechtsmittelangriff ausgenommen.
HRRS-Nummer: HRRS 2016 Nr. 159
Bearbeiter: Christoph Henckel/Karsten Gaede