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HRRS-Nummer: HRRS 2015 Nr. 776

Bearbeiter: Karsten Gaede und Christoph Henckel

Zitiervorschlag: BGH, 2 StR 310/14, Urteil v. 01.07.2015, HRRS 2015 Nr. 776


BGH 2 StR 310/14 - Urteil vom 1. Juli 2015 (LG Darmstadt)

Tötungsvorsatz (Indizien).

§ 212 StGB; § 15 StGB; § 16 StGB

Entscheidungstenor

Auf die Revision des Angeklagten R. wird das Urteil des Landgerichts Darmstadt vom 24. Februar 2014 mit den Feststellungen aufgehoben, auch soweit es die Mitangeklagte P. betrifft.

Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Jugendkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe

I.

Das Landgericht hat den Angeklagten R. sowie die nicht revidierende Mitangeklagte P. jeweils wegen „besonders schweren Raubes in Tateinheit mit versuchtem Mord durch Unterlassen und tateinheitlich mit gefährlicher Körperverletzung“ schuldig gesprochen und den Angeklagten R. deswegen zu einer Freiheitsstrafe von acht Jahren, die Angeklagte P. zu einer Jugendstrafe von vier Jahren und sechs Monaten verurteilt.

Die Revision des Angeklagten R. hat mit der Sachrüge Erfolg und führt zur Aufhebung des Urteils, die gemäß § 357 StPO auch auf die Mitangeklagte zu erstrecken ist.

II.

1. Nach den Feststellungen des Landgerichts lernte der 1987 geborene Revisionsführer, der alkoholabhängig, persönlichkeitsgestört und mehrfach vorbestraft ist, nach seiner Entlassung aus dem Vollzug einer Maßregel der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt im Februar 2013 die (nicht revidierende) damals 21-jährige Mitangeklagte P. kennen und ging mit ihr eine intime Beziehung ein. Beide lebten danach im Obdachlosenmilieu. Der Angeklagte R. konsumierte schon bald nach seiner Entlassung wieder regelmäßig in erheblichem Maß Alkohol, aber auch andere Drogen. Die Mitangeklagte unterstützte ihn durch Betteln oder Diebstahl von alkoholischen Getränken.

Kurz nach dem 19. April 2013 lernten die beiden Angeklagten den später geschädigten Ra. kennen, der soeben aus der Strafhaft entlassen war und sich danach ebenfalls im Obdachlosenmilieu aufhielt. Der Geschädigte rauchte mit ihnen zusammen von ihm erworbenes Haschisch, gab ihnen Ratschläge zum Erwerb von Bargeld durch Betteln und zeigte sich auch sonst hilfsbereit.

Am 20. April 2013 trafen sich die Angeklagten und Ra. zunächst zufällig. Aus nichtigen Gründen verdächtigte der Angeklagte den Geschädigten unzutreffend, in seiner Abwesenheit Zärtlichkeiten mit der Mitangeklagten ausgetauscht zu haben. Er fasste in der Folge den Entschluss, Ra. sein restliches Haschisch (ca. drei Gramm) und gegebenenfalls Geld mit Gewalt abzunehmen und ihn dadurch zugleich als Konkurrenten um die Gunst der Mitangeklagten loszuwerden.

An von Dritten unbeobachteter Stelle forderte er zu diesem Zweck von dem Geschädigten die Herausgabe von „allem“. Ra. erkannte die Absicht des Angeklagten und versuchte den bevorstehenden Angriff abzuwehren, wurde aber von dem Angeklagten mit einer Flasche so auf den Hinterkopf geschlagen, dass er benommen zu Boden stürzte. Der Angeklagte schlug und trat weiter auf den Geschädigten ein. Die Mitangeklagte entschloss sich nun, R. zu unterstützen, und trat zu diesem Zweck mindestens einmal gegen den Bauch des Geschädigten. Dieser verlor kurzzeitig das Bewusstsein; dann versuchte er, auf dem Rücken liegend, sich weiter gegen die Tritte der Angeklagten zu wehren. Der Angeklagte R. trat in dieser Situation mindestens zweimal in das Gesicht des Geschädigten. Diese Tritte waren jedenfalls abstrakt lebensgefährlich; von der Mitangeklagten wurden sie nicht gebilligt. Der Geschädigte erlitt multiple Brüche des Gesichtsschädels. Er wurde endgültig bewusstlos. Da er auf dem Rücken lag, sackte seine Zunge in den Rachen zurück, was zur konkreten Lebensgefahr durch Ersticken führte; er begann zu röcheln.

Um unerkannt zu entkommen und durch eine Strafverfolgung nicht getrennt zu werden, ergriffen die Angeklagten die Flucht. „Da es ihnen nur darauf ankam, nicht entdeckt und bestraft zu werden, nahmen sie den nun für möglich erkannten Tod von Ra. billigend in Kauf und fanden sich damit ab“ (UA S. 46). Vor ihrer Flucht nahm die Angeklagte P. noch 8 Euro Kleingeld auf, das dem Geschädigten bei seinem Sturz aus der Tasche gefallen war, und steckte es ein. Beim Weglaufen sagte der Angeklagte R. zur Mitangeklagten: „Hoffentlich habe ich ihn nicht umgebracht!"

2. Das Landgericht hat angenommen, „dass die Angeklagten, als sie die Bewusstlosigkeit des Geschädigten bemerkten, davon ausgingen, er werde sterben, wenn er keine Hilfe erfahre“ (UA S. 79). Dies hat der Tatrichter „zum einen“ aus dem festgestellten Zustand des Geschädigten gefolgert, der „die Augen verdreht“, gezittert und geröchelt habe, weiterhin daraus, dass die Angeklagten nach übereinstimmender Einlassung beim Weglaufen Furcht hatten, zu langjährigen Haftstrafen („zwanzig Jahre“) verurteilt zu werden (UA. S. 80).

Zum anderen hätten die Angeklagten gewusst, dass der Zustand des Geschädigten durch die Tritte des Revisionsführers verursacht worden sei.

„Drittens“ hätten die Angeklagten den Geschädigten bewusstlos zurückgelassen, „obwohl sie erkannten, dass er konkret lebensgefährlich verletzt war und sterben kann“ (UA S. 80).

Schließlich hat das Landgericht ausgeführt: „Die Angeklagte P. hat sich in der Hauptverhandlung dahingehend eingelassen, der Angeklagte R. habe beim Weglaufen gerufen: ‘Hoffentlich habe ich ihn nicht umgebracht!', worauf sie geantwortet habe, er solle nicht so laut rufen. Auch diese kurze Kommunikation beim Weglaufen zeigt, dass Motiv für das Unterlassen der Hilfeleistung und damit für das Inkaufnehmen des Todes … war, nicht mit den … Straftaten in Verbindung gebracht zu werden“ (UA S. 81).

III.

Die Beweiswürdigung zum bedingten Tötungsvorsatz ist rechtsfehlerhaft, weil die Annahme des voluntativen Moments des bedingten Vorsatzes nicht hinreichend dargetan ist.

1. Es ist schon zweifelhaft, ob das Landgericht überhaupt zutreffend zwischen dem kognitiven Moment (also der Erkenntnis, dass der Erfolg möglich sei) und dem voluntativen Moment (also der inneren Einstellung des Täters, diese Möglichkeit gegebenenfalls zu akzeptieren) unterschieden hat. Die Erwägung, das Motiv für das Weglaufen sei die Verdeckung der vorausgegangenen Straftat gewesen, „und damit“ sei der (bedingte) Vorsatz belegt (UA S. 81), ist entgegen ihrer Formulierung keine Schlussfolgerung, sondern nur eine Behauptung.

Denn es gibt keinen zwingenden Grund, warum die angestrebte Verdeckung hier ausschließlich durch den Tod des Geschädigten möglich gewesen sein sollte; vielmehr handelte es sich nur um eine mehr oder weniger hohe Wahrscheinlichkeit. Hätte aus Sicht der Angeklagten allein der Tod des Geschädigten die Tat verdecken können, wäre nicht erklärlich, warum sie nur mit bedingtem Tötungsvorsatz handelten, also das Überleben für Ra. s immerhin für möglich hielten.

Im Übrigen lebten die Angeklagten ebenso wie der Geschädigte im Obdachlosenmilieu; es konnte aus ihrer Sicht daher schon fraglich sein, ob ihre Ermittlung und Identifizierung aufgrund einer Aussage des Geschädigten überhaupt möglich sein würde. Insoweit war auch zu berücksichtigen, dass bei gewaltsamen Übergriffen in diesem Milieu häufig gar keine Strafanzeige erstattet wird.

2. Ähnliches gilt für die Erwägung, die Angeklagten hätten den Zustand des Geschädigten und ihre Verantwortung dafür gekannt. Sie zeigt Elemente des Zirkelschlusses, denn ohne eine solche Kenntnis wäre schon das kognitive Element des Vorsatzes nicht gegeben. Aus ihm allein aber kann nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs das voluntative Element billigenden Inkaufnehmens nicht ohne Weiteres abgeleitet werden.

3. Der Umstand, dass der Angeklagte R. beim Weglaufen äußerte: „Hoffentlich stirbt er nicht!", stellt ein gravierendes Indiz gegen das Vorliegen von Tötungsvorsatz im Moment des Weggehens dar. Hiermit musste sich das Landgericht daher im Einzelnen auseinandersetzen. Die (in vollem Wortlaut) zitierte Würdigung des Tatrichters zeigt, dass dies nicht in erforderlichem Maß geschehen ist. Das Landgericht hat vielmehr allein auf die Reaktion der Angeklagten P. abgestellt, die den R. aufforderte, sich unauffällig zu verhalten. Dies belegt zwar die Absicht, unerkannt zu entkommen, ändert aber nichts am Inhalt und Sinn der Äußerung R. s, die einem bedingten Tötungsvorsatz jedenfalls nach ihrem Wortlaut entgegensteht. Hiermit hat sich das Landgericht nicht auseinandergesetzt.

Die Äußerung kann in verschiedene Richtung ausgelegt werden. Einerseits kann sie - wörtlich genommen - bedeuten, dass der Angeklagte den als möglich angesehenen Tod des Geschädigten keinesfalls billigte. Andererseits kann sie - sinngemäß ergänzt - aber auch bedeuten, dass dem Angeklagten der Tod des Geschädigten zwar nicht willkommen, er ihn aber um des Erfolgs der Verdeckung willen in Kauf zu nehmen bereit war. Warum das Landgericht sich für die zweite, den Angeklagten belastende Variante entschieden hat, ist aus den Urteilsgründen nicht ersichtlich. Das lässt die Möglichkeit offen, dass der Tatrichter das Problem gar nicht gesehen hat.

Bei alldem ist auch zu bedenken, dass es sich - nach den Feststellungen des Landgerichts - vorliegend um ein unechtes Unterlassungsdelikt gehandelt hat. An den bedingten Vorsatz eines solchen Delikts sind keine geringeren Anforderungen zu stellen als an den Vorsatz eines (aktiven) Begehungsdelikts. Die Erkenntnis der Möglichkeit der Vollendung ist daher auch hier nur ein Element des subjektiven Tatbestands und ersetzt nicht dessen voluntatives Moment.

IV.

Der Rechtsfehler hat sich auch zu Lasten der nicht revidierenden Mitangeklagten P. ausgewirkt. Die Aufhebung des Urteils war daher gemäß § 357 StPO auf sie zu erstrecken.

HRRS-Nummer: HRRS 2015 Nr. 776

Externe Fundstellen: StV 2015, 696

Bearbeiter: Karsten Gaede und Christoph Henckel