hrr-strafrecht.de - Rechtsprechungsübersicht


HRRS-Nummer: HRRS 2014 Nr. 1059

Bearbeiter: Christian Becker

Zitiervorschlag: BGH, AK 29/14, Beschluss v. 16.10.2014, HRRS 2014 Nr. 1059


BGH AK 29/14 - Beschluss vom 16. Oktober 2014

Unterstützung einer terroristischen Vereinigung im Ausland außerhalb der Mitgliedstaaten der Europäischen Union ("Islamischer Staat"); Fortdauer der Untersuchungshaft (dringender Tatverdacht; Fluchtgefahr).

§ 129a StGB; § 129b StGB; § 112 StPO; § 116 StPO; § 121 StPO

Entscheidungstenor

Die Untersuchungshaft hat fortzudauern.

Eine etwa weiter erforderliche Haftprüfung durch den Bundesgerichtshof findet in drei Monaten statt.

Bis zu diesem Zeitpunkt wird die Haftprüfung dem Oberlandesgericht Düsseldorf übertragen.

Gründe

I.

Die Angeschuldigte wurde am 31. März 2014 aufgrund des Haftbefehls des Ermittlungsrichters des Bundesgerichtshofs vom 28. März 2014 (2 BGs 102/14) festgenommen und befindet sich seither ununterbrochen in Untersuchungshaft. Gegenstand des Haftbefehls ist der Vorwurf, die Angeschuldigte, eine deutsche Staatsangehörige, habe in Bonn im Februar 2014 durch vier rechtlich selbständige Handlungen, teilweise gemeinschaftlich mit anderen und durch einen Dritten handelnd, eine terroristische Vereinigung im Ausland außerhalb der Mitgliedstaaten der Europäischen Union unterstützt, deren Zwecke und deren Tätigkeit darauf gerichtet sind, Mord (§ 211 StGB) und Totschlag (§ 212 StGB) sowie gemeingefährliche Straftaten in den Fällen des § 308 Abs. 1 bis 4 StGB zu begehen (Vergehen, strafbar nach § 129a Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2 Nr. 2, Abs. 5 Satz 1, § 129b Abs. 1 Sätze 1 und 2 StGB); sie habe die ausländische terroristische Vereinigung "Islamischer Staat im Irak und Großsyrien" (abgekürzt: ISIG) durch vier Geldzahlungen in Höhe von insgesamt 4.797,30 € an den gesondert Verfolgten S., der sich der Vereinigung mit Wissen der Angeschuldigten als Kämpfer angeschlossen hatte, unterstützt.

Der Generalbundesanwalt beim Bundesgerichtshof hat gegen die Angeschuldigte unter dem 15. September 2014 Anklage zum Staatsschutzsenat des Oberlandesgerichts Düsseldorf erhoben. Gegenstand der Anklage sind neben den Vorwürfen aus dem Haftbefehl vier weitere Unterstützungshandlungen in Form von Übergaben von Ausrüstungsgegenständen und Geldbeträgen an S.

Eine Ermächtigung zur Verfolgung von Straftaten u.a. durch Mitglieder oder Unterstützer des "ISIG", die deutsche Staatsangehörige sind, sich in der Bundesrepublik Deutschland aufhalten oder hier tätig werden, hat das Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz am 6. Januar 2014 erteilt (§ 129b Abs. 1 Satz 3 StGB).

II.

Die Voraussetzungen für die Fortdauer der Untersuchungshaft über sechs Monate hinaus liegen vor.

1. Die Angeschuldigte ist der ihr im Haftbefehl vorgeworfenen Taten dringend verdächtig.

a) Nach gegenwärtigem Erkenntnisstand ist im Sinne eines dringenden Tatverdachts von folgendem Sachverhalt auszugehen:

aa) "Islamischer Staat im Irak und in Großsyrien/ad Dawla al Islamiya fil Iraq wash Sham (ISIG/DAAISH)"

Beim "Islamischen Staat im Irak und in Großsyrien" handelt es sich um eine Organisation mit militant-fundamentalistischer islamischer Ausrichtung, die es sich zum Ziel gesetzt hat, einen das Gebiet des heutigen Irak und die historische Region "ash Sham" - die heutigen Staaten Syrien, Libanon und Jordanien sowie Palästina - umfassenden und auf ihrer Ideologie gründenden "Gottesstaat" zu errichten. Wer sich den Ansprüchen dieser Vereinigung entgegensetzt, wird begriffen als "Feind des Islam"; die Tötung solcher "Feinde" oder ihre Einschüchterung durch Gewaltakte hält sie für ein legitimes Mittel des Kampfes.

Die Organisation geht zurück auf die von Abu Musab azZarqawi Anfang 2004 als Widerstandsgruppe gegen die US-Präsenz im Irak gegründete "Jama'at at Tauhid wal Dschihad" ("Gemeinschaft des einen Gottes und des Kampfes"). Im Oktober 2004 leistete az Zarqawi die bai'at (den Treueeid) auf Osama bin Laden und dessen "al Qa'ida", worauf sich die Gruppierung umbenannte in "Tanzim Qa'idat al Jihad fi Bilad ar Rafidain" ("Organisation der Basis des Jihad im Zweistromland") und bekannt wurde als "al Qa'ida im Irak (AQI)". Im Dezember 2005 ernannte bin Laden az Zarqawi zu seinem Stellvertreter im Irak. Die "AQI" trat zunächst hervor mit Angriffen auf zivile Angehörige westlicher Staaten im Irak, die Opfer von Anschlägen, Entführungen und - auf sodann verbreiteten Videofilmen festgehaltenen - Hinrichtungen wurden. Ab Herbst 2005 verlegte sie sich auf medienwirksame Sprengstoffanschläge, vornehmlich in Bagdad und im Nordwestirak, aber am 9. November 2005 auch auf mehrere Hotels in Amman/Jordanien.

Anfang 2006 schloss sich die "AQI" zunächst unter der Dachorganisation "Schura Rat der Mudschaheddin im Irak" mit weiteren Gruppierungen zusammen. Nach Zarqawis Tod im Juni 2006 rief dessen Nachfolger Abu Ayyub al Masri im Oktober 2006 einen das Gebiet von Bagdad und mehrere Nordwestprovinzen umfassenden islamischen Staat aus und benannte den Zusammenschluss um in "ad Dawlat al Islamiya fil Iraq" ("Islamischer Staat im Irak", "ISI"). Die von den USA gegen den "ISI" ins Leben gerufene und mit Waffen ausgerüstete, zeitweise bis zu 100.000 Stammesangehörige umfassende "Erweckungsbewegung" führte zu keiner entscheidenden Schwächung. So fielen den Autobomben- und Selbstmordanschlägen des "ISI" im Irak allein 2007 etwa 1.900 Menschen zum Opfer; 2008 bis 2012 kam es bei Anschlägen vor allem auf schiitische Moscheen und Pilger sowie auf frequentierte Märkte zu insgesamt etwa 3.000 Toten.

Im Frühjahr 2010 wurde al Masri bei einer Operation der US-Armee und der irakischen Regierungstruppen getötet. Sein Nachfolger wurde Abu Bakr al Baghdadi. Unter dessen Führung beteiligte sich der "ISI" nach dem am 11. Februar 2012 veröffentlichten Aufruf des zwischenzeitlichen "al Qa'ida"-Anführers Aiman az Zawahiri an die Muslime des Nahen Ostens, den Kampf gegen das Assad-Regime aufzunehmen, auch am syrischen Bürgerkrieg. Dabei kooperierte er unter anderem mit der 2011 gegründeten, vom Syrer Muhammad al Jawlani angeführten Kämpfergruppe "Jabhat an Nusra li Ahl ash Sham" ("Hilfsfront für das syrische Volk"; "an Nusra Front"), deren Aktionen sich vornehmlich gegen Einrichtungen und Angehörige der Assad-Armee richteten. Im April 2013 verkündete al Baghdadi die Vereinigung von "ISI" und "an Nusra" zum "Islamischen Staat im Irak und in Großsyrien/ad Dawlat al Islamiya fil Iraq wash Sham (ISIG/DAAISH)". Dem widersprach al Jawlani und leistete seinerseits die bai'at auf az Zawahiri, worauf dieser den Zusammenschluss annullierte und beide Parteien zur Beilegung ihrer Streitigkeiten auf der Grundlage einer Gebietsabgrenzung - "ISIG" im Irak, "an Nusra" in Syrien - aufrief. Dies führte zum Bruch al Baghdadis sowohl mit "al Qa'ida" als auch mit "an Nusra". In Veröffentlichungen vom 15. und 28. Juni 2013 warf er az Zawahiri die "Heiligsprechung" des Sykes-Picot-Abkommens vor und erklärte "an Nusra" zum Teil des "ISIG" sowie al Jawlani zum "Abtrünnigen".

Dem "ISIG" gelang es, sich in einigen Regionen Nordsyriens als Ordnungsmacht festzusetzen. Aus dem Kampf gegen das Assad-Regime zog sich die Organisation in der Folge weitgehend zurück und konzentrierte sich auf die Machterhaltung in den von ihr beherrschten Gebieten. Angehörige anderer Oppositionsgruppen sowie die Teile der Zivilbevölkerung, die den Herrschaftsanspruch des "ISIG" in Frage stellten, sahen sich Verhaftung, Folter und Hinrichtung ausgesetzt. Im August 2013 kam es bei Operationen mehrerer Gruppen in der Provinz Latakia unter der Führung des "ISIG" zu Massakern unter der regierungstreuen alawitischen Zivilbevölkerung, denen 190 Menschen zum Opfer fielen; weitere ca. 200 wurden entführt. Unter den syrischen Oppositionsgruppen ist die Organisation wegen des von ihr eingeschlagenen Weges zwischenzeitlich isoliert; teils im offenen Kampf gegen den "ISIG" haben andere Gruppierungen in einigen Regionen wieder die Oberhand gewonnen. Auch "al Qa'ida" distanzierte sich Mitte Mai 2014 ausdrücklich vom Vorgehen des "ISIG".

Wegen der Parteinahme der libanesischen "Hizbollah" für das Assad-Regime verübte der "ISIG" ferner am 2. Januar 2014 einen Bombenanschlag in einem schiitischen Wohngebiet in Beirut, der vier Menschen tötete und 77 verletzte. Daneben kam es zu weiteren Aktionen im Irak, so zu dem Überfall auf die Gefängnisse in Abu Ghuraib und Tadshi am 22. Juli 2013 sowie einen Selbstmordanschlag in Arbil am 29. September 2013 mit jeweils mehreren Todesopfern. Anfang Juni 2014 gelang es ihm, die Stadt Mosul unter seine Gewalt zu bringen. Am 29. Juni 2014 rief der "ISIG" durch seinen offiziellen Sprecher Abu Muhammad al Adnani das Kalifat aus und benannte sich in "Der islamische Staat" um. Zum Kalifen "Ibrahim" wurde der Emir der Organisation, Abu Bakr al Baghdadi, ernannt. Die Organisation erhebt seither den Führungsanspruch in der globalen Jihad-Bewegung.

Die Führung des "ISIG" besteht aus dem "Emir", derzeit Abu Bakr al Baghdadi, dem "Minister" als Verantwortliche für einzelne Bereiche unterstellt sind, so ein "Kriegsminister" und ein "Propagandaminister". Zugeordnet sind der Führungsebene beratende "Shura-Räte" sowie "Gerichte", die über die Einhaltung der Regeln der Sharia wachen. Veröffentlichungen werden in der Medienabteilung "Al Furqan" produziert und über die Medienstelle "alI'tisam" verbreitet. Das auch von den Kampfeinheiten verwendete Symbol der Vereinigung besteht aus dem "Prophetensiegel", einem weißen Oval mit der Inschrift: "Allah - Rasul - Muhammad", auf schwarzem Grund, überschrieben mit dem islamischen Glaubensbekenntnis.

Die etwa 10.000 bis 15.000 Kämpfer - im Kern bestehend aus sunnitischen Teilen der ehemaligen Streitkräfte des Regimes von Saddam Hussein - sind dem "Kriegsminister" unterstellt und in lokale Kampfeinheiten mit jeweils einem Kommandeur gegliedert.

bb) Die Tathandlungen der Angeschuldigten:

Die Angeschuldigte ist nach islamischem Recht mit dem gesondert Verfolgten S. verheiratet, der Mitte 2013 nach Syrien ging, sich dort Ende September 2013 dem ISIG als kämpfendes Mitglied anschloss und unter anderem an dem Überfall auf das Gasfeld Sha'ar in der Nähe von Homs am 17. Juli 2014 beteiligt war. Der Bitte S. s um Überweisung von Geld, das für die militärische Ausrüstung und "die Brüder" benötigt würde, entsprach die Angeschuldigte. Sie sicherte S. am 2. Februar 2014 in einem Telefonat zu, Geld an einen von diesem benannten Mittelsmann in der Türkei zu schicken. Am 4. Februar 2014 überwies sie selbst 1.000 €. Am 17. Februar 2014 übergab sie ihrer Freundin Z. 1.597,30 €, die diese auf ihre Bitte hin überwies. An Überweisungen von 1.000 € am 6. Februar 2014 und von 1.200 € am 19. Februar 2014 durch den Mitangeschuldigten M. wirkte die Angeschuldigte mit. Das Geld erhielt S. jeweils von dem Mittelsmann in bar ausgehändigt. Er verwendete es teilweise dazu, Nahrung und Kampfmittel (Granaten) für sich und seine Mitkämpfer vom "ISIG" zu kaufen. Wegen der weiteren Einzelheiten der Tathandlungen wird auf den Haftbefehl und die Anklageschrift Bezug genommen.

b) Die Angeschuldigte hat sich zu den Tatvorwürfen nicht geäußert. Der dringende Tatverdacht ergibt sich aus den im Haftbefehl und in der Anklageschrift vom 15. September 2014 ausführlich dargelegten Beweismitteln, zu den Strukturen des "ISIG" insbesondere aus den verschiedenen Auswertevermerken des Bundeskriminalamts sowie Behördenzeugnissen des Bundesnachrichtendienstes, zu der Einbindung der Angeschuldigten im Wesentlichen aus Telefongesprächen, elektronischen Speichermedien und Ermittlungen beim Finanzdienstleister Western Union.

2. Es besteht der Haftgrund der Fluchtgefahr (§ 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO). Die Angeschuldigte hat im Falle ihrer Verurteilung mit einer erheblichen, Fluchtanreiz bildenden Freiheitsstrafe zu rechnen. Sie ist mit ihrem am 2. Oktober 2012 geborenen Sohn bereits im Mai 2013 nach Syrien gereist und hat sich dort einige Zeit aufgehalten. Im Spätherbst 2013 unternahm sie eine weitere Reise dorthin. Vor ihrer Festnahme beabsichtigte sie, sich erneut mit ihrem Sohn zu S. nach Syrien zu begeben. Die Angeschuldigte kann mit hoher Wahrscheinlichkeit auf ein Netzwerk Gleichgesinnter zurückgreifen, das sie im Falle des Untertauchens unterstützt. Der Zweck der Untersuchungshaft kann deshalb auch nicht durch weniger einschneidende Maßnahmen als deren Vollzug erreicht werden (§ 116 Abs. 1 StPO).

3. Die besonderen Voraussetzungen für die Fortdauer der Untersuchungshaft über sechs Monate hinaus (§ 121 Abs. 1 StPO) liegen vor. Die besondere Schwierigkeit und der Umfang des Verfahrens haben ein Urteil bislang noch nicht zugelassen.

Nach der Festnahme der Angeschuldigten am 31. März 2014 mussten zunächst zahlreiche sichergestellte digitale Datenträger ausgewertet werden, was sich als technisch schwierig und zeitaufwändig erwies. Auf der so erlangten Tatsachengrundlage hat der Generalbundesanwalt unter dem 15. September 2014 die Anklageschrift erstellt. Diese ist am 17. September 2014 beim zuständigen Staatsschutzsenat des Oberlandesgerichts Düsseldorf eingegangen. Dessen Vorsitzende hat am Tag darauf die Zustellung an den Verteidiger verfügt und eine Erklärungsfrist bis zum 31. Oktober 2014 eingeräumt. Für den Fall der Eröffnung des Hauptverfahrens ist geplant, mit der Hauptverhandlung in der 50. Kalenderwoche 2014 zu beginnen.

Das Verfahren ist danach mit der in Haftsachen gebotenen Beschleunigung geführt worden.

4. Der weitere Vollzug der Untersuchungshaft steht auch noch nicht außer Verhältnis zur Bedeutung der Sache und der im Falle einer Verurteilung zu erwartenden Strafe.

HRRS-Nummer: HRRS 2014 Nr. 1059

Bearbeiter: Christian Becker