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HRRS-Nummer: HRRS 2015 Nr. 1161

Bearbeiter: Christoph Henckel/Karsten Gaede

Zitiervorschlag: BGH, 2 StR 373/14, Beschluss v. 06.10.2015, HRRS 2015 Nr. 1161


BGH 2 StR 373/14 - Beschluss vom 6. Oktober 2015 (LG Wiesbaden)

Tatrichterliche Beweiswürdigung (revisionsrechtliche Überprüfbarkeit: tragfähige Tatsachengrundlage; Anforderungen an die Darstellung im Urteil).

§ 261 StPO; § 267 Abs. 1 Satz 1 StPO

Leitsatz des Bearbeiters

Die zur richterlichen Überzeugung erforderliche persönliche Gewissheit des Richters setzt objektive Grundlagen voraus. Diese müssen aus rationalen Gründen den Schluss erlauben, dass das festgestellte Geschehen mit hoher Wahrscheinlichkeit mit der Wirklichkeit übereinstimmt. Das ist der Nachprüfung durch das Revisionsgericht zugänglich. Deshalb müssen die Urteilsgründe erkennen lassen, dass die Beweiswürdigung auf einer tragfähigen Tatsachengrundlage beruht.

Entscheidungstenor

Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Wiesbaden vom 10. April 2014 mit den Feststellungen aufgehoben. Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere als Schwurgericht zuständige Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Dem Angeklagten wird unter Beiordnung seines Verteidigers Rechtsanwalt H. Prozesskostenhilfe für das Adhäsionsverfahren in der Revisionsinstanz ohne Ratenzahlung gewährt.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen gefährlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren und sechs Monaten verurteilt. Außerdem hat es ihn verurteilt, an den Nebenkläger ein Schmerzensgeld in Höhe von 7.500 Euro nebst Zinsen zu zahlen. Gegen dieses Urteil richtet sich die auf eine Verfahrensrüge und die Sachbeschwerde gestützte Revision des Angeklagten. Das Rechtsmittel hat Erfolg.

I.

1. Nach den Feststellungen des Landgerichts tranken der Angeklagte P., der Nichtrevident B., der gesondert verfolgte Zeuge D., der Nebenkläger Be. und der Zeuge Hu. am 16. August 2013 gemeinsam Kaffee. Nach eineinhalb Stunden verließen die Angeklagten die Wohnung, um einzukaufen. Der Zeuge D. fragte die anderen nach ihrem Eindruck von den Angeklagten. Der Nebenkläger erklärte, er halte nicht viel von ihnen und werde „ihre Mutter ficken“. Dies nahm der Zeuge D. mit dem Mobiltelefon auf, um den Angeklagten beweisen zu können, dass der Nebenkläger schlecht über sie rede. Später spielte der Zeuge D. den Angeklagten diese Aufnahme vor. Die Angeklagten ärgerten sich darüber.

Der Zeuge Hu. berichtete dem Nebenkläger davon, was der Zeuge D. getan hatte. Der Nebenkläger wertete das Verhalten des Zeugen D. als Verrat. Er rief ihn an, machte ihm Vorwürfe und kündigte an, er werde alsbald mit dem Zeugen Hu. erscheinen, um ihn zur Rede zu stellen. D. sah ihn kurz darauf vom Fenster seiner Wohnung aus herbeikommen. Er rief den Angeklagten P. an und informierte diesen über die Lage. Dann versuchte er zu Fuß aus dem Haus zu fliehen. Der Nebenkläger folgte ihm. Die beiden Angeklagten eilten mit dem Auto herbei. Sie sahen den Zeugen D. auf dem Boden sitzen und den Nebenkläger auf der Straße neben ihm stehen. Es kam zu einer Diskussion. Schließlich schlug der Angeklagte P. vor, dass man lieber an einen anderen Ort und in Ruhe miteinander reden solle.

Die Angeklagten, der Nebenkläger und der Zeuge D. fuhren im Auto des Angeklagten B. davon. Unterwegs entschlossen sich die Angeklagten, den Nebenkläger zu bestrafen. Sie fuhren zu einem Waldparkplatz, wo alle ausstiegen. Der Zeuge D. setzte sich auf eine Bank. Der Nebenkläger wollte zu ihm gehen, jedoch stellte sich der Angeklagte B. ihm in den Weg. Der Nebenkläger versuchte, an dem Angeklagten B. vorbeizukommen und schlug nach ihm. Dies nahm der Angeklagte B. zum Anlass, mit einem Messer auf den Nebenkläger einzustechen. Er traf ihn in die linke Schulter, in die linke Flanke und in die rechte Brustseite. Der Angeklagte P. stach den Nebenkläger einmal von hinten in den Rücken.

Dann glaubten die Angeklagten, dass der Nebenkläger genug bestraft sei, und stiegen zusammen mit dem Zeugen D. ins Auto. Sie ließen den Nebenkläger verletzt zurück. Dieser schleppte sich zu einem Haus und wurde dort kurz darauf notärztlich versorgt. Seine Verletzungen waren potentiell lebensgefährlich.

2. Der Angeklagte B. hat seine Tat im Wesentlichen eingeräumt. Er hat aber betont, der Angeklagte P. habe nur versucht, ihn vom Nebenkläger zu trennen. Der Beschwerdeführer seinerseits hat angegeben, er habe nur schlichten wollen; er habe kein Messer mitgeführt. Der Zeuge D. hat ebenfalls erklärt, der Angeklagte P. habe nur schlichten wollen. Auch der Nebenkläger hatte zuerst bei der Polizei nur davon berichtet, der Angeklagte B. habe auf ihn eingestochen. Dies hat er bei einer Vernehmung am 19. August 2013 dahin korrigiert, dass auch der Angeklagte P. zugestochen habe. Der Angeklagte B. habe seitlich vor ihm gestanden. Plötzlich sei er von diesem in die rechte Brustseite gestochen worden. Er habe sich nach rechts gedreht und einen Stich in die Schulter bekommen, dies könne nur durch den Angeklagten P. geschehen sein. Dann habe der Angeklagte B. ihn in die linke Körperseite gestochen.

Das Landgericht hat angenommen, die Aussage des Nebenklägers, auch der Angeklagte P. habe auf ihn eingestochen, sei glaubhaft und werde durch ergänzende Indizien unterstützt. Nach den Ausführungen des vernommenen medizinischen Sachverständigen stehe fest, dass der Nebenkläger vier Stichverletzungen erhalten habe, wobei sich eine dieser Verletzungen, nämlich diejenige unterhalb des linken Schulterblatts, nicht mit einem Zustechen von vorne vereinbaren lasse. Außerdem habe der Angeklagte P. an der Hand leichte Schnittverletzungen gehabt, die für Abwehrverletzungen zu dezent seien, aber damit erklärt werden könnten, dass er selbst ein Messer geführt habe. Er habe am rechten Daumen eine Schnittverletzung, ferner einen Ritzer am rechten Ringfinger, eine schnittartige Verletzung am linken Daumen und einen Kratzer am linken Mittelfinger aufgewiesen. Solche Verletzungen könnten beim Führen eines scharfen Gegenstands entstanden sein, wenn die Finger bei Auftreffen auf einen Widerstand über die Schneide abrutschen. Schließlich seien an der Kleidung des Angeklagten P. Blutspritzer gefunden, die vom Nebenkläger stammten.

II.

Die Revision des Angeklagten P. gegen dieses Urteil ist begründet. Die Sachrüge deckt Rechtsfehler bei der Beweiswürdigung auf. Auf die Verfahrensrüge kommt es danach nicht mehr an.

1. Das Revisionsgericht hat die Beweiswürdigung des Tatrichters grundsätzlich hinzunehmen und sich auf die Prüfung zu beschränken, ob die Urteilsgründe Rechtsfehler enthalten. Das Ergebnis der Hauptverhandlung festzustellen und zu würdigen, ist Sache des Tatrichters. Seine Schlussfolgerungen brauchen nicht zwingend zu sein; es genügt, dass sie möglich sind und der Tatrichter von ihrer Richtigkeit nach rechtsfehlerfreier Würdigung, die nicht widersprüchlich, lückenhaft oder unklar sein darf, überzeugt ist. Die zur richterlichen Überzeugung erforderliche persönliche Gewissheit des Richters setzt aber objektive Grundlagen voraus. Diese müssen aus rationalen Gründen den Schluss erlauben, dass das festgestellte Geschehen mit hoher Wahrscheinlichkeit mit der Wirklichkeit übereinstimmt. Das ist der Nachprüfung durch das Revisionsgericht zugänglich. Deshalb müssen die Urteilsgründe erkennen lassen, dass die Beweiswürdigung auf einer tragfähigen Tatsachengrundlage beruht.

2. Nach diesem Maßstab begegnet die Beweiswürdigung des Landgerichts durchgreifenden rechtlichen Bedenken. Sie erweist sich als lückenhaft.

a) Die Feststellungen des Landgerichts geben das dynamische Geschehen verkürzt wieder und seine Beweiswürdigung bezieht sich nur auf eine Situation, in welcher der Nebenkläger ohne wesentliche eigene Körperbewegung dreimal von vorne und einmal von hinten getroffen wurde. Dabei bleibt unberücksichtigt, dass der Nebenkläger unterschiedliche Angaben zum Geschehensablauf gemacht hat. Nach seiner Aussage bei der polizeilichen Vernehmung vom 17. August 2013 war er nach der ersten Stichverletzung zu Boden gefallen und auch dort zweimal getroffen worden. Beim Aufstehen sei er abermals gestochen worden. Damit wurden Verletzungen im Stehen, Liegen und beim Aufstehen genannt, welche durch den Bewegungsablauf des Opfers und möglicherweise durch eine zwischenzeitliche Änderung der Messerhaltung beim Täter die Annahme gestatten könnten, ein einzelner Angreifer könne alle Messerstiche ausgeführt haben, obwohl sie das Opfer in unterschiedlicher Stoßrichtung getroffen haben.

In den Urteilsfeststellungen, die sich hinsichtlich der Tatbegehung durch den Angeklagten P. auf die Angaben des Nebenklägers stützen, ist nicht die Rede davon, dass dieser in verschiedenen Körperpositionen getroffen wurde. Von einem Sturz war auch bei der Aussage des Nebenklägers im Rahmen seiner polizeilichen Vernehmung vom 19. August 2013, in welcher er seine Aussage zur Frage der Täterschaft geändert hat, nicht die Rede. In der Hauptverhandlung hat der Nebenkläger davon gesprochen, dass er nach dem ersten Stich „in die Hocke gegangen“ sei. In den Angaben der Angeklagten und des Zeugen D., soweit sie den Urteilsgründen zu entnehmen sind, ist jeweils nicht die Rede davon, dass der Nebenkläger Be. zwischen den Messerstichen zu Boden gefallen oder in die Hocke gegangen ist. Jedoch ist dabei auch von einem dynamischen Geschehen die Rede. Das Landgericht hätte daher - in einer für das Revisionsgericht nachvollziehbaren Weise - prüfen müssen, ob der Nebenkläger Be. im Verlauf des Geschehens solche Körperbewegungen gemacht hat, die erklären könnten, dass sämtliche Stiche ausschließlich von dem Angeklagten B. ausgeführt worden sind. Eine solche Prüfung fehlt in den Urteilsgründen. Die Schlussfolgerung des Landgerichts auf einen Messerstich durch den Angeklagten P. aufgrund der Tatsache, dass die verschiedenen Messerstiche den Nebenkläger in unterschiedlicher Stoßrichtung getroffen haben, ist demnach nicht tragfähig begründet worden.

b) Das Landgericht hat sich ferner nicht mit der Frage auseinandergesetzt, woher die verschiedenen Schnittverletzungen an beiden Händen des Angeklagten P. stammen. Seine Überlegung, dass durch Abgleiten einer das Messer führenden Hand beim Auftreffen auf einen Widerstand eine derartige Verletzung entstanden sein kann, erklärt nicht, warum mehrere solcher Verletzungen an beiden Händen zu verzeichnen sind, während beim Tatgeschehen nur ein Messerstich des Angeklagten P. auf den Nebenkläger erfolgt sein soll. Mit den Feststellungen zur Tat ist demnach zwar die Art der leichten Verletzungen, aber nicht ihre Anzahl vereinbar.

c) Die Antragung von Blut des Geschädigten an die Kleidung des Beschwerdeführers reicht für sich genommen nicht aus, die Urteilsfeststellung, dass auch der Beschwerdeführer zugestochen hat, zu tragen. Hat sich dieser in nächster Nähe des Opfers befunden, als der Angeklagte B. zugestochen hat, so kann auch dies im Rahmen eines dynamischen Geschehens der Bluteintragung auf die Bekleidung des Beschwerdeführers geführt haben.

d) Der neue Tatrichter wird deshalb alle Umstände, die für und gegen den Beschwerdeführer als Mittäter einer gefährlichen Körperverletzung sprechen, einzeln und in der Gesamtschau neu abzuwägen haben.

III.

Für eine Revisionserstreckung gemäß § 357 StPO auf den Nichtrevidenten ist kein Raum. Die Beweislage zu dessen Tat unterscheidet sich von derjenigen nach dem Anklagevorwurf gegen den Beschwerdeführer. Der Nichtrevident hat zugegeben, dass er selbst auf den Nebenkläger eingestochen hat.

IV.

Dem Beschwerdeführer ist auf seinen Antrag Prozesskostenhilfe für das Adhäsionsverfahren in der Revisionsinstanz unter Beiordnung seines Verteidigers zu gewähren (vgl. BGH, Beschluss vom 25. März 2015 - 5 StR 43/15).

HRRS-Nummer: HRRS 2015 Nr. 1161

Bearbeiter: Christoph Henckel/Karsten Gaede