HRRS-Nummer: HRRS 2016 Nr. 156
Bearbeiter: Christoph Henckel/Karsten Gaede
Zitiervorschlag: BGH, 2 StR 312/15, Beschluss v. 27.10.2015, HRRS 2016 Nr. 156
1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Köln vom 17. März 2015 aufgehoben.
2. Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels und die dem Nebenkläger im Revisionsverfahren entstandenen notwendigen Auslagen, an eine andere als Schwurgericht zuständige Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen versuchten Mordes in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren und sechs Monaten verurteilt. Die Revision des Angeklagten hat mit der Sachrüge Erfolg.
1. Das Schwurgericht hat folgende Feststellungen und Wertungen getroffen:
a) Zur Vorgeschichte hat das Landgericht festgestellt, dass der Angeklagte von dem späteren Tatopfer, dem Zeugen Özk. Ka., mit dem Tode bedroht worden ist. Hintergrund dieser Todesdrohung war der Umstand, dass der Sohn des Angeklagten im November 2013 im Rahmen einer tätlichen Auseinandersetzung lebensgefährlich am Kopf verletzt worden war und nur durch eine sofortige Notoperation gerettet werden konnte. In den Verdacht des versuchten Totschlags waren unter anderem die Brüder Öz. und Özk. Ka. geraten. Öz. Ka. wurde in Untersuchungshaft genommen. Der Angeklagte war zu der auf den August 2014 anberaumten Hauptverhandlung als Zeuge geladen worden. Anfang Juni 2014 hatte der auf freiem Fuß befindliche Özk. Ka. den Angeklagten abgepasst und ihm erklärt, dass sein Bruder Öz. bereits in der Vergangenheit jemanden getötet habe und dass er, der Angeklagte, sterben werde, wenn er als Zeuge vor Gericht aussage und nicht dafür sorge, dass die Strafanzeige zurückgenommen werde. Der Angeklagte nahm die ausgesprochene Todesdrohung ernst.
b) Am Pfingstsonntag, dem 8. Juni 2014, nahm der Angeklagte auf seinem Weg in ein Cafe gegen 13.00 Uhr wahr, dass Özk. Ka. mit einem Bekannten, dem Zeugen S., im Außenbereich einer in der Fußgängerzone von L. gelegenen Bäckerei saß. Er fühlte sich durch die Anwesenheit des Zeugen Ka. in seinem Wohnviertel bedroht und beschloss, ihm einen „Denkzettel“ zu verpassen und ihm zu zeigen, dass er sich keine weiteren Bedrohungen gefallen lassen werde, sondern sich wehren könne; er beschloss daher, Özk. Ka. mit einer Waffe anzugreifen. Er begab sich zurück zu seiner Wohnung, holte von dort eine halbautomatisches Faustfeuerwaffe der Marke FN, Modell 1910, Kaliber 7,65 mm Browning, die er mehrere Monate zuvor beschafft, aber noch nicht ausprobiert hatte, und begab sich auf einem Umweg zurück zum Cafe, um von Özk. Ka. nicht gesehen zu werden. Er richtete die mit scharfer Munition geladene Waffe auf den wenige Meter entfernt sitzenden, ahnungslosen Özk. Ka. und gab in unmittelbarer Abfolge zwei Schüsse auf ihn ab. Dabei war ihm bewusst, dass er den Zeugen Ka. tödlich treffen konnte; dies nahm er in Kauf. Zugleich war ihm klar, dass Özk. Ka. sich keines Angriffs versah und deshalb arg- und wehrlos war. Tatsächlich hatte Özk. Ka. den Angeklagten - anders als sein Freund S. - vor Abgabe der Schüsse nicht wahrgenommen, aus dem besorgten Gesichtsausdruck seines Freundes jedoch geschlossen, dass etwas nicht stimme. Er sprang daher im unmittelbaren zeitlichen Zusammenhang mit den beiden Schüssen auf, stieß den vor ihm stehenden Tisch um, floh in den Verkaufsraum der Bäckerei und suchte hinter einem Betonpfeiler Schutz. Der Angeklagte verfolgte ihn und zielte durch die Glasscheibe weiterhin auf ihn. Özk. Ka. floh schließlich über die Straße; der Angeklagte folgte ihm und gab einen weiteren Schuss auf den Fliehenden ab, ohne ihn zu treffen. Die weitere Verfolgung des Zeugen Ka. gab der auf einen Gehstock angewiesene Angeklagte in dem Bewusstsein auf, dass er ihn aufgrund seiner eingeschränkten Bewegungsfähigkeit nicht werde einholen können.
Einer der beiden ersten Schüsse verursachte eine Streifschussverletzung am rechten Handgelenk des Zeugen Ka. radialseitig und blieb im vorderen Querholm des Stuhls stecken, auf dem der Zeuge zuvor gesessen hatte. Das andere Projektil durchschlug etwa in Kniehöhe das rechte Hosenbein des Zeugen S., ohne ihn zu verletzen.
2. Der Angeklagte hat sich in der Hauptverhandlung dahin eingelassen, dass er Ka., der ihn kurz zuvor erneut mit dem Tode bedroht habe, nicht habe treffen wollen. Er habe beim türkischen Militär als „ausgezeichneter Schütze“ gegolten und habe Ka. absichtlich verfehlt. Beim ersten der beiden Schüsse habe er „neben“ den Zeugen Ka. gezielt; einen weiteren Schuss habe er in die Luft abgegeben, nachdem Ka. geflohen sei. Diese Einlassung hat das Schwurgericht als unwahre Schutzbehauptung bewertet und dabei unter anderem berücksichtigt, dass der Angeklagte im Rahmen der Exploration gegenüber der psychiatrischen Sachverständigen angegeben hatte, er habe den Zeugen Ka. nicht töten, sondern ihm einen „Denkzettel“ verpassen wollen, weshalb er nicht auf Kopf oder Bauch, sondern „nur auf den Arm“ des Zeugen gezielt habe.
3. Seine Überzeugung, dass der Angeklagte bei Abgabe der Schüsse die Möglichkeit des Todeseintritts erkannte und dies billigte, hat das Landgericht unter anderem damit begründet, dass „jeder auf einen Menschen gerichtete Schuss mit einer scharfen Waffe […] wegen der außergewöhnlich großen Lebensgefährlichkeit den Schluss auf bedingten Tötungsvorsatz nahe“ lege. Das Motiv des Angeklagten, dem Zeugen Ka. einen „Denkzettel“ zu verpassen, spreche nicht gegen bedingten Tötungsvorsatz, weil es „in der Natur der Sache“ liege, dass der mit bedingtem Tötungsvorsatz handelnde Täter in Verfolgung seines anders gelagerten Handlungsantriebs in der Regel über kein Tötungsmotiv verfüge.
Die Revision des Angeklagten hat Erfolg. Die Erwägungen des Landgerichts zur subjektiven Tatseite halten rechtlicher Überprüfung nicht stand. Das Vorliegen des voluntativen Elements des bedingten Tötungsvorsatzes ist nicht tragfähig begründet.
1. Bedingten Tötungsvorsatz hat, wer den Eintritt des Todes als mögliche Folge seines Handelns erkennt (Wissenselement) und billigend in Kauf nimmt (Willenselement). Beide Elemente müssen durch tatsächliche Feststellungen belegt werden. Ihre Bejahung oder Verneinung kann nur auf der Grundlage einer Gesamtbetrachtung aller objektiven und subjektiven Umstände erfolgen (Senat, Urteil vom 16. September 2015 - 2 StR 483/14, juris Rn. 14; BGH, Urteil vom 27. Januar 2011 - 4 StR 502/10, NStZ 2011, 699, 702). Die auf der Grundlage der dem Täter bekannten Umstände zu bestimmende objektive Gefährlichkeit der Tathandlung ist dabei ein wesentlicher Indikator für das Vorliegen beider Elemente des bedingten Tötungsvorsatzes (vgl. BGH, Urteil vom 13. Januar 2015 - 5 StR 435/14, NStZ 2015, 216). Hinsichtlich des Willenselements sind neben der konkreten Angriffsweise regelmäßig auch die Persönlichkeit des Täters, sein psychischer Zustand zum Tatzeitpunkt und seine Motivation mit in die erforderliche umfassende Gesamtbetrachtung einzubeziehen (BGH, Urteil vom 11. Oktober 2000 - 3 StR 321/00, BGHR StGB § 212 Abs. 1 Vorsatz, bedingter 51).
a) Zwar liegt es bei äußerst gefährlichen Gewalthandlungen nahe, dass der Täter mit der Möglichkeit rechnet, das Opfer könne dabei zu Tode kommen, und dass er, weil er gleichwohl sein gefährliches Handeln beginnt oder fortsetzt, einen solchen Erfolg billigend in Kauf nimmt (Senat, Beschluss vom 27. August 2013 - 2 StR 148/13, NStZ 2014, 35). Der Schluss von einer besonders gefährlichen Gewalthandlung auf einen bedingten Tötungsvorsatz ist jedoch nur dann rechtsfehlerfrei, wenn der Tatrichter auch die im Einzelfall in Betracht kommenden Umstände in seine Erwägungen einbezogen hat, die den Vorsatz in Frage stellen können (Senat, Urteil vom 26. November 2014 - 2 StR 54/14, NStZ 2015, 516, 517; Urteil vom 27. August 2013 - 2 StR 148/13, NStZ 2014, 35). Liegen Anhaltspunkte dafür vor, dass der Täter die Gefahr des Eintritts eines tödlichen Erfolgs ausnahmsweise nicht erkannt oder jedenfalls darauf vertraut hat, ein solcher Erfolg werde nicht eintreten, ist der Tatrichter verpflichtet, sich hiermit auseinander zu setzen (Senat, Urteil vom 16. September 2015 - 2 StR 483/14, juris Rn. 15).
b) Diese Grundsätze gelten auch in Fallkonstellationen, in denen ein Angeklagter mit einer scharfen Schusswaffe auf sein Tatopfer schießt (vgl. BGH, Beschluss vom 28. November 1995 - 4 StR 642/95, StV 1997, 7; Urteil vom 8. Juni 1993 - 5 StR 88/93, NStZ 1993, 488 f.). Zwar handelt es sich in der Regel um eine besonders gefährliche Gewalthandlung, in der bedingter Tötungsvorsatz nahe liegt. Dies enthebt den Tatrichter indes nicht von der Verpflichtung, die subjektive Tatseite unter Berücksichtigung aller für und gegen sie sprechenden Umstände sorgfältig zu prüfen.
2. Diesen Anforderungen genügt die tatrichterliche Beweiswürdigung in mehrfacher Hinsicht nicht.
a) Bereits die tatrichterliche Erwägung, „jeder auf einen Menschen gerichtete Schuss mit einer scharfen Waffe“ lege „wegen der außergewöhnlich großen Lebensgefährlichkeit den Schluss auf bedingten Tötungsvorsatz nahe“ (UA S. 27), lässt besorgen, dass der Tatrichter das Erfordernis einer umfassenden Gesamtwürdigung aller Umstände nicht hinreichend beachtet hat. Zwar kann der auf einen Menschen abgegebene Schuss mit einer scharfen Waffe wegen der außergewöhnlich großen Lebensgefährlichkeit den Schluss auf bedingten Tötungsvorsatz nahe legen (BGH, a.a.O., StV 1997, 7). Jedoch verbietet sich auch in dieser Fallkonstellation jede schematische Lösung (Schneider, MüKo StGB 2. Aufl. § 212 Rn. 22). Dies gilt auch bei Abgabe von Schüssen aus kurzer Distanz (vgl. Senat, Beschluss vom 1. April 1998 - 2 StR 620/97; Altvater, NStZ 1999, 18).
b) Soweit das Landgericht dem Motiv des Angeklagten, dem Zeugen Ka.- einen „Denkzettel“ zu verpassen, jeden Indizwert für die subjektive Tatseite abgesprochen hat, begegnet auch dies Bedenken. Der tatrichterliche Hinweis, wonach es „in der Natur der Sache“ liege, „dass der mit bedingtem Tötungsvorsatz handelnde Täter in Verfolgung seines anders gelagerten Handlungsantriebs in der Regel über kein Tötungsmotiv“ verfüge (vgl. BGH, Urteil vom 30. November 2005 - 5 StR 344/05, NStZ-RR 2006, 317, 318), greift zu kurz. Zwar trifft es zu, dass der mit bedingtem Tötungsvorsatz handelnde Täter kein Tötungsmotiv im engeren Sinne hat, weil er den tödlichen Erfolg nicht erstrebt, sondern seinen Eintritt lediglich in Kauf nimmt. Dies bedeutet jedoch nicht, dass dem von einem Tötungsmotiv zu unterscheidenden konkreten Handlungsantrieb keine Indizwirkung für die Frage zukommt, ob der Täter mit bedingtem Tötungsvorsatz gehandelt hat oder nicht (vgl. BGH, Urteil vom 23. Februar 2012 - 4 StR 608/11, NStZ 2012, 443). Die Art des jeweiligen Handlungsantriebs kann Hinweise auf die Stärke des vom Täter empfundenen Tatanreizes und damit auch auf seine Bereitschaft geben, zur Erreichung seines Handlungsziels gegebenenfalls schwerste Folgen in Kauf zu nehmen (BGH, Urteil vom 23. Februar 2012 - 4 StR 608/11, NStZ 2012, 443, 445).
Der hier festgestellte Handlungsantrieb des Angeklagten, seinem Tatopfer die eigene Wehrhaftigkeit vor Augen zu führen, es in seine Schranken zu verweisen und ihm für die ausgesprochene Todesdrohung einen „Denkzettel“ zu verpassen, ist im Rahmen der gebotenen umfassenden Gesamtwürdigung aller Umstände zu berücksichtigen (vgl. BGH, Urteil vom 30. November 2005 - 5 StR 344/05, NStZ-RR 2006, 317, 318; Urteil vom 22. Oktober 2002 - 5 StR 275/02, NStZ-RR 2003, 39, 40; Beschluss vom 16. Juli 1996 - 4 StR 326/96, StV 1997, 7, 8; Urteil vom 9. September 1986 - 5 StR 98/86, BGHR StGB § 212 Abs. 1 Vorsatz, bedingter 4). Er könnte gegen das Vorliegen des voluntativen Elements des bedingten Tötungsvorsatzes sprechen, weil insbesondere das Motiv, dem Tatopfer einen „Denkzettel“ zu verpassen, ein Überleben des Tatopfers voraussetzt.
c) Das Landgericht hat darüber hinaus nicht erkennbar in seine Erwägungen eingestellt, dass der Angeklagte den Zeugen Ka. tatsächlich verfehlt hat, obwohl er aus einer geringen Entfernung von wenigen Metern zweimal auf den arglosen und ihm den Rücken zuwendenden Zeugen schoss. Schließlich hätte es im Rahmen der umfassenden Gesamtwürdigung aller Umstände auch eines Eingehens auf die Persönlichkeit des Angeklagten, sein Verhältnis zur Anwendung körperlicher Gewalt zur Durchsetzung seiner Handlungsziele sowie seiner Fähigkeit zur Kontrolle aggressiver Impulse bedurft. Hierzu hätte vorliegend Anlass bestanden, weil das Schwurgericht eine mit einer posttraumatischen Belastungsstörung einher gehende besondere Reizbarkeit und Aggressivität des Angeklagten festgestellt hat.
3. Um dem neuen Tatgericht eine umfassende Neubewertung aller Tatumstände zu ermöglichen, waren neben den Feststellungen zur inneren Tatseite auch die Feststellungen zum äußeren Tatgeschehen aufzuheben. Die für sich genommen rechtsfehlerfreie Verurteilung wegen tateinheitlicher gefährlicher Körperverletzung kann nicht bestehen bleiben (vgl. Gericke, in KK-StPO 7. Aufl. § 353 Rn. 12).
HRRS-Nummer: HRRS 2016 Nr. 156
Externe Fundstellen: NJW 2016, 1970; StV 2017, 536
Bearbeiter: Christoph Henckel/Karsten Gaede