HRRS-Nummer: HRRS 2013 Nr. 465
Bearbeiter: Christian Becker
Zitiervorschlag: BGH, AK 6/13, Beschluss v. 03.04.2013, HRRS 2013 Nr. 465
Die Untersuchungshaft hat fortzudauern.
Eine etwa weiter erforderliche Haftprüfung durch den Bundesgerichtshof findet in drei Monaten statt.
Bis zu diesem Zeitpunkt wird die Haftprüfung dem Kammergericht in Berlin übertragen.
Der Angeschuldigte wurde aufgrund des Haftbefehls des Ermittlungsrichters des Kammergerichts in Berlin vom 17. September 2012 (ER 3/12) - nachfolgend ersetzt durch dessen Haftbefehl vom 28. Januar 2013 (ER 9/12) - am 18. September 2012 festgenommen. Er befindet sich seitdem ununterbrochen in Untersuchungshaft.
Gegenstand des Haftbefehls in der Fassung vom 28. Januar 2013 ist der Vorwurf, der Angeschuldigte habe in der Zeit von April 2009 bis Mai 2011 in Berlin und an anderen Orten in der Bundesrepublik Deutschland mittels Veröffentlichungen im Internet durch fünf rechtlich selbständige Handlungen um Mitglieder und Unterstützer für eine Vereinigung im Ausland außerhalb der Mitgliedstaaten der Europäischen Union geworben, deren Zwecke darauf gerichtet sind, Mord oder Totschlag zu begehen (Al Qaida), und sich dadurch nach § 129a Abs. 5 Satz 2, Abs. 1 Nr. 1, § 129b Abs. 1 Sätze 1 und 2, § 53 StGB strafbar gemacht.
Die Generalstaatsanwaltschaft Berlin hat gegen den Angeschuldigten wegen dieses Tatgeschehens unter dem 21. Februar 2013 Anklage beim Staatsschutzsenat des Kammergerichts in Berlin erhoben.
Die Voraussetzungen für die Fortdauer der Untersuchungshaft über sechs Monate hinaus liegen vor.
1. Der Angeschuldigte ist des ihm vorgeworfenen Tatgeschehens dringend verdächtig.
a) Nach gegenwärtigem Verfahrensstand ist von folgendem Sachverhalt auszugehen:
aa) Die 1988 von Usama bin Laden und weiteren Islamisten gegründete Al Qaida verfolgt das Ziel, die islamische Welt von westlichen Einflüssen zu befreien und dort Gottesstaaten auf der Grundlage der Scharia zu errichten. Hierzu führt sie einen "Heiligen Krieg" ("Jihad") gegen die den eigenen Glauben und die Gemeinschaft der Gläubigen bedrohenden "Feinde des Islam", zu denen sie die gesamte westliche Welt und die als "Apostaten" angesehenen prowestlichen Regime in den muslimischen Staaten zählt. Den "Jihad" versteht Al Qaida als gewaltsamen Kampf; sich hieran zu beteiligen sieht sie als individuelle Pflicht eines jeden rechtgläubigen Muslims. Für ein legitimes Mittel des "Jihad" hält sie insbesondere die Verunsicherung des "Feindes" durch terroristische Anschläge, die auf die Tötung einer möglichst großen Zahl von Menschen abzielen.
Vor diesem ideologischen Hintergrund entwickelte sich Al Qaida ab 1996 zu einer hierarchisch aufgebauten, auf eine zentrale Führung ausgerichteten Organisation, die vor allem in Afghanistan zahlreiche Lager zur Ausbildung von ihr rekrutierter "Jihadisten" unterhielt. Die von Al Qaida in der Folgezeit verübten Anschläge - wie die vom 11. September 2001 in den Vereinigten Staaten von Amerika und zuvor am 7. August 1998 auf die US-amerikanischen Botschaften in Ostafrika - waren mit großer Sorgfalt und in jahrelanger Vorarbeit geplant.
Im Zuge der Militärintervention in Afghanistan nach dem 11. September 2001 wurde die Organisation teilweise zerschlagen. Umstrukturiert in ein Netzwerk aus einem im afghanisch-pakistanischen Grenzgebiet operierenden Kern und aus Mitgliedern, die in einer Vielzahl anderer Staaten agieren, besteht Al Qaida indes bis heute fort und führt nach entsprechender Anpassung ihrer Steuerungs-, Koordinations- und Mobilisierungsmechanismen auch den gewaltsamen "Jihad" weiter. In den afghanisch-pakistanischen Grenzregionen unterhält die Kernorganisation weiterhin Ausbildungslager, in denen insbesondere neu geworbene Mitglieder aus anderen Staaten auf den Einsatz in ihren Herkunftsländern vorbereitet werden. Im Übrigen versteht sich die Kernorganisation in der neuen Struktur nunmehr in erster Linie als gemeinsames Dach für zahlreiche Unternetzwerke, regionale "Jihad"-Gruppen und autonome Zellen, denen sie Strategie und Ziele vorgibt, deren Aktivitäten sie steuert und koordiniert und die sie finanziell und logistisch unterstützt. Zu diesen Gruppierungen zählen etwa die Organisationen "Al Qaida im Zweistromland", "Al Qaida auf der arabischen Halbinsel" sowie die algerische frühere "Groupe Salafiste pour la Prédication et le Combat", die sich mittlerweile in "Organisation Al Qaida im Islamischen Maghreb" umbenannt hat. Von Al Qaida auf diese Weise gesteuerte Anschläge sind etwa die auf eine Synagoge auf der Insel Djerba am 11. April 2002, auf das Londoner Nahverkehrssystem am 7. Juli 2005 und auf die dänische Botschaft in Islamabad am 2. Juni 2008. Spätestens Anfang 2010 entschloss sich die Führungsebene von Al Qaida, auch die Bundesrepublik Deutschland mit terroristischen Anschlägen zu überziehen, was sie mit deren militärischem Engagement in Afghanistan zu rechtfertigen versucht.
An der Spitze der Organisation stand zunächst weiterhin Usama bin Laden; nach dessen Tod am 2. Mai 2011 hat Ayman Al Zawahiri die Führung übernommen. Dieser Führungsebene unmittelbar nachgeordnet sind die Verantwortlichen für die Bereiche Militär, Außenbeziehungen, Finanzen und Medien/Propaganda mit jeweils eigenen Organisationsstrukturen.
Die Rekrutierung von neuen Mitgliedern betreibt die Kernorganisation im Wesentlichen durch die Verbreitung der von ihr entwickelten Ideologie und der Untermauerung des Führungsanspruchs von Bin Laden und Al Zawahiri im weltweiten "Jihad". In zahlreichen, über das Internet, aber auch über Rundfunk und Fernsehen verbreiteten Video- und Audiobotschaften werden die Ziele und die Aktionen von Al Qaida dargestellt und legitimiert, Versuche unternommen, hierdurch die "Feinde des Islam" einzuschüchtern, und die Adressaten schließlich aufgefordert, sich als Anhänger des "wahren Islam" zu beweisen und sich unter dem gemeinsamen Dach dem gewaltsamen "Jihad" anzuschließen, sei es durch Teilnahme an Kampfhandlungen in Afghanistan oder Pakistan, sei es durch terroristische Anschläge im Heimatland. Der Entwicklung und Verbreitung solchen Propagandamaterials dient die von der Kernorganisation eingerichtete und unterhaltene Medienstelle "As Sahab".
bb) Der seit seiner Jugend in Berlin lebende Angeschuldigte wandte sich spätestens im Jahre 2007 der radikalislamischen, den gewaltsamen "Jihad" befürwortenden Szene zu. So trat er unter verschiedenen Benutzernamen mit eigenen Beiträgen in dem von jihadistischen Netzwerken betriebenen Internetforum" " und dessen Unterforen auf. In insgesamt fünf Fällen stellte er dort Download-Links zu Videodateien bereit, welche er entweder als Bearbeitungen von im Internet verfügbaren Filmen jihadistischen Inhalts oder als Collagen aus mehreren solchen Veröffentlichungen selbst erstellt hatte. Mittels darin jeweils enthaltener Aufrufe hochrangiger Repräsentanten von Al Qaida zum "Jihad" wollte der Angeschuldigten seine Adressaten zur Beteiligung an Gewalthandlungen auf Seiten oder zu Gunsten dieser Organisation bewegen. Im Einzelnen:
(1) Am 12. April 2009 stellte der Angeschuldigte unter dem Benutzernamen "M." in das offen zugängliche "Forum" Links zu einer von ihm unter dem Titel "Wir sind Angehörige des Monotheismus, Knechte des Einen" aus mehreren Vorlagen gefertigten Videocollage ein. Durch eine Aneinanderreihung von Szenen aus historischen Filmen, Darstellungen von Kampfhandlungen der "Mujahidin", Bildern Osama bin Ladens und seines Mentors Abdallah Azzam (getötet am 24. November 1989) sowie hymnischer Verherrlichungen des "Märtyrertums" will der Film den Eindruck vermitteln, beim globalen gewaltsamen "Jihad" unter Führung bin Ladens handele es sich um die jedem Angehörigen des "Monotheismus" zur Pflicht gereichende Fortsetzung der historischen Auseinandersetzung zwischen Kreuzfahrern und islamischer Gemeinschaft.
(2) Am 20. April 2009 stellte der Angeschuldigte unter dem Benutzernamen "a." in das genannte Forum den Link zu einem von der Medienstelle "As Sahab" herausgegebenen und von ihm ergänzend mit dem Logo der" " versehenen Videofilm ein. Der Film enthält unter anderem Redebeiträge Usama bin Ladens, in denen er die Anschläge vom 11. September 2001 als Reaktion auf die weltweite Unterdrückung der Muslime rechtfertigt und wiederholt hervorhebt, dass die Teilnahme am "Jihad" angesichts einer antiislamischen Aggression des Westens Pflicht eines jeden Muslims sei.
(3) Am 8. Juli 2009 stellte der Angeschuldigte, wiederum unter dem Benutzernamen "M. ", in dasselbe Forum Links zu einer von ihm unter dem Titel "Nur nicht meinen Liebling, Ihr ungläubigen Flegel" aus mehreren Vorlagen gefertigten Videocollage ein, welche die Veröffentlichung der sogenannten Mohammed-Karrikaturen thematisiert. Sie enthält unter anderem den Ausschnitt aus einer den militanten "Jihad" rechtfertigenden Verlautbarung der Medienstelle "As Sahab", der ein Bild von Mustafa Abu Al Yazid, eines engen Vertrauten bin Ladens, Mitbegründers von Al Qaida und deren Militärkommandeur in Afghanistan (getötet am 21. Mai 2010), unterlegt ist.
(4) Am 13. September 2009 stellte der Angeschuldigte unter dem Benutzernamen" O." den Link zu einer Fassung des im Internet kursierenden Videofilms über einen Selbstmordanschlag auf eine Polizeistation in Nazran/Inguschetien am 17. August 2005 ein, in die er zusätzlich eine Ansprache bin Ladens sowie einen selbstverfassten Abspann aufgenommen hatte. Unter Berufung auf den Propheten Muhammad und mit den Worten "Glücklich ist der, der von Allah als Märtyrer ausgewählt wurde" fordert bin Laden zur Teilnahme am gewaltsamen "Jihad" auf. Der Angeschuldigte schließt sich dieser Aufforderung an mit der Bemerkung im Abspann: "Wir sind Terroristen und der Terror ist eine Pflicht in der Religion Allahs."
(5) Zu einem nicht bekannten Zeitpunkt zwischen dem 2. und dem 30. Mai 2011 stellte der Angeschuldigte den Link zu einer von ihm anlässlich des Todes bin Ladens unter dem Titel "Mächtiges und ergreifendes Naschid (Lied); Ja Osama - auf der Ehre Stirn ein Mal" aus mehreren Vorlagen gefertigten Videocollage ein. Unter anderem nahm der Angeschuldigte wiederum den im Falle (4) beschriebenen Redebeitrag bin Ladens auf und bekräftigte die darin liegende Aufforderung zur Teilnahme am gewaltsamen "Jihad" dadurch, dass er Szenen aus dem Leben bin Ladens mit dem Text versah, es gebe "keine Ehre außer im Jihad".
b) Wegen der Begründung des dringenden Tatverdachts bezieht sich der Senat auf die zutreffende Darstellung des wesentlichen Ergebnisses der Ermittlungen in der Anklageschrift der Generalstaatsanwaltschaft Berlin vom 21. Februar 2013 und auf die dort aufgeführten Beweismittel.
c) Die nach § 129b Abs. 1 Satz 3 StGB erforderliche Ermächtigung zur strafrechtlichen Verfolgung von Taten im Zusammenhang mit Al Qaida hat das Bundesministerium der Justiz am 16. März 2009 allgemein erteilt (II B 1 - 4030 E(483) - 21 24/2009).
2. Es besteht der Haftgrund der Fluchtgefahr (§ 112 Abs. 2 Nr. 1 StPO). Der Angeschuldigte hat wegen des ihm vorgeworfenen Tatgeschehens mit nicht unerheblichem Freiheitsentzug zu rechnen. Über ausreichende Bindungen, die den hiervon ausgehenden Fluchtanreizen verlässlich entgegenwirken könnten, verfügt er nicht. Am 16. Juni 2012 ließ ihn seine Ehefrau durch einstweilige Verfügung aus der gemeinsamen Wohnung verweisen; schon seinerzeit konnte nicht ermittelt werden, wo er sich in der Folge aufhielt. Allein der Umstand, dass seine Ehefrau nunmehr offenbar bereit ist, ihn wieder bei sich aufzunehmen, kann die hieraus entspringende Besorgnis, er verfüge über Mittel und Wege, unter Verschleierung seiner Identität unterzutauchen, nicht entkräften. Sie wird vielmehr noch verstärkt dadurch, dass dem Angeschuldigten Reiseaktivitäten unter Benutzung falscher Personalpapiere offensichtlich nicht fremd sind. Obwohl er nach Auskunft der zuständigen Ausländerbehörde nicht im Besitz von gültigen Reisedokumenten war, wandte er sich am 23. Juli und am 19. August 2012 von außereuropäischen Telefonanschlüssen aus an seine Familie und teilte mit, er befinde sich "in der Nähe von Ägypten" und sei mit einem gefälschten deutschen Reisepass dorthin gelangt. Vor diesem Hintergrund kann der Zweck der Untersuchungshaft auch nicht durch weniger einschneidende Maßnahmen als deren Vollzug erreicht werden (§ 116 Abs. 1 StPO).
3. Die besonderen Voraussetzungen für die Fortdauer der Untersuchungshaft über sechs Monate hinaus (§ 121 Abs. 1 StPO) liegen vor. Die besondere Schwierigkeit und der Umfang des Verfahrens haben ein Urteil bislang noch nicht zugelassen.
Der Generalbundesanwalt hat das von ihm am 30. März 2010 eingeleitete Ermittlungsverfahren am 13. März 2012 an die Generalstaatsanwaltschaft Berlin abgegeben. Die Auswertung der bei Durchsuchungen am 28. September 2009 und am 7. Juni 2011 sichergestellten Datenträger des Angeschuldigten, unter anderem mehrere Personalcomputer und externe Festplatten, dauerte seinerzeit noch an. Die hieraus gewonnenen Erkenntnisse führten, da der Angeschuldigte - wie oben geschildert - mittlerweile unbekannten Aufenthalts war, zunächst zu dem die unter 1. a) bb) (2) und (5) dargestellten Taten erfassenden Haftbefehl vom 17. September 2012. Nach Abschluss der Auswertung im Januar 2013 wurde der Haftbefehl am 28. Januar 2013 um die anderen Vorwürfe erweitert. Die daneben von der Generalstaatsanwaltschaft Berlin auf der Grundlage von insgesamt neun Ordnern Ermittlungsakten erarbeitete Anklageschrift war am 21. Februar 2013 fertiggestellt und ging am 22. Februar 2013 beim Kammergericht in Berlin ein. Der Vorsitzende des dort zuständigen 1. Strafsenats verfügte am 25. Februar 2013 deren Zustellung und bestimmte eine Erklärungsfrist von vier Wochen.
Zwar teilt der Senat die Auffassung des Verteidigers, dass die Sache betreffend die Taten (2) und (5) schon mit Erlass des Haftbefehls vom 17. September 2012 anklagereif war und dass die Auswertung der sichergestellten Datenträger bereits zu einem deutlich früheren Zeitpunkt hätte abgeschlossen werden können. Indes kann bei der gebotenen Gesamtschau nicht unberücksichtigt bleiben, dass die Strafverfolgungsbehörden überhaupt erst im Herbst 2012 Anlass zu freiheitsbeschränkenden Maßnahmen sahen, als Auslandsreisen des Angeschuldigten ohne gültige Reisedokumente offenbar wurden. Vor diesem Hintergrund und unter der Voraussetzung, dass das Kammergericht nunmehr rasch über die Eröffnung des Hauptverfahrens entscheidet und gegebenenfalls für eine besonders zügige Terminierung der Sache Sorge trägt, begründet der Umstand, dass sich die Auswertung der sichergestellten Datenträger danach noch weitere ca. vier Monate hinzog, noch keine zur Aufhebung des Haftbefehls nötigende Verletzung des für Haftsachen geltenden Beschleunigungsgebots.
4. Der weitere Vollzug der Untersuchungshaft steht auch noch nicht außer Verhältnis zur Bedeutung der Sache und der im Falle einer Verurteilung zu erwartenden Strafe.
HRRS-Nummer: HRRS 2013 Nr. 465
Bearbeiter: Christian Becker