hrr-strafrecht.de - Rechtsprechungsübersicht


HRRS-Nummer: HRRS 2017 Nr. 873

Bearbeiter: Karsten Gaede/Marc-Philipp Bittner

Zitiervorschlag: BGH, 2 StR 257/15, Beschluss v. 11.05.2017, HRRS 2017 Nr. 873


BGH 2 StR 257/15 - Beschluss vom 11. Mai 2017 (LG Köln)

Schmerzensgeld (Bemessung einer billigen Entschädigung in Geld: Einzelfallabwägung; Zuerkennung eines Schmerzensgeldes im Adhäsionsverfahren).

§ 253 Abs. 2 BGB

Leitsätze des Bearbeiters

1. Die Vereinigten Großen Senate haben entschieden, dass bei der Bemessung einer billigen Entschädigung in Geld alle Umstände des Falles berücksichtigt und dabei die wirtschaftlichen Verhältnisse des Schädigers und des Geschädigten nicht von vornherein ausgeschlossen werden können.

2. Für die Überprüfung eines Ausspruchs über die Zuerkennung eines Schmerzensgeldes im Adhäsionsverfahren gilt danach Folgendes: Die Nichtberücksichtigung der wirtschaftlichen Verhältnisse von Angeklagten und Tatopfer stellt entgegen der bisherigen Rechtsprechung der Strafsenate des Bundesgerichtshofs regelmäßig keinen Rechtsfehler dar. Ausnahmsweise ist eine Berücksichtigung vonnöten, wenn die wirtschaftlichen Verhältnisse dem Fall ein „besonderes Gepräge“ geben. Dies ist etwa bei einem wirtschaftlichen Gefälle anzunehmen. Ausführungen dazu, dass die wirtschaftlichen Verhältnisse dem Fall kein besonderes Gepräge geben, sind regelmäßig nicht erforderlich.

3. Hat der Tatrichter die wirtschaftlichen Verhältnisse von Angeklagtem oder Tatopfer, ohne dass diese dem Fall ihr besonderes Gepräge geben, gleichwohl bei der Bemessung des Schmerzensgeldes berücksichtigt, stellt dies regelmäßig einen Rechtsfehler dar, bei dem anhand der tatrichterlichen Erwägungen im Einzelfall zu prüfen ist, ob die angefochtene Adhäsionsentscheidung darauf zum Nachteil des Angeklagten beruhen kann. Die Berücksichtigung schlechter finanzieller Verhältnisse des Angeklagten wird sich regelmäßig nicht zu seinem Nachteil ausgewirkt haben, hingegen liegt es nahe, dass die Einbeziehung einer wirtschaftlich schlechten Situation des Tatopfers zu einer Erhöhung des Schmerzensgeldes geführt und sich nachteilig ausgewirkt hat.

Entscheidungstenor

1. Die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Köln vom 24. Februar 2015 wird verworfen, auch soweit sie sich gegen die Adhäsionsentscheidung richtet.

2. Der Beschwerdeführer hat die Kosten seines Rechtsmittels und die der Nebenklägerin im Revisionsverfahren entstandenen notwendigen Auslagen zu tragen.

Gründe

Das Landgericht hatte den Angeklagten durch Urteil vom 24. Februar 2015 wegen besonders schwerer Vergewaltigung in Tateinheit mit schwerer Entziehung Minderjähriger und Menschenraub zu einer Freiheitsstrafe von neun Jahren und sechs Monaten verurteilt. Ferner hat es den Angeklagten verurteilt, an die Nebenklägerin 35.000 Euro nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 21. Februar 2015 zu zahlen. Das Landgericht hat schließlich die Verpflichtung des Angeklagten festgestellt, der Nebenklägerin sämtliche weitere immateriellen und sämtliche gegenwärtigen oder zukünftigen materiellen Schäden aufgrund der Tat vom 27. bis 29. September 2014 zu ersetzen, soweit diese nicht bereits auf Dritte übergegangen sind oder noch übergehen werden.

Mit Beschluss vom 22. Dezember 2015 hat der Senat die Revision des Angeklagten verworfen, soweit sie sich gegen den Schuldspruch und den Strafausspruch richtete, und den Adhäsionsausspruch aufgehoben, soweit das Landgericht eine Feststellungsentscheidung zum Ersatz gegenwärtiger materieller Schäden getroffen hat. Die Entscheidung über die Revision gegen die im Übrigen getroffene weitere Adhäsionsentscheidung sowie über die Kosten des Rechtsmittels hat der Senat im Hinblick auf das mit Beschluss vom 8. Oktober 2014 - 2 StR 137/14 u.a. (NStZ-RR 2015, 382) bei den anderen Strafsenaten und beim Großen Senat für Zivilsachen eingeleitete Anfrageverfahren zur Frage der Bemessung eines Schmerzensgeldes zurückgestellt und sie einer abschließenden Entscheidung vorbehalten. Nach der Entscheidung der Vereinigten Großen Senate des Bundesgerichtshofs vom 16. September 2016 - VGS 1/16 (JR 2017, 179), bei dem der Senat mit Beschluss vom 14. April 2016 - 2 StR 137/14 u.a. die Frage vorgelegt hatte, ob bei der Bemessung der billigen Entschädigung in Geld (§ 253 Abs. 2 BGB) die wirtschaftlichen Verhältnisse des Schädigers und des Geschädigten berücksichtigt werden dürfen und wenn ja, nach welchen Maßstäben, war nunmehr die gegen die Adhäsionsentscheidung gerichtete Revision des Angeklagten zu verwerfen.

I.

Die Vereinigten Großen Senate haben entschieden, dass bei der Bemessung einer billigen Entschädigung in Geld nach § 253 Abs. 2 BGB (§ 847 BGB aF) alle Umstände des Falles berücksichtigt und dabei die wirtschaftlichen Verhältnisse des Schädigers und des Geschädigten nicht von vornherein ausgeschlossen werden können (BGH, Vereinigte Große Senate, Beschluss vom 16. September 2016 - VGS 1/16).

Das Schmerzensgeld hat nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs rechtlich eine doppelte Funktion. Es soll dem Geschädigten einen angemessenen Ausgleich bieten für diejenigen Schäden, für diejenige Lebenshemmung, die nicht vermögensrechtlicher Art sind (Ausgleichsfunktion). Es soll aber zugleich dem Gedanken Rechnung tragen, dass der Schädiger dem Geschädigten für das, was er ihm angetan hat, Genugtuung schuldet (Genugtuungsfunktion, st. Rspr., grundlegend BGH, Großer Senat für Zivilsachen, Beschluss vom 6. Juli 1955 - GSZ 1/55, BGHZ 18, 149, 154 ff.; BGH, Urteile vom 13. Oktober 1992 - VI ZR 201/91, BGHZ 120, 1, 4 f.; vom 29. November 1994 - VI ZR 93/94, BGHZ 128, 117, 120 f.).

Dabei steht der Entschädigungs- oder Ausgleichsgedanke im Vordergrund. Im Hinblick auf diese Zweckbestimmung des Schmerzensgeldes bildet die Rücksicht auf Größe, Heftigkeit und Dauer der Schmerzen, Leiden und Entstellungen die wesentlichste Grundlage bei der Bemessung der billigen Entschädigung. Für bestimmte Gruppen von immateriellen Schäden hat aber auch die Genugtuungsfunktion, die aus der Regelung der Entschädigung für immaterielle Schäden nicht wegzudenken ist, eine besondere Bedeutung. Sie bringt insbesondere bei vorsätzlichen Taten eine durch den Schadensfall hervorgerufene persönliche Beziehung zwischen Schädiger und Geschädigtem zum Ausdruck, die nach der Natur der Sache bei der Bestimmung der Leistung die Berücksichtigung aller Umstände des Falles gebietet (BGH, Großer Senat für Zivilsachen, Beschluss vom 6. Juli 1955 - GSZ 1/55, BGHZ 18, 149, 157; BGH, Urteil vom 16. Januar 1996 - VI ZR 109/95, VersR 1996, 382).

Bei der Bemessung der billigen Entschädigung in Geld stehen deshalb die Höhe und das Maß der Lebensbeeinträchtigung ganz im Vordergrund. Daneben können aber auch alle anderen Umstände berücksichtigt werden, die dem einzelnen Schadensfall sein besonderes Gepräge geben, wie etwa der Grad des Verschuldens des Schädigers, im Einzelfall aber auch die wirtschaftlichen Verhältnisse des Geschädigten oder diejenigen des Schädigers (BGH, Vereinigte Große Senate, Beschluss vom 16. September 2016 - VGS 1/16, juris Rn. 55). Ein mit zu berücksichtigender Umstand kann dabei die Verletzung einer „armen“ Partei durch einen vermögenden Schädiger etwa bei einem außergewöhnlichen „wirtschaftlichen Gefälle“ sein (BGH, Vereinigte Große Senate, Beschluss vom 16. September 2016 - VGS 1/16, juris Rn. 57). Indem der (Tat-)Richter im ersten Schritt alle Umstände des Falles in den Blick nimmt, dann die prägenden Umstände auswählt und gewichtet, dabei gegebenenfalls auch die (wirtschaftlichen) Verhältnisse der Parteien zueinander in Beziehung setzt, ergibt sich im Einzelfall, welche Entschädigung billig ist (BGH, Vereinigte Große Senate, Beschluss vom 16. September 2016 - VGS 1/16, juris Rn. 56, 70).

Zur Überprüfung seiner Entscheidung durch das Revisionsgericht ist der Tatrichter regelmäßig gehalten, die für die Schmerzensgeldbemessung prägenden einzelnen Umstände, im Regelfall vor allem die Höhe und das Maß der Lebensbeeinträchtigung, in seiner Entscheidung zu benennen, im Rahmen einer sich daran anschließenden Gesamtwürdigung gegeneinander abzuwägen und daraus ein den einzelnen Fall gerecht werdendes Schmerzensgeld festzusetzen. Feststellungen zu den wirtschaftlichen Verhältnissen von Schädiger und Geschädigtem und Ausführungen zu deren Einfluss auf die Bemessung der billigen Entschädigung sind dabei nur geboten, wenn die wirtschaftlichen Verhältnisse dem Einzelfall ein besonderes Gepräge geben und deshalb bei der Entscheidung ausnahmsweise berücksichtigt werden mussten (BGH, Vereinigte Große Senate, Beschluss vom 16. September 2016 - VGS 1/16, juris Rn. 72).

Für die Überprüfung eines Ausspruchs über die Zuerkennung eines Schmerzensgeldes im Adhäsionsverfahren gilt danach Folgendes:

Die Nichtberücksichtigung der wirtschaftlichen Verhältnisse von Angeklagtem und Tatopfer stellt entgegen der bisherigen Rechtsprechung der Strafsenate des Bundesgerichtshofs regelmäßig keinen Rechtsfehler dar. Ausnahmsweise ist eine Berücksichtigung vonnöten, wenn die wirtschaftlichen Verhältnisse dem Fall ein „besonderes Gepräge“ geben. Dies ist etwa bei einem wirtschaftlichen Gefälle anzunehmen. Ausführungen dazu, dass die wirtschaftlichen Verhältnisse dem Fall kein besonderes Gepräge geben, sind regelmäßig nicht erforderlich.

Hat der Tatrichter die wirtschaftlichen Verhältnisse von Angeklagtem oder Tatopfer, ohne dass diese dem Fall ihr besonderes Gepräge geben, gleichwohl bei der Bemessung des Schmerzensgeldes berücksichtigt, stellt dies regelmäßig einen Rechtsfehler dar, bei dem anhand der tatrichterlichen Erwägungen im Einzelfall zu prüfen ist, ob die angefochtene Adhäsionsentscheidung darauf zum Nachteil des Angeklagten beruhen kann. Die Berücksichtigung schlechter finanzieller Verhältnisse des Angeklagten wird sich regelmäßig nicht zu seinem Nachteil ausgewirkt haben, hingegen liegt es nahe, dass die Einbeziehung einer wirtschaftlich schlechten Situation des Tatopfers zu einer Erhöhung des Schmerzensgeldes geführt und sich nachteilig ausgewirkt hat.

II.

1. Nach diesen Maßstäben begegnet die Adhäsionsentscheidung des angefochtenen Urteils, soweit der Angeklagte zur Zahlung eines Schmerzensgeldes in Höhe von 35.000 Euro nebst Zinsen verurteilt worden ist, keinen durchgreifenden rechtlichen Bedenken. Das Landgericht hat sich bei der Bemessung des Schmerzensgeldes entscheidend an dem Ausmaß des von dem Angeklagten verwirklichten Tatunrechts und den Folgen für das Opfer orientiert. Zwar hat es auch die schlechten wirtschaftlichen Verhältnisse sowohl des Angeklagten als auch der Geschädigten in den Blick genommen. Dem Gesamtzusammenhang der Urteilsgründe ist aber zu entnehmen, dass die Berücksichtigung der beiderseitigen schlechten wirtschaftlichen Verhältnisse im Ergebnis keinen Einfluss auf die Höhe des Schmerzensgeldes genommen hat. Der Senat kann daher ausschließen, dass das Urteil auf der unter den hier gegebenen Umständen rechtsfehlerhaft erfolgten Berücksichtigung der wirtschaftlichen Verhältnisse der Beteiligten beruht.

2. Die verbleibende Feststellungsentscheidung weist aus den zutreffenden Gründen der Antragsschrift des Generalbundesanwalts keinen Rechtsfehler auf.

HRRS-Nummer: HRRS 2017 Nr. 873

Bearbeiter: Karsten Gaede/Marc-Philipp Bittner