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HRRS-Nummer: HRRS 2013 Nr. 610

Bearbeiter: Karsten Gaede und Christoph Henckel

Zitiervorschlag: BGH, 2 StR 93/13, Beschluss v. 24.04.2013, HRRS 2013 Nr. 610


BGH 2 StR 93/13 - Beschluss vom 24. April 2013 (LG Frankfurt am Main)

Verminderte Schuldfähigkeit (Vorliegen eines Rauschzustandes bei nicht gesicherten Erkenntnissen über dafür erforderliche Wirkstoffkonzentration: Beweiswürdigung).

§ 21 StGB; § 261 StPO

Leitsatz des Bearbeiters

Fehlen gesicherte Erkenntnisse darüber, welche Wirkstoffkonzentrationen einer Droge zu welchen Beeinträchtigungen führen, entscheiden nicht beliebige Umstände des Einzelfalls darüber, wann vom Zustand eines akuten Rausches ausgegangen werden kann, der Auswirkungen auf das Vorliegen der Schuldfähigkeit haben kann (vgl. BGH NStZ 2001, 83). Maßgebend können nur Umstände sein, die zuverlässige Rückschlüsse auf das Vorliegen oder Nichtvorliegen eines akuten Rausches zulassen. Von wesentlicher Bedeutung sind daher Art und Menge des zu sich genommenen Rauschmittels und die mit dessen Konsum üblicher oder auch nur möglicherweise verbundenen spezifischen Einschränkungen und Beeinträchtigungen.

Entscheidungstenor

1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Frankfurt am Main vom 16. November 2012 mit den zugehörigen Feststellungen - mit Ausnahme derjenigen zum objektiven Tatgeschehen - aufgehoben.

2. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

3. Die weitergehende Revision des Angeklagten wird verworfen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen besonders schwerer Vergewaltigung in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung sowie wegen versuchter gefährlicher Körperverletzung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von acht Jahren und vier Monaten verurteilt. Seine auf die Rüge der Verletzung formellen und materiellen Rechts gestützte Revision hat mit der Sachrüge weitgehend Erfolg.

1. Die Erwägungen, mit denen das Landgericht das Vorliegen der Voraussetzungen des § 21 StGB ausgeschlossen hat, halten rechtlicher Überprüfung nicht stand.

Das Landgericht ist zwar aufgrund einer am Tattag um 11.40 Uhr entnommenen Blutprobe davon ausgegangen, dass der Angeklagte eine im mittleren Bereich liegende THC-Konzentration und eine Konzentration der Abbauprodukte von Kokain und "Crack" in einem "außergewöhnlich hohen Bereich" (UA S. 15: Benzoylecgonin 2,2mg/l bzw. Methylecgonin 0,4mg/l) aufgewiesen habe. Obwohl dies nach Angaben des gehörten Sachverständigen für eine hochdosierte und/oder wiederholte Drogenaufnahme spreche, hat es einen zur Tatzeit zwischen 6.00 und 7.00 Uhr liegenden Drogenrausch, der die Steuerungsfähigkeit im Sinne des § 21 StGB erheblich vermindert habe, mit Blick auf das Fehlen einer äußerlich wahrnehmbaren Drogenbeeinträchtigung nicht angenommen. Die sachverständig beratene Strafkammer hat ihrer Entscheidung dabei die Erwägung zugrunde gelegt, es gebe - anders als bei Blutalkoholwerten - keine gesicherten wissenschaftlichen Erkenntnisse darüber, welche Beeinträchtigungen mit welchen Rauschgiftmengen korrelierten, und hat deshalb auf die "Umstände des Einzelfalls" abgestellt, die hier keinen Anhalt für eine drogenbedingte Enthemmung böten.

Dies begegnet durchgreifenden rechtlichen Bedenken. Fehlen gesicherte Erkenntnisse darüber, welche Wirkstoffkonzentrationen zu welchen Beeinträchtigungen führen, entscheiden nicht beliebige Umstände des Einzelfalls darüber, wann vom Zustand eines akuten Rausches ausgegangen werden kann, der Auswirkungen auf das Vorliegen der Schuldfähigkeit haben kann (vgl. BGH NStZ 2001, 83; BGHR StGB, § 21 Btm-Auswirkungen 4). Maßgebend können nur Umstände sein, die zuverlässige Rückschlüsse auf das Vorliegen oder Nichtvorliegen eines akuten Rausches zulassen. Von wesentlicher Bedeutung sind daher Art und Menge des zu sich genommenen Rauschmittels und die mit dessen Konsum üblicher oder auch nur möglicherweise verbundenen spezifischen Einschränkungen und Beeinträchtigungen. Nicht jede Droge führt zu vergleichbaren Rauschfolgen, deren Eintreten zudem auch von der jeweiligen Menge des zu sich genommenen Wirkstoffs abhängen wird. Dies hat das Landgericht nicht hinreichend beachtet.

Es hat weder die einzelnen Wirkstoffmengen der verschiedenen konsumierten Rauschmittel zum Tatzeitraum in den Blick genommen noch sich mit möglichen Auswirkungen des jeweiligen Drogenkonsums befasst, die allein oder in ihrem Zusammenwirken zu einer Beeinträchtigung der Steuerungsfähigkeit geführt haben könnten. Indem das Landgericht generalisierend auf das völlig geordnete Verhalten bei dem komplexen und über einen längeren Zeitraum andauernden Tatgeschehen abgestellt hat, wie es auch bei einem nicht drogenintoxierten Menschen zu erwarten sei, verstellt es sich den Blick auf die mit dem Konsum verbundenen möglichen Auswirkungen des jeweiligen Rauschmittels und Tatbesonderheiten, die womöglich damit zu erklären sein könnten.

Zum einen bleibt so unberücksichtigt, dass (das vor Tatbeginn konsumierte) Kokain anders als etwa Alkohol zur Stimmungsaufhellung, Euphorie, einem Gefühl gesteigerter Leistungsfähigkeit und mehr Aktivität führt und damit ein Leistungsverhalten offenbart, das jedenfalls nicht von Einschränkungen oder Beeinträchtigungen des äußeren Leistungsverhaltens getragen sein muss. Aus dem Fehlen "rauschmittelbedingter Ausfallerscheinungen oder anderer psychischer Beeinträchtigungen" lässt sich demnach nicht (ohne Weiteres) darauf schließen, der Drogenkonsum habe nicht zu einer relevanten Einschränkung des Hemmungsvermögens geführt. Das Landgericht hat insoweit dem Leistungsverhalten des Angeklagten eine Bedeutung beigemessen, die diesem nach Konsum von Kokain nicht zukommt.

Zum anderen greift das Landgericht zu kurz, wenn es anführt, die (nicht näher beschriebene) Wirkung von Crack setze rasch ein und baue sich innerhalb einer halben Stunde wieder ab, weshalb das zielgerichtete Verhalten des Angeklagten vom Betreten der Wohnung bis zu seiner Flucht allein mit dem Konsum von Crack nicht zu erklären sei. Tatsächlich könnte die von dem Angeklagten beschriebene (und im Blut nachgewiesene) Zusichnahme von Crack, der Konsum von Kokain voran gegangen sein soll und zumindest auch während der Tatdurchführung nachgewiesenermaßen nachgefolgt ist, den Tatentschluss in einer für § 21 StGB relevanten Weise gefördert haben, dies vor allem auch vor dem Hintergrund, dass sich der sexuelle Übergriff des Angeklagten als persönlichkeitsfremd darstellt und die Art der Tatbegehung, Eindringen in eine fremde Wohnung mit anschließender Suche nach einem Tatwerkzeug und Überfall einer völlig fremden Person am frühen Morgen, so ungewöhnlich ist, dass man Zweifel am Vorliegen eines ohne Beeinträchtigung der Steuerungsfähigkeit gewonnenen Tatentschlusses hegen kann. Soweit die Wirkung von Crack nach Ansicht der insoweit sachverständig beratenen Kammer im Laufe der Tat nachgelassen haben soll, könnte dies durch den weiteren Konsum von Kokain während der Tat ausgeglichen worden sein, weshalb der Schluss der Kammer, Crack habe sich auf die Tatbegehung insgesamt nicht ausgewirkt, in Frage gestellt wäre.

Schließlich gibt es während des gesamten Tatablaufs Besonderheiten, die für sich allein oder zumindest im Zusammenwirken dafür sprechen könnten, dass der Angeklagte im akuten Rauschzustand gehandelt hat. So teilte er der überfallenen Frau unvermittelt, nachdem es wegen fehlender Erektion nicht zum erstrebten Vaginalverkehr gekommen war, mit, sie sei "so hübsch", und fragte sie, ob er nicht ihr Freund werden könne. Als ein Mitbewohner nach Hause kam, ihn mit dem Tatopfer antraf und aufforderte, das Messer beiseite zu legen, sprach der Angeklagte davon, mit dem Opfer gekokst und "Party" gemacht zu haben, und zeigte seinen Führerschein hoch, um seine Identität zu belegen. Als der Übergriff durch einen herbeigeeilten Nachbar schließlich beendet wurde, entwendete der Angeklagte aus einer Aufbewahrungsbox verschiedene Dokumente der Geschädigten wie eine Krankenkassenkarte, eine EC-Karte sowie einen alten Kinderausweis und flüchtete aus dem Fenster auf die davor liegende Dachterrasse. Die herbeigerufenen Polizeibeamten konnten um 8.00 Uhr bei der Nahbereichsabsuche sehen, wie der Angeklagte mit einem Messer in der Hand über ein Gerüst auf das Dach eines nahe gelegenen Hauses kletterte, von wo aus keine weiteren Fluchtmöglichkeiten bestanden. Auf die beruhigende Ansprache auf den Angeklagten reagierte dieser mit der Forderung nach einem Getränk. Er lief sodann auf dem Dach hin und her und vermittelte den Eindruck, nicht zu wissen, was er tun sollte. Zwischenzeitlich entleerte er seine Hosentaschen und warf die darin enthaltenen Dokumente der Geschädigten in den Innenhof. Er fügte sich mit dem Messer oberflächliche Verletzungen zu und kündigte an, vom Dach zu springen. Er versuchte, auf den Schornstein zu klettern, und rüttelte an dem Auslass desselben, bis er abbrach. Sodann kletterte er vom Dach aus auf einen davorstehenden Baum und von dort in die Baumkrone. Dort blieb er mehrere Minuten, bevor er auf das Dach zurückkletterte. Beim erneuten Versuch, auf den Baum zu gelangen, stürzte er wegen eines abbrechenden Astes vier bis fünf Meter auf das Dach eines dort geparkten Autos und konnte so gegen 9.30 Uhr festgenommen werden. Die Kammer hat sich mit einigen dieser Umstände auseinander gesetzt und ihnen trotz der festgestellten hohen Wirkstoffkonzentration von Kokain und Crack im Blut (isoliert) keine Bedeutung für die Frage einer erheblichen Einschränkung der Steuerungsfähigkeit beigemessen (vgl. UA S. 15). Insoweit fehlt es jedenfalls an einer erschöpfenden Gesamtwürdigung aller bedeutsamen Umstände. Andere Umstände wie die offenbar nutzlose Wegnahme von Gegenständen hat sie nicht berücksichtigt oder in ihrer Bedeutung sinnwidrig verkürzt, wenn sie etwa dem irrationalen und konfusen Nachtatverhalten des Angeklagten während seiner mehr als 90-minütigen Flucht keine Beachtung geschenkt, insoweit lediglich darauf hingewiesen hat, er sei in guter Koordination und mit voller Körperkontrolle auf der Flucht gewesen (UA S. 16). Auch insoweit wird deutlich, dass die Kammer dem körperlichen Leistungsverhalten des Angeklagten eine ihm beim Konsum stimulierender Mittel nicht zukommende Bedeutung beigemessen hat.

2. Die aufgezeigten Mängel bei der Prüfung des § 21 StGB führen ohne Weiteres zur Aufhebung des Rechtsfolgenausspruchs. Sie entziehen aber auch dem an sich rechtsfehlerfrei getroffenen Schuldspruch die Grundlage, weil der Senat angesichts der hohen festgestellten Wirkstoffkonzentrationen im Blut nicht gänzlich ausschließen kann, dass bei ordnungsgemäßer Prüfung die Voraussetzungen des § 20 StGB gegeben sein könnten.

Die Aufhebung von Schuld- und Strafausspruch erfasst auch die zugrunde liegenden Feststellungen mit Ausnahme derjenigen zum objektiven Tatgeschehen, die von dem zur Aufhebung führenden Mangel nicht betroffen sind.

Sie können deshalb bestehen bleiben. Der neue Tatrichter, der zweckmäßigerweise ein neues Gutachten zur Schuldfähigkeit des Angeklagten einholen sollte, ist nicht gehindert, weitere Feststellungen zu treffen, die zu den bestehenden allerdings nicht in Widerspruch treten dürfen.

HRRS-Nummer: HRRS 2013 Nr. 610

Externe Fundstellen: StV 2013, 693

Bearbeiter: Karsten Gaede und Christoph Henckel